Katharina Grosse
Ohne Titel
Katharina Grosse hat in der Versammlungshalle des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses ein geradezu barockes Raumgemälde gestaltet: Sie hat auf einer Fläche von insgesamt 330 qm fünf Sichtbetonflächen mit abstrakten Farbgestaltungen bespielt.
Jede der Farbflächen schlägt einen eigenen Ton an und fügt sich doch – wie in einem Musikstück – in ein größeres Ganzes: Von Westen nach Osten ist zur Linken ein Betonpfeiler übereck bespielt. Die Farbe Gelb dominiert auf der einen Seite, ein helles Braun auf der angrenzenden. Große schwungvolle Bögen lassen den Eindruck räumlich-illusionistischer Stoffbahnen entstehen. Es folgt eine Fläche des Sonderbaukörpers, auf dem giftiges Grün und Orange, grell und über Kreuz gesetzt, aufeinanderstoßen. Erst bei näherem Hinsehen zeigen sich Strukturen, die Wellen in der Brandung ähneln. Auf der gegenüberliegenden Seite der Halle antwortet ein flächiges Neon-Grün mit leichten schwarzen Schattierungen, dem erneut auf einem Sonderbaukörper tiefdunkel-violette Bogenschwünge folgen, die wieder einen illusionistischen Tiefenraum aufreißen. Da sich die Farbflächen auf beide Seiten der Halle verteilen, kommunizieren sie über eine Entfernung von 25 Metern miteinander, behaupten sich jedoch zugleich autonom, gleichwertig und hierarchielos: Architektur und Kunstwerk treten im Wechsel von gestalteten Pfeilern und grauen Sichtbetonflächen in ein eigenes rhythmisches Spannungsverhältnis, das sich dem Betrachter erst aus unterschiedlichen Blickwinkeln erschließt. So konzentriert sich die Künstlerin in ihrer Installation ganz auf die Wirkung der „Farben, Formen, Gesten und Strukturen“ (Armin Zweite) und deren Interaktion mit dem Raum und der Architektur.
In der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages ist Katharina Grosse bereits mit einer fünfteiligen Arbeit vertreten („Ohne Titel“, 1998). Auf Aluminiumplatten hat sie mit breiter Quaste Farbbahnen aufgetragen, die nebeneinander stehen und allein durch ihre wechselseitige Farbwirkung die Wahrnehmung beeinflussen. Dort, wo sich die Farbbahnen überlagern, entsteht eine neue, dritte Farbqualität aus durchscheinendem Untergrund und lasierend übermalter Farbe – ein geradezu psychodelischer Farbenrausch. Die Aluminiumplatten liegen rahmenlos – als seien sie ein Teil der Wand – flach auf und sind, wie Katharina Grosses raumgreifende Installationen, auch im Kleinen gleichermaßen autonome Farbsetzung und spannungsreiches Spiel mit der Architektur und mit dem Raum. Die Künstlerin nahm von 2000 bis 2010 eine Professur an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee wahr. Seit 2010 hat sie eine Professur an der Kunstakademie Düsseldorf inne, an der sie seinerzeit Meisterschülerin bei Gotthard Graubner war. Graubner setzte,ausgehend von den späten Seerosenbildern Monets, Farbe als eigenständigen Ausdrucksträger ein. In seinen berühmten Großgemälden, den „Farbraumkörpern“, das sind mit Leinwand überspannte Synthetikwattekissen, spielte er mit den unterschiedlichen Farbabstufungen, die sich aus dem Zusammenwirken der Farbe mit den weich verlaufenden Lichtgradationen auf der Wölbung dieser voluminösen „Kissen“ bilden.
In gleicher Weise verzichtet Katharina Grosse auf jede Gegenständlichkeit oder sonstigen Verweis-Charakter ihrer Malerei. Sie hat die Farbfeldmalerei radikal ausgeweitet bis zu einem Punkt, an dem nur noch die einzelne Farbe selbst, ihr Zusammenspiel mit anderen Farben sowie der erkennbare Farbauftrag Bedeutung haben. Nur das Sichtbare an sich wird präsentiert, wird geradezu in einen Farbenrausch „aufgeführt“: So schwingt in ihren Arbeiten ein performativer Charakter mit. Grosse gestaltet Aktionskunst, die in der Bewegtheit der großen Schwünge mit dem Teleskop-Pinsel oder der Farbpistole zum Ausdruck kommt und zudem die Brücke zur Aktionskunst per se, der Street Art der Graffiti-Sprayer, schlägt. Dem Betrachter tritt daher nicht eine geschlossene und abgeschlossene Bildkomposition entgegen, sondern ein offenes „Arbeitsfeld“, das die Spuren der Farbaufbringung zeigt, deutlich Farbtropfen und Überlagerungen erkennen lässt und auch die Möglichkeit weiterer Farbüberlagerungen vor dem geistigen Auge des Rezipienten offenhält.
Offen sind Grosses Werke auch hinsichtlich der Erstreckung der Farbflächen. Insbesondere mit diesem Ansatz hat Katharina Grosse völlig neues Terrain erschlossen: Wände, Innenräume, Fassaden oder von ihr selbst entworfene monumentale Skulpturen können bespielt werden. Zuletzt erfolgte im Jahre 2016 eine weitere Steigerung dieses Konzeptes in Fort Tilden an der amerikanischen Ostküste vor New York mit der Installation „Rockaway!“. Dort hat Katharina Grosse ehemalige militärische Anlagen, die im Hurrikan „Sandy“ 2012 zerstört wurden, in einen Farbschleier eingehüllt – das Gebäude selbst sowie den umgebenden Strand –, eine im Wortsinn grandiose Landschaftsmalerei. Eine solche Farbraumkunst transformiert auch im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus die nüchterne, vom Grau des Sichtbetons bestimmte Halle in einen vitalen Erlebnisraum. Er stimmt ein auf die künftige Funktion der Halle als Veranstaltungshalle des Deutschen Bundestages, als einen Ort, an dem sich das Parlament öffnet und die Bürger empfängt. Einen der Pfeiler scheint ein mächtiger, deckenhoher Vorhang zu drapieren, der Besucher und Betrachter in eine festliche, erwartungsvolle Stimmung versetzt. Katharina Grosse inszeniert ein Fest der Farben, das die Bürger mit einladender Geste im Parlament willkommen heißt.