Zeit:
Mittwoch, 11. Oktober 2023,
15
bis 17 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 2.600
Um einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG, 20/8096) ging es in einer Anhörung im Rechtsausschuss am Mittwoch, 11. Oktober 2023. Hintergrund der von den Sachverständigen unterschiedlich bewerteten Regelung ist laut Entwurf, dass in den erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor den Landgerichten und den Oberlandesgerichten nur die wesentlichen Förmlichkeiten festgehalten werden, um deren Beachtung in der Revisionsinstanz überprüfen zu können. Ausgehend von den Stellungnahmen der zehn Sachverständigen interessierten sich die Abgeordneten in den Fragerunden vor allem für die Nutzbarkeit beziehungsweise Fehleranfälligkeit von Transkripten, die Auswirkungen auf den Opfer- und Zeugenschutz sowie die europarechtlichen Implikationen.
Die zur Anhörung eingeladen Rechtsanwältinnen und -anwälte sprachen sich für den Entwurf aus. Dr. Margarete Gräfin von Galen, Fachanwältin für Strafrecht aus Berlin, erklärte in ihrer schriftlichen Stellungnahme, die Bundesregierung realisiere damit eine in der Anwaltschaft seit langem erhobene Forderung. Wie im Gesetzesentwurf zutreffend ausgeführt werde, stehe den Verfahrensbeteiligten zurzeit keine objektive, zuverlässige Dokumentation des lnhalts der Hauptverhandlung zur Verfügung. Das vorgelegte Gesetz sei somit grundsätzlich sehr zu begrüßen. Lediglich hinsichtlich einzelner Gesichtspunkte wäre eine Nachschärfung sinnvoll, erklärte die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingeladene Anwältin.
Anwaltschaft begrüßt Regierungsentwurf
Prof. Dr. Christoph Knauer, Vorsitzender des Ausschusses Strafprozessrecht der Bundesrechtsanwaltskammer, begrüßte, dass die Bundesregierung trotz der in der rechtspolitischen Diskussion von Interessenverbänden und einem Teil der Richterschaft geäußerten Kritik an ihrem Reformvorhaben festhalte. Zutreffend gehe auch der Kabinettsentwurf davon aus, so der von der FDP-Fraktion eingeladene Anwalt, dass eine Neuregelung der Vorschriften über die Protokollierung der strafgerichtlichen Hauptverhandlung erforderlich sei, weil das bestehende Protokollsystem nicht mehr zeitgemäß sei. Durch eine audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung werde die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren nicht gefährdet. Im Gegenteil sei sie geeignet, Missverständnissen entgegenzuwirken und Fehlurteile zu verhindern.
Auch der Berliner Rechtsanwalt Stephan Schneider sprach sich für eine gesetzlich geregelte Pflicht zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung aus. Sie sei seit langem Ziel der Anwältinnen und Anwälte und in einem modernen Rechtsstaat Standard. Sie werde die Transparenz der Hauptverhandlungen und vor allem auch der Urteilsfindung erhöhen, damit einen wesentlichen Beitrag für einen starken Rechtsstaat leisten und dem Rechtsfrieden dienen. Die Qualitätssicherung der Beweisaufnahme bleibe ineffektiv, wenn sie zwar Zeugen zur Wahrheit ermahne, deren Aussagen indes für die Verfahrensbeteiligten nicht wahrheitsgetreu festhalte, erklärte Schneider, der seine Stellungnahme auf Einladung der Fraktion Die Linke abgab.
Mehr Ressourcen für die Strafjustiz
Prof. Dr. Ali B. Norouzi vom Deutschen Anwaltverein erklärte, der Entwurf beende das grundlegende Dokumentationsdefizit der Hauptverhandlung in Strafsachen vor den Land- und Oberlandesgerichten und behandle das Problem umfassend und ausgewogen. Bedenken habe er nur bei den erweiterten Möglichkeiten, die Dokumentationspflicht zu suspendieren, und überflüssig erschienen die punktuellen Ergänzungen im Revisionsverfahren, erklärte der Anwalt, der auf Einladung der SPD teilnahm. Im Gegensatz zum Referentenentwurf sehe der Regierungsentwurf nunmehr lediglich eine Dokumentation der Hauptverhandlung per Tonaufnahme vor, wohingegen die Bild-Ton-Aufnahme optional bleibt. Das sei einerseits bedauerlich, für die Zukunft bleibe zu hoffen, dass einzelne Länder von der Möglichkeit Gebrauch machen werden, die Aufzeichnungen auch in Bild und Ton zu pilotieren.
