Expertenstreit über Organspendenregelung
Berlin: (hib/PK) Der neue interfraktionelle Vorstoß zur Einführung der Widerspruchsregelung bei der Organspende stößt bei einigen Experten weiterhin auf Bedenken. Ohne Einwilligung sei eine Organspende nicht zu rechtfertigen, erklärten Sachverständige in einer Expertenanhörung des Gesundheitsausschusses zu dem Gesetzentwurf (20/13804) der Abgeordneten. Andere Experten sehen in der geplanten Regelung, die in einer früheren Abstimmung schon einmal gescheitert ist, eine wichtige Weichenstellung, um an mehr Spenderorgane zu kommen. Die Fachleute und Fachverbände äußerten sich am Mittwoch in der Anhörung sowie in schriftlichen Stellungnahmen.
Die Medizin-Ethikerin Claudia Wiesemann erklärte, die Widerspruchsregelung sei ein Eingriff in die Selbstbestimmung der Person über ihren eigenen Körper. Das wichtigste Rechtfertigungsargument sei die erhoffte deutliche Zunahme der Organspendenzahlen. Diese Hoffnung könne empirisch nicht belegt werden. Es gebe im Gegenteil Anlass zur Sorge, dass die Zahl der Lebendorganspenden parallel zurückgehen werde. Das Hauptproblem sei die mangelhafte Meldebereitschaft der Krankenhäuser. Lösungsversuche müssten hier ansetzen, forderte sie.
Der Theologe und Ethiker Peter Dabrock äußerte sich gleichfalls kritisch. Der „Flaschenhals“ im Organgewinnungsprozess sei nicht die Spendenbereitschaft der Bevölkerung. Vielmehr gelinge es nicht, die Zahl der organspendenbezogenen Kontakte signifikant zu steigern. Vor allem Krankenhäuser ohne Neurochirurgie hinkten dramatisch hinterher. Wer etwas wolle, müsse im Übrigen fragen. Schweigen sei keine Zustimmung.
Ähnlich äußerten sich die beiden großen Kirchen in Deutschland. Bei der Regelung der Organspende sollte der Charakter einer freiwilligen Organspende im Sinne einer bewusst und höchstpersönlich getroffenen eigenen Entscheidung erhalten bleiben, erklärten das Kommissariat der deutschen Bischöfe und die Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Nach Ansicht des Rechtsexperten Josef Franz Lindner von der Universität Augsburg bestehen gegen die Einführung einer Widerspruchsregelung keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Staat sei verfassungsrechtlich verpflichtet, für ein effektives Organtransplantationssystem zu sorgen. Dazu gehöre die Pflicht, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass eine ausreichende Zahl an Spenderorganen generiert werde. Die Widerspruchsregelung stelle einen verfassungskonformen Weg dar, wie der Gesetzgeber seiner grundrechtlichen Schutzpflicht nachkommen könne. Der Rechtswissenschaftler Steffen Augsberg von der Universität Gießen machte in der Anhörung hingegen durchaus verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Widerspruchsregelung geltend.
Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) stagniert die Zahl der Organspender in Deutschland seit vielen Jahren. 2024 seien 953 Organspender registriert worden. Im internationalen Vergleich liege Deutschland damit im unteren Drittel, teilte die DSO mit. Seit Jahren sei Deutschland im Eurotransplant-Verbund ein Nehmerland, bekomme also mehr Organe, als es abgebe. Deutschland profitiere damit auch von Ländern, in denen eine Widerspruchsregelung gelte.
Ende 2024 standen laut DSO 8.269 schwer kranke Patienten auf der Warteliste für ein Spenderorgan, darunter 6.397, die eine Spenderniere brauchen. Weitere 5.770 Patienten seien als nicht-aktiv auf den Wartelisten registriert, sie würden als nicht transplantierbar eingestuft. Von den knapp 100.000 Dialyse-Patienten könnten rund ein Drittel von einer Transplantation profitieren, erklärte die DSO. Für Nierenpatienten stehe als Ersatztherapie die Dialyse zur Verfügung, für andere Patienten gebe es keine Alternative zur Transplantation. 2022 seien 769 Patienten auf den Wartelisten gestorben.
Der Transplantationsmediziner Bernhard Banas vom Universitätsklinikum Regensburg erklärte, die wiederholt vorgebrachte Idee, allein durch organisatorische Verbesserungen in Krankenhäusern die Organspendenrate ausreichend zu verbessern, müsse als gescheitert angesehen werden. Frühere Gesetzesänderungen hätten nicht die erwünschten Erfolge gebracht.
Auch das Bündnis Protransplant, ein Zusammenschluss von Patientenverbänden und Selbsthilfegruppen, machte auf die Dringlichkeit einer gesetzlichen Änderung aufmerksam. Weder die 2019 in Kraft getretenen Strukturverbesserungen noch das 2020 beschlossene Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft hätten zu mehr Organtransplantationen geführt.
Eine Sprecherin des Bündnisses gab in der teilweise hochemotionalen Anhörung einen Einblick in die Lebenslage der Menschen, die auf ein rettendes Organ warten. Sie sagte, Patienten warteten oft viele Jahre auf ein Organ. Das Ausmaß des Leids sei unfassbar. Die akademische Debatte empfinde sie als unerträglich. Die Widerspruchsregelung wäre eine Grundlage, auf der die Gesellschaft aufbauen könnte.