Steinmeier: Erinnerung um der Gegenwart und um der Zukunft willen
Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier hat am Volkstrauertag dazu aufgerufen, die Sprachlosigkeit zu überwinden – auch die Sprachlosigkeit vieler Teile der Gesellschaft „gegenüber unserer Armee“. In seiner Gedenkrede während der zentralen Gedenkveranstaltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge am Sonntag, 14. November 2021, betonte das Staatsoberhaupt, die „Verantwortung vor unserer Geschichte“ anzunehmen, dürfe nicht bedeuten, die Auseinandersetzung mit den Konflikten der Gegenwart zu scheuen und mit denen, die darin „schwere und schwerste Verantwortung tragen“.
Trauern werde erst möglich, „wenn wir uns der Erinnerung stellen, auch der schmerzhaften“. Deshalb sei Erinnerung kein Selbstzweck und keine Bußübung: „Wir erinnern uns um der Gegenwart und um der Zukunft willen.“
Erinnerung an den Krieg in Ost- und Südosteuropa
Die Gedenkstunde unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes stand in diesem Jahr im Zeichen der Erinnerung an den besonders grausamen und verlustreichen Angriffs- und Vernichtungskrieg in Ost- und Südosteuropa, der vor 80 Jahren mit der Besetzung von Jugoslawien und Griechenland sowie dem Überfall auf die Sowjetunion begann.
Volksbund-Präsident General a. D. Wolfgang Schneiderhan erinnerte eingangs daran, dass der Zweite Weltkrieg von Anfang an auf die Zerstörung anderer Völker angelegt war. Von den mehr als 5,5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen seien 3,3 Millionen zu Tode gekommen: „Wir stehen alle in der Verantwortung, weil Verantwortung nicht verjährt.“
Trauer um die Opfer von Krieg und Gewalt
Steinmeier, der auch das Totengedenken sprach, sagte: „Wir trauern um die Opfer von Gewalt und Krieg überall auf der Welt, um Frauen, Männer und Kinder, die ihr Leben verloren haben oder deren Leben der Krieg überschattet hat. Wenn wir von Trauer sprechen, dann sprechen wir immer auch von dem, was der Trauer vorausgeht, vorausgehen muss: dass wir uns erinnern, an Menschen, an ihre Namen, an Orte und an Ereignisse.“
Viele dieser Orte in der ehemaligen Sowjetunion, im ehemaligen Jugoslawien oder in Griechenland, sagten den meisten Deutschen nichts: „Wir verbinden kein Geschehen mit ihnen, und noch weniger verbinden wir sie mit unserer eigenen, der deutschen Geschichte.“ Doch auch die mittel- und westeuropäischen Orte hätten erst zurückgeholt werden müssen in das deutsche Gedächtnis: Oradour in Frankreich, die Ardeatinischen Höhlen in Italien und Lidice in Tschechien. Sie seien Teil der deutschen und der gemeinsamen europäischen Erinnerung geworden.
„Den Namen dieser Orte zu kennen, macht einen Unterschied“
Dagegen wisse „unser Gedächtnis“ oft nichts, über Orte wie Malyj Trostenez bei Minsk, wo zwischen 1942 und 1944 Zehntausende jüdische Familien ermordet worden seien. Oder über den ukrainischen Ort Korjukiwka, wo deutsche Truppen innerhalb von zwei Tagen fast 7.000 Männer, Frauen und Kinder ermordet hätten. Zahllose andere Orte deutscher Verbrechen seien vergessen, wie das belarusische Dörfchen Chatyn, das im Frühjahr 1943 dem Erdboden gleichgemacht worden sei, oder das Städtchen Mizocz im Westen der Ukraine, vor dessen Toren die gesamte jüdische Bevölkerung an einem einzigen Tag im Oktober 1942 erschossen wurde.
Steinmeier: „Die Namen dieser Orte zu kennen, macht einen Unterschied – für unser Selbstverständnis als Nation ebenso wie für ein gemeinsames Verständnis als Europäer auf diesem Kontinent.“ Der Bundespräsident zeigte sich überzeugt: „Wenn wir verstehen, dass und wie diese Vergangenheit unsere Gegenwart prägt, dann werden wir uns auch für die verdrängten Kapitel der Geschichte stärker interessieren.“ Geschichte ist nach den Worten Steinmeiers auch Familiengeschichte. Die Rückfrage nachfolgender Generationen „Was hat das mit mir zu tun?“ müsse beantwortet werden können.
