Begrüßungsansprache von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beim Staatsakt zu Ehren von Wolfgang Schäuble
[Stenografischer Dienst]
Bärbel Bas, Präsidentin des Deutschen Bundestages:
Liebe Frau Schäuble!
Sehr geehrter Herr Staatspräsident Macron!
Herr Bundespräsident!
Hochverehrte internationale Gäste und Exzellenzen!
Herr Bundeskanzler!
Frau Bundesratspräsidentin!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren hier im Saal und an den Bildschirmen!
Wir trauern um Dr. Wolfgang Schäuble. Deutschland verliert einen großen Demokraten und Staatsmann. Europa einen Vordenker. Und Frankreich einen besonderen Freund. Dieser Staatsakt zu Ehren von Wolfgang Schäuble findet am Jahrestag des Élysée-Vertrages statt. Das hätte ihm gefallen.
Sehr geehrter Herr Staatspräsident, es ist uns eine große Ehre, dass Sie heute hier sind und gleich die Trauerrede halten werden. Dafür bin ich sehr dankbar. Sehr geehrter Herr Merz, Sie waren viele Jahre mit Wolfgang Schäuble befreundet. Auch Ihnen danke ich sehr, dass Sie ihn gleich mit einer Rede würdigen werden.
Den größten Verlust trägt Wolfgang Schäubles Familie. Seine engsten Angehörigen und viele seiner Weggefährten sind heute hier unter uns. Herzlichen Dank, dass Sie heute alle nach Berlin gekommen sind.
Sehr geehrte Damen und Herren, Wolfgang Schäuble hat viele Ämter und Funktionen bekleidet: Bevor er Bundestagspräsident wurde, war er Parteichef, Fraktionsvorsitzender und immer wieder Minister. Er steckte politische Rückschläge weg. Und persönliche Schicksalsschläge. Er machte weiter. Für die Demokratie. Für dieses Land.
Und er hat Historisches vollbracht. Denken wir nur an seine Leistungen als Architekt der deutschen Einheit. Wolfgang Schäuble war der vollendete Staatsdiener. Immer galt für ihn: Erst das Amt, dann die Person. Zum Schluss war er zu einer Instanz geworden - über Parteigrenzen hinweg.
Seine Leidenschaft war das Parlament. Ein Parlament, das um seine Rechte weiß. Mit selbstbewussten Abgeordneten. Er selbst nahm sein Mandat im Deutschen Bundestag immer ernst und mit Leidenschaft wahr. Auch während er Verantwortung in der Regierung trug. 51 Jahre war er Abgeordneter. Niemand hat länger in einem deutschen Parlament gearbeitet als er.
Als er 1972 in den Bundestag einzog, traf er dort noch auf die Gründergeneration von 1949. Mit Ausnahme von Konrad Adenauer saß er mit allen deutschen Bundeskanzlern im Parlament. Er hatte das politische Geschäft von jenen gelernt, die unsere Demokratie wiederaufgebaut haben. Er wusste: Unsere Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie ist es wert, verteidigt zu werden. Und sie muss verteidigt werden. Jeden Tag.
Wolfgang Schäuble redete niemandem nach dem Mund, er sprach aus Überzeugung - auch um Widerspruch zu provozieren und in der Sache voranzukommen. Um gemeinsame Lösungen zu finden.
Er war ein guter Zuhörer und hat sich eingelassen auf sein Gegenüber. Politische Feinde gab es für ihn nicht - das widersprach seinen demokratischen Überzeugungen. Für ihn gab es politische Konkurrenten. Und es war sein Anspruch, sie zu verstehen. Natürlich: Er behielt gerne recht. Und oft genug gab ihm die Geschichte recht. Und wenn einmal nicht, dann hat er dazu gestanden. Das ist Größe.
In seinen Reden beeindruckte er mit intellektuellem Scharfsinn, sprachlicher Präzision und politischer Angriffslust. Eine Rede ist legendär: In der Debatte über den Regierungssitz des wiedervereinigten Deutschlands plädierte er leidenschaftlich für die historische Hauptstadt. Er redete seinen Kolleginnen und Kollegen ins Gewissen: Berlin sei - ich zitiere - immer „das Symbol für Freiheit und Einheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für das ganze Deutschland“ gewesen.
Wie die Debatte ausging, ist bekannt: Der Bundestag tagt heute hier im Reichstagsgebäude. Viele sagen, dass wir das Wolfgang Schäubles Überzeugungskraft verdanken.
Berlin ernannte ihn zum Ehrenbürger. Der Baden-Württemberger Wolfgang Schäuble war stolz darauf.