Als einziger Richter schloss sich Prof. Dr. Andreas Mosbacher, Richter am Bundesgerichtshof, den Argumenten der Anwälte und der Anwältin an. Der Entwurf beende die nur historisch erklärbare Besonderheit, so der von der Grünen-Fraktion Eingeladene, dass bei der erstinstanzlichen Verhandlung von Schwerkriminalität – anders als in allen anderen gerichtlichen Verfahren in Deutschland und weitgehend in Europa – keine Dokumentation des Inhalts der Beweisaufnahme erfolge. Viele Kolleginnen und Kollegen in der Strafjustiz hätten ein großes Verständnis dafür, dass der technische Fortschritt auch vor ihrem Gerichtssaal nicht Halt machen werde. Durch die Umstellung auf ein neues System werde es zu einer vorübergehenden Mehrbelastung der Strafjustiz kommen, der deshalb die notwendigen technischen und personellen Ressourcen an die Hand gegeben werden müssten. Nur dann werde die Neuregelung auch bei der Richterschaft auf die notwendige Akzeptanz stoßen.
Verweis auf Missbrauchsrisiken
Dagegen sieht Fernando Sanchez-Hermosilla, Vorsitzender Richter am Landgericht Karlsruhe, keine Notwendigkeit einer digitalen Aufzeichnung der Hauptverhandlung in Strafsachen. Im Gegenteil würde eine solche Aufzeichnung aus Sicht der Praxis eine Vielzahl von technischen, personellen und verfahrensspezifischen Problemen ohne substantiellen Mehrwert für das Strafverfahren sowie eine höhere Belastung der Strafjustiz bewirken, so der von der CDU/CSU-Fraktion eingeladene Richter. Er betonte, dass es selbst bei Verfahren, die eine Vielzahl von Verhandlungstagen dauerten oder wegen der Anzahl der zu vernehmenden Zeugen und Sachverständigen komplex seien, den Richterinnen und Richtern ohne weiteres gelinge, die für die Entscheidungsfindung wesentlichen Aussagen und Beweisergebnisse übereinstimmend festzuhalten und sich bei der Urteilsberatung daran zu erinnern.
Dieter Killmer vom Deutschen Richterbund (DRB), Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, erklärte, die vom DRB vertretene Justizpraxis stehe einer Digitalisierung und damit einhergehenden Bemühungen, Verfahrensabläufe zu verbessern und zu vereinfachen, grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Stets müssten jedoch die bezweckten Vorteile und zu erwartende nachteilige Folgen sorgsam abgewogen werden, so der von der SPD-Fraktion eingeladene Bundesanwalt. Diesem Abwägungsgebot werde der Gesetzesentwurf nicht gerecht. Denn eine Dokumentation von Strafverfahren berge erhebliche Missbrauchsrisiken und drohe den Opferschutz sowie die Wahrheitsfindung gerade in Strafprozessen wegen besonders schwerwiegenden Tatvorwürfen massiv zu schwächen. Dies gelte besonders für eine audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung, die besonders tief in Persönlichkeitsrechte von Verfahrensbeteiligten eingreife und gegen die sich auch die eigens vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Expertinnen- und Expertengruppe ausgesprochen habe.
Persönlichkeitsrechte von Opfern und Zeugen
Dr. Patrick Liesching, Bundesvorsitzender des Weißen Rings und Leitender Oberstaatsanwalt, erklärte, auch die Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer lehne die von der Bundesregierung geplante Dokumentation von Strafprozessen ab, weil sie Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten – insbesondere von Opferzeuginnen und -zeugen – verletze. Insbesondere für Opfer sexualisierter Gewalt sei die Vernehmung in der Hauptverhandlung angstbesetzt. Die Notwendigkeit, sich das Tatgeschehen vergegenwärtigen und in einer ungewohnten Umgebung im Angesicht des Täters detailliert schildern zu müssen, werde von den Betroffenen als extrem belastend erlebt. Dieses Belastungserleben würde massiv verschärft, wenn sich die Zeugin oder der Zeuge mehreren Mikrofonen oder gar Kameras gegenübersehe und infolge der Aufzeichnung die Konservierung jeder Formulierungsnuance und jedes Gefühlsausbruchs auf unabsehbare Zeit sowie deren Verbreitung fürchten müsse.
