Parlament

Willy Brandt sieht die Zukunft im „europäischen Haus“

Ein Mann sitzt auf einem Stuhl vor Mikrofonen.

Willy Brandt eröffnet als Alterspräsident die konstituierende Sitzung des Bundestages am 29. März 1983. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/ Ludwig Wegmann)

Das Amt des Alterspräsidenten ist parlamentarische Tradition und Teil der Geschäftsordnung des Bundestages. Ein Amt von hoher Würde, aber nur von kurzer Dauer. Es hat sich nach traditioneller Praxis mit der Wahl des neuen Bundestagspräsidenten erschöpft. Obwohl er nicht in sein Amt gewählt wird, sondern in seiner Eigenschaft als ältester Abgeordneter zu dieser Ehre kommt, ist es anerkannte Tradition, dass der Alterspräsident die erste Rede vor dem Plenum hält. Bisher haben alle Alterspräsidenten der Bundesrepublik von dieser Tradition Gebrauch gemacht und dabei eigene Akzente gesetzt.

Nicht der älteste Abgeordnete

1983, 1987 und 1990: Der Alterspräsident heißt dreimal Willy Brandt (1913-1992). Der SPD-Vorsitzende gehört noch zu den Abgeordneten, die schon bei der Konstituierung des ersten Deutschen Bundestages dabei waren. Der älteste Abgeordnete ist er 1983 trotzdem nicht. Der 69-Jährige ist, wie er selbst sagt, „unter denen, die am 6. März in den Bundestag gewählt wurden, einer der Ältesten“.

1983 sind Die Grünen zum ersten Mal im Bundestag vertreten und der 75-jährige Grünen-Abgeordnete Werner Vogel hätte gern als Alterspräsident eine grüne Eröffnungsrede gehalten. Doch kurz nach der Wahl wird seine ehemalige SA- und NSDAP-Mitgliedschaft bekannt. Vogel tritt von seinem Mandat zurück.

„Parlamentarische Verantwortung kein Vorrecht einer Seite“

Der nächstälteste Abgeordnete, Egon Franke (SPD), verzichtet auf die Übernahme dieser Würde, da gegen ihn gerade ein Ermittlungsverfahren läuft. So fällt das Amt des Alterspräsidenten des zehnten Deutschen Bundestags an Willy Brandt. In seiner Eröffnungsrede am 29. März 1983 spricht er Aspekte der demokratischen politischen Kultur an. Besonderen Wert legt er auf die Feststellung:

„Alle Mitglieder dieses Hauses nehmen gleichermaßen wichtige Aufgaben wahr, ob sie nun die Regierung stellen oder diese kritisch begleiten, ob sie Macht verwalten oder diese kontrollieren, ob sich ihre Partei und Fraktion in der Regierungsverantwortung zu bewähren hat oder ob sich ihre Partei und Fraktion hierauf neu vorbereitet. Parlamentarische Verantwortung für unseren Staat obliegt  der einen Seite wie der anderen; sie ist keiner Seite Vorrecht.“

Erster sozialdemokratischer Bundeskanzler

Der SPD-Abgeordnete verfügt über mehr als drei Jahrzehnte Parlamentserfahrung. Nach dem Krieg aus dem skandinavischen Exil zurückgekehrt, engagiert er sich in Deutschland für den Aufbau der Demokratie. 1949 bis 1957 ist er Abgeordneter des Deutschen Bundestages. 1957 bis 1966 leitet er als Regierender Bürgermeister die Geschicke West-Berlins und hat als solcher 1957/58 den Vorsitz im Bundesrat inne.

In der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger wird er 1966 Bundesaußenminister und Vizekanzler. 1969 wird Willy Brandt, unterstützt vom Koalitionspartner FDP, als erster Sozialdemokrat zum Bundeskanzler gewählt. Unter dem Motto „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ kündigt er zahlreiche  innenpolitische Reformen in der Bundesrepublik an.

Neue Ost- und Deutschlandpolitik

Unter den Schlagworten „Wandel durch Annäherung“ und „Politik der kleinen Schritte“ bemüht er sich vor allem um eine Verbesserung des Verhältnisses zur DDR. Seine neue Ost- und Deutschlandpolitik leitet die Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik mit ihren östlichen Nachbarn ein und sucht die Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas.

1971 wird Brandt für seine Versöhnungspolitik mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Als erster deutscher Regierungschef spricht er 1973 vor der Vollversammlung der vereinten Nationen.

Mitglied des Europäischen Parlaments

1974 tritt er wegen der Guillaume-Affäre als Bundeskanzler zurück. Er behält sein Bundestagsmandat und bleibt bis 1987 Vorsitzender der SPD, später wird er Ehrenvorsitzender der Partei. In den folgenden Jahren wirkt Willy Brandt als Präsident der Sozialistischen Internationale  und Vorsitzender der „Unabhängigen Kommission für internationale Entwicklungsfragen“ (Nord-Süd-Kommission) politisch weiter.

Er bemüht sich um Gespräche im Nahost-Konflikt und ist auch weiterhin ein gefragter und engagierter Außenpolitiker. 1979 bis 1983 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments.

„Pflicht zum Frieden und zum Dienst an Europa“

Den elften Deutschen Bundestag eröffnet er am 18. Februar 1987 als ältestes Mitglied des Parlaments. In seiner Eröffnungsrede spannt er einen Bogen von der internationalen Lage über die politische Kultur bis zur deutschen Einheit. Im Verhältnis beider deutscher Staaten verlangt er eine Verantwortungsgemeinschaft. Nicht zu ersetzen sei auch die Pflicht der Deutschen in beiden Staaten zum Frieden und zum Dienst an Europa.

Aus voller Überzeugung und mit ganzem Nachdruck sagt er: „Für die Deutschen in ihrer Gesamtheit gibt es keine Zukunft ohne ein europäisches Haus.“ Brandt setzt sich auch mit den damals absehbaren Reformprozessen in der Sowjetunion auseinander und bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass sich geschichtlich neue Perspektiven ergeben, wenn die Chancen einer realistischen Entspannungspolitik wahrgenommen werden.

Appell an die Ostdeutschen

Fast vier Jahre später erfüllt sich für ihn ein Lebenstraum. Am 20. Dezember 1990 tagt das gesamtdeutsche Parlament des wiedervereinten Deutschlands im Berliner Reichstagsgebäude. Die große Freude über die deutsche Einheit solle Anlass zur Selbstprüfung sein, mahnt Brandt. Angesichts der historischen Situation hofft er, dass das vereinte Deutschland die Verantwortung für die Geschichte mit all ihren Seiten annimmt und betont aber auch, dass der Bundestag in der Tradition der Nationalversammlungen von 1848 und von Weimar 1919 stehe.

Sein Appell an die Ostdeutschen: „Möge das Gefühl, auf der falschen Seite der Geschichte gestanden zu haben, sich nicht in Mutlosigkeit oder gar Aggression entladen.“ Für „uns in Deutschland“ gehe es jetzt darum, das gemeinsame Gehäuse mit Inhalt zu füllen, betont er. Wichtig sei, dass man sich dabei zuhören und aufeinander zugehen möge.

Votum für Berlin als Hauptstadt

Brandt spricht sich für Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz aus. 1991 entscheidet sich der Deutsche Bundestag mit 338 zu 320 Stimmen für Berlin als neuen Regierungssitz.

Am 8. Oktober 1992 stirbt Willy Brandt in Unkel am Rhein im Alter von 78 Jahren. Er wird in Berlin-Zehlendorf auf dem Waldfriedhof beigesetzt. (klz/09.10.2017)