Gerhard Schröders Vertrauensfrage (2001)
Das eine gilt als Waffe des Parlaments, das andere als Druckmittel des Kanzlers. Und doch dienen die Regelungen, die das Grundgesetz für das konstruktive Misstrauensvotum und die Vertrauensfrage festlegt, ein und demselben Zweck: Sie sollen dafür sorgen, dass Regierungskrisen schnell überwunden werden und kein Zustand eintritt, in dem das Land keine handlungsfähige Regierung besitzt. In der Geschichte des Deutschen Bundestages wurde bislang fünf Mal von einem Regierungschef die Vertrauensfrage gestellt, zwei Mal versuchte das Parlament, den Kanzler mithilfe des konstruktiven Misstrauensvotums zu stürzen. Ein Rückblick auf entscheidende Stunden im Plenum. Folge 6: 16. November 2001 - Gerhard Schröder stellt die Vertrauensfrage.
Fast zwei Jahrzehnte hatte kein Kanzler mehr zu diesem Mittel gegriffen: Helmut Kohl (CDU) wandte es gleich zu Beginn seiner 16-jährigen Regierungszeit am 17. Dezember 1982 bewusst an, um über eine verlorene Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages zu erreichen und damit Neuwahlen herbeizuführen.
Vertrauensfrage mit einer Sachfrage verknüpft
Über eine weitere Vertrauensfrage hatte das Parlament dann wieder vor neun Jahren, am 16. November 2001, abzustimmen - diesmal gestellt von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der seit Herbst 1998 einer Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorstand.
Auch wenn es seit Gründung der Bundesrepublik bereits das vierte Mal war, dass dieses Instrument überhaupt nach Artikel 68 Absatz 1 des Grundgesetzes zum Einsatz kam, so war Schröders Antrag doch ein Novum: Zum ersten Mal verknüpfte ein Kanzler die Vertrauensfrage mit einer ganz konkreten Sachfrage. In diesem Fall mit einem Antrag der Bundesregierung auf Entsendung deutscher Streitkräfte für den von den USA angeführten Kampf gegen den internationalen Terrorismus im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ in Afghanistan.
Umstrittenen Bundeswehrbeteiligung am Antiterror-Kampf
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte Bundeskanzler Schröder den Vereinigten Staaten von Amerika die „uneingeschränkte Solidarität“ Deutschlands zugesichert.
Als dann im Oktober der von den Vereinten Nationen mandatierte und von US-Truppen geführte Antiterror-Einsatz gegen die Taliban in Afghanistan begann, stellte sich auch für Deutschland als Nato-Mitglied die Frage einer Beteiligung.
Widerstand in der Koalition
Bundeskanzler Schröder befürwortete dies, und auch die Oppositionsfraktionen Union und FDP signalisierten Zustimmung, doch in der der rot-grünen Koalition selber regte sich Widerstand: Die Aussicht auf eine Bundeswehrbeteiligung an einem Militäreinsatz außerhalb des Nato-Vertragsgebietes - ein deutlicher Einschnitt zur bisherigen bundