Einführung des EH-55-Neubaustandards umstritten
Berlin: (hib/HAU) Die geplante Einführung des EH-55-Neubaustandards (maximal 55 Prozent Energieverbrauch eines Referenzgebäudes) zum 1. Januar 2023 als Zwischenschritt bis zur Einführung des EH-40 Standards im Jahr 2025 wird von Sachverständigen unterschiedlich bewertet. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie am Dienstagvormittag deutlich. Die Neuerung ist Teil eines Änderungsantrages der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zum Gesetzentwurf der Bundesregierung „zur Änderung des Energiewirtschaftsrechts im Zusammenhang mit dem Klimaschutz-Sofortprogramm und zu Anpassungen im Recht der Endkundenbelieferung“ (20/1599).
Aus Sicht von Maria Hill vom Zentralen Immobilien Ausschuss, einer Interessensvertretung der Immobilienwirtschaft, ist eine EH-55-Verschärfung sowohl wirtschaftlich als auch ökologisch „nicht der richtige Weg“. Noch mehr Dämmen als im geltenden Gebäudeenergiegesetz (GEG) führe nur noch zu geringen theoretischen Einsparungen beim Heizwärmebedarf. Der damit verbundene Ressourcenverbrauch führe gar zu einer Zunahme des CO2-Ausstoßes, sagte Hill. Auch der Idee der Kreislaufwirtschaft werde man durch klebende Wärmedämmungen nicht gerecht. Nach Berechnungen des ZIA führe die Erhöhung des jetzigen GEG-Standards auf ein EH-55-Niveau lediglich zu einer CO2-Reduktion von rund 0,5 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Demgegenüber stünden zusätzliche Kosten von rund 430 Millionen Euro jährlich für Bürger und Wirtschaft. Dies stehe in keinem angemessenen Verhältnis zueinander, befand Hill.
Ingrid Vogler vom Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen sieht die geplante Verschärfung des Baumindeststandards im GEG ebenfalls kritisch. In Kombination mit den drückenden Bedingungen am Markt und vielen weiteren existierenden und geplanten Auflagen sowie der eingestellten Förderung führe dies dazu, „dass im Segment des bezahlbaren Wohnraums der Neubau einbricht“. Um dort das Schlimmste zu verhindern, müsse es zu einer korrespondierenden Förderung des bezahlbaren Wohnraums in Mehrfamilienhäusern kommen. Zudem seien bei einer Verschärfung die GEG-Instrumente bereits jetzt zu erweitern, damit ein kreislaufwirtschaftsgerechtes Bauen im Lebenszyklus optimiert werden kann. Eine entsprechende Innovationsklausel sei nötig, die Ausnahmen von der Verschärfung des Wärmeschutzes für andere, nachhaltigere Bauweisen ermöglicht.
Weitergehende Ziele sind aus Sicht von Lamia Messari-Becker vom Lehrstuhl für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen nur dann vertretbar, wenn die betriebsseitigen Einsparungen an Energie und CO2-Emissionen den Mehraufwand eines EH-40 Gebäudes an Materialien und Technik kompensieren. Um dies aber zu gewährleisten, brauche es weitere Technologiesprünge. Auch drohe der massive Anstieg der Rohstoffpreise das „Mehr an Energieeffizienz und CO2-Minderung“ im Betrieb zu konterkarieren. Messari-Becker forderte, niedrigschwellige Maßnahmen, insbesondere im Gebäudebestand ordnungsrechtlich zu etablieren und mit Förderung zu flankieren. Dazu gehörten unter anderem die digital-gestützte Optimierung von Heizungsanlagen im Betrieb, das Management der Raumtemperatur und die regelmäßige Durchführung von hydraulischem Abgleich. Hier lägen Potenziale zur Energieeinsparung von bis zu 25 Prozent, sagte Messari-Becker.
Ein EH-55 oder EH-40 Gebäude habe keinen signifikant geringeren tatsächlichen Energieverbrauch als die aktuelle Mindestanforderung eines EH-75, befand Dietmar Walberg von der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen. Eine „Überoptimierung“ von Neubauten sei weder wirtschaftlich noch klimaschutztechnisch sinnvoll. Weitere Anforderungen gefährdeten zudem die Schaffung bezahlbaren Wohnraums. Walberg sprach sich dafür aus, die Potenziale der erneuerbaren Energien und lokalen Nah- und Fernwärmelösungen verstärkt auszuschöpfen. Im Fokus des Ordnungsrechts müssten technologieoffene CO2-Einsparungen liegen.
Franz Michel vom Deutschen Mieterbund begrüßte hingegen die Anhebung des Neubaustandards auf EH-55. Negative Implikationen für die Mieter seien nicht zu erwarten, sagte er. Stattdessen würden Fehlanreize für den Bau klimakompatibler und bezahlbarer Wohnungen beseitigt. Ein Großteil der ausgeschütteten Fördermittel sei in der Vergangenheit in den freifinanzierten und damit mietpreisungebundenen Neubau gegangen. „Die notwendige Sanierung des Gebäudebestands und der Bau von Sozialwohnungen ist hingegen unterfinanziert geblieben“, so der Vertreter des Deutschen Mieterbundes.
Aus Sicht von Christian Noll von der Deutschen Unternehmensinitiative Energieeffizienz ist die Anhebung des Standards „richtig und überfällig“. Die Neubauanforderungen sowie die weiteren technischen Anpassungen des GEG-Entwurfs sollten jetzt zügig in der vorgeschlagenen Form umgesetzt werden, verlangte er. Statt erst zu Beginn des kommenden Jahres sollte die Regelung schon eher in Kraft treten. Da aktuell EH-55 nicht mehr gefördert werde, drohe ansonsten die Baupraxis für hunderttausende Wohneinheiten auf das aktuelle gesetzliche Neubauniveau unterhalb des EH-70-Niveaus zurückzufallen, das mit den Klimazielen nicht kompatibel sei, warnte Noll.
Probleme bei der Umsetzung der geforderten Maßnahmen thematisierte Michel Durieux vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Vor allem aufgrund der demografischen Entwicklung, aber auch wegen des Trends zu einer zunehmenden Studierneigung von Jugendlichen, nehme der Mangel an Fachkräften im Handwerk seit Jahren zu. Die notwendige Transformation des Wirtschaftens in Deutschland hin zu mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit könne jedoch nur mit einer ausreichenden Zahl beruflich qualifizierter Fachkräfte insbesondere aus dem Handwerk als dem originären Umsetzer vor Ort gelingen. Daher brauche es unter anderem eine Stärkung der beruflichen Bildung und insbesondere der betrieblichen Ausbildung, eine arbeitsmarkt- und betriebsnahe Gestaltung von Fort- und Weiterbildung sowie eine Förderung von Betriebsnachfolgen, sagte Durieux.