Als der Deutsche Bundestag ihn 2017 zum Präsidenten wählte, war das der Höhepunkt eines Lebens als Ausnahmeparlamentarier. Als Bundestagspräsident war er ein Vorbild an Souveränität.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Staatsdiener Wolfgang Schäuble hat stets auch Staatsernst verkörpert, wie Jacques Schuster vor Kurzem in der „Welt“ schrieb. Aber es gab auch eine andere Seite: Ich erinnere mich gern an seinen tiefgründigen Humor. Man musste zweimal hinhören, um die Zwischentöne zu verstehen.
Wolfgang Schäuble war ein feinsinniger Mensch. Er konnte Klassiker zitieren - ebenso wie Bücher aus den aktuellen Bestsellerlisten. Er war ein Kenner der Künste.
Vor gut einem Jahr wurde Wolfgang Schäubles Porträt für den Deutschen Bundestag gehängt. Die erste Version zeigte ihn als Chef des Bundeskanzleramts: vor dem Attentat, das sein Leben für immer veränderte. Wolfgang Schäuble lehnte ab. Weitere Versionen entstanden - und wurden verworfen.
Das Porträt, das Wolfgang Schäuble schließlich gefiel, zeigt ihn als Redner: als Redner, der die Zuhörerinnen und Zuhörer zur Gegenrede einlädt, und als Mann, „durch den“ - Zitat - „die Republik hindurchgegangen ist“. So beschrieb ihn Tina Hildebrandt in einem Nachruf für „Die Zeit“.
Das Porträt zeigt auch das typische Wolfgang-Schäuble-Lächeln. Etwas Jugendliches hatte er sich bewahrt. Bis zum Schluss blieb er wissbegierig und offen für Neues.
Ausgerechnet er, der Alterspräsident, nahm die jungen Abgeordneten ebenso ernst wie die jungen Menschen im Land. Er zeigte auch Verständnis für die Streiks von Schülerinnen und Schülern für eine entschlossene Klimapolitik, auch wenn er vor den radikalen Methoden einiger Aktivistinnen und Aktivisten warnte. Aus Sorge um das Klima und die Artenvielfalt forderte er immer wieder konsequentes Handeln ein.
Er selbst arbeitete in seiner Jugend auf einem Soldatenfriedhof im Elsass. Dort lagen Gefallene des Ersten Weltkrieges. Diese Jugenderfahrung hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ihm, fest verwurzelt in der Grenzregion, war die deutsch-französische Freundschaft ein besonderes Anliegen.
Auf den Tag genau heute vor sechs Jahren sprach er in der französischen Nationalversammlung. Er warb für eine gemeinsame Kammer mit dem Deutschen Bundestag. Die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung ist sein Vermächtnis für die deutsch-französische Freundschaft. Dafür werden ihm die Abgeordneten in beiden Ländern immer dankbar sein.
Bei der Amtsübergabe hat Wolfgang Schäuble mir die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung sehr ans Herz gelegt. Dem Bundestag und mir persönlich ist sein Vermächtnis ein Ansporn und eine Verpflichtung, die Partnerschaft unserer beiden Länder zu vertiefen.
Sehr geehrte Damen und Herren, „Realisten“ und „Träumer“ - Wolfgang Schäuble nutzte dieses Begriffspaar manchmal, wenn er über Europas Zukunft sprach. Für ihn war die europäische Einigung ein Friedensprojekt, die Lehre aus der deutschen Geschichte.
Wir erinnern uns besonders an den Realisten Wolfgang Schäuble, der europäische Krisen bewältigte. Wir sollten aber auch den europäischen Träumer nicht vergessen, der in Krisen immer auch Chancen sah. Für sein Krisenmanagement und seine Visionen wurde ihm 2012 der Aachener Karlspreis verliehen.
Wenige Tage vor seinem Tod träumte Wolfgang Schäuble noch einmal, für eine Kolumne in der „Zeit“. Er zitierte Nathan den Weisen, der zu seiner Tochter sagt: „Weißt du, wie viel leichter andächtig schwärmen denn gut handeln ist?“ Es waren seine letzten veröffentlichten Worte. Sie sind eine Aufforderung an uns.
Mehr als 50 Jahre lang hat Wolfgang Schäuble alles darangesetzt, klug zu handeln. Sehr, sehr oft ist es ihm gelungen. Danke, Wolfgang Schäuble!
Der Deutsche Bundestag und diese Trauerversammlung verneigen sich vor einem großen Staatsmann und Demokraten. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.