„Bundeswehr auf dem Boden der demokratischen Verfassung“
Die Erfahrung zweier Weltkriege, Schuld und Scham prägten das Verhältnis zwischen deutscher Gesellschaft und deutscher Armee bis in die Gegenwart, betonte der Bundespräsident. Die Bundeswehr als Parlamentsarmee stehe unverrückbar auf dem Boden der demokratischen Verfassung. „Wir und unsere Demokratie verlassen uns auf sie. Wir legen unsere Sicherheit, unsere Verantwortung gegenüber der Welt und unseren Verbündeten auch in die Hände unserer Soldatinnen und Soldaten.“
Viele Deutsche empfänden Unbehagen vor militärischen Ritualen und wollten nicht daran erinnert werden, was der Einsatz einer Armee, auch der Bundeswehr, bedeutet. Tod und Trauma, deutsche Soldaten im bewaffneten Einsatz, in fremden Ländern würden gerne verdrängt. „Für ein Land, dessen Name mit dem unendlichen Leid verbunden bleibt, das zwei Weltkriege über Europa gebracht haben, dessen Armee sich eines mörderischen Angriffskrieges schuldig gemacht hat, mag dieses Unbehagen verständlich sein. Aber: Das macht es denen, die ihr Leben riskieren für unser Land, den Veteraninnen und Veteranen der Auslandseinsätze, erst recht den Familien der Gefallenen, wahrlich nicht leicht“, fügte Steinmeier hinzu.
Die Trauer der eigenen Elterngeneration
Ihr Trauma, ihr Verlust, ihre Angst, Schmerz oder Scham verschwänden nicht, nur weil viele andere die Augen davor schließen. „Was wir als Gesellschaft verdrängen und verschweigen, woran wir nicht erinnert werden wollen, bleiben wir als Gesellschaft schuldig: den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, den Versehrten, den Gefallenen und ihren Familien.“
„Unsere Eltern waren Kinder dieses letzten, alles überschattenden Krieges“, sagte Steinmeier mit Blick auf seine eigene Generation. „Ihre hilflose, oft sprachlose Kindertrauer um Väter, Mütter und Brüder, um alle, die unabhängig davon, ob sie überlebt hatten oder nicht, von diesem Krieg gezeichnet blieben, hat auch uns geprägt.“ Es erfülle ihn mit großem Schmerz, so der Bundespräsident, dass es heute in Europa wieder Kinder gebe, denen dieses Schicksal nicht erspart bleibt.
Lesung und musikalischer Rahmen
An der Gedenkstunde nahmen neben dem Bundespräsidenten und der Bundestagspräsidentin unter anderen auch Bundesratspräsident Bodo Ramelow, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in Vertretung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesverfassungsgerichtspräsident Prof. Dr. Stephan Harbath und die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Dr. Eva Högl, teil.
Die Lesung zu „Begegnung und Erinnerung in Mittelost- und Südosteuropa“ gestalteten Ioannis Georgios Ilkos aus Griechenland, Daria Mehrkens aus Russland, Projektleiterin der internationalen Jugendcamps, und Tim-Benedikt Attow, Vorsitzender des Bundesjugendarbeitskreises des Volksbunds. Die Gedenkstunde wurde musikalisch umrahmt vom Landesjugendchor Thüringen unter Leitung von Nikolaus Müller, dem Bläseroktett des Musikkorps der Bundeswehr unter Leitung von Oberstabsfeldwebel Matthias Reißner und von Reinhold Beckmann.
Auf das Totengedenken folgten die Gedenkminute und das Totensignal „Der gute Kamerad“, vorgetragen von Stabsfeldwebel Akio Ogawa-Müller, dem Solotrompeter des Musikkorps der Bundeswehr Siegburg. Die Gedenkstunde endete mit der Europahymne und der Nationalhymne. (vom/14.11.2021)