Der Opferschutz war auch ein wichtiges Thema der Stellungnahme von Staatsanwalt Dr. Oliver Piechaczek aus Hanau. Mit dem Entwurf würden die Persönlichkeitsrechte von Opferzeugen massiv eingeschränkt, sagte der wie Liesching von der Unionsfraktion eingeladene Experte. Es drohe ein Rückschritt im Bereich des Opferschutzes. Es sei bereits jetzt schwierig, Opfer, Zeugen und Zeuginnen zu einer Aussage zu ermutigen. Aus seiner Sicht sei es verheerend, wenn die besonders schutzwürdigen Opfer sexueller Gewalt mit der Verbreitung ihrer Aussagen in sozialen Medien rechnen müssten. Daneben würde die Wahrheitsfindung im Strafprozess durch eine möglicherweise verminderte Aussagebereitschaft erheblich beeinträchtigt. Außerdem wecke der Entwurf Erwartungen an die technische Umsetzbarkeit einer digitalen Inhaltsdokumentation, die er in der Praxis überhaupt nicht werde erfüllen können.
Zugewinn an Rechtssicherheit
Für Dr. Ralf Wehowsky, Abteilungsleiter für Revisionsstrafsachen bei dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, sind nach eigenen Worten die revisionsrechtlichen Folgen einer Dokumentation der Hauptverhandlung von besonderem Interesse. Von vielen Justizangehörigen werde befürchtet, dass bei Einführung einer digitalen Dokumentation der Hauptverhandlung eine Wesensänderung des Revisionsverfahrens unabwendbar sei. Auch er gehe davon aus, dass mit einer Vielzahl zusätzlicher Rügen, in der Hauptverhandlung Bekundetes sei im Urteil nicht oder nicht zutreffend gewürdigt worden, zu rechnen sei. Der Regierungsentwurf bekenne sich jedoch eindeutig zur weiterbestehenden Gültigkeit der strikten Aufgabentrennung zwischen Tat- und Revisionsgericht und der daraus folgenden eingeschränkten Prüfkompetenz im Revisionsverfahren.
Diese geschärfte Klarstellung des gesetzgeberischen Willens bringe einen erheblichen Zugewinn an Rechtssicherheit, erklärte der von der SPD-Fraktion eingeladene Bundesanwalt.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Hintergrund der Regelung ist laut Entwurf, dass in den erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor den Landgerichten und den Oberlandesgerichten nur die wesentlichen Förmlichkeiten festgehalten werden, um deren Beachtung in der Revisionsinstanz überprüfen zu können. Den Verfahrensbeteiligten stehe damit derzeit keine objektive, zuverlässige Dokumentation des Inhalts der Hauptverhandlung zu Verfügung.
Als Lösung sieht der Entwurf die Schaffung und Ausgestaltung einer gesetzlichen Grundlage für eine digitale Inhaltsdokumentation der erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten vor. Die Dokumentation solle durch eine Tonaufzeichnung erfolgen, die automatisiert in ein elektronisches Textdokument (Transkript) übertragen werde. Zusätzlich sei auch eine Bildaufzeichnung möglich, die von den Ländern durch Rechtsverordnung jederzeit teilweise oder flächendeckend eingeführt werden könne.
Technische und organisatorische Vorgaben
In einer Pilotierungsphase könne die Umsetzung in einem ersten Schritt bei einem oder mehreren Oberlandesgerichten erfolgen. Darauf, technische und organisatorische Vorgaben im Detail zu machen, verzichte der Gesetzentwurf bewusst. Die Länder sollten zudem bei der Umsetzung nicht zu sehr eingeschränkt werden. Für sie soll außerdem, um eine schrittweise Einführung der neuen Regelungen zu gewährleisten, bis zu der bundesweit verbindlichen Einführung zum 1. Januar 2030 die Möglichkeit vorgesehen werden, durch Rechtsverordnung den Zeitpunkt für die Einführung der Inhaltsdokumentation zu bestimmen und diese zunächst auf einzelne Gerichte oder Spruchkörper zu begrenzen.
Einer aufgrund der Dokumentation bestehenden Gefährdung der Persönlichkeitsrechte der dokumentierten Personen soll - insbesondere zum Schutz vor einer Veröffentlichung und Verbreitung der Aufzeichnungen und der Transkripte - durch verfahrensrechtliche und materiell-strafrechtliche Regelungen begegnet werden. (mwo/11.10.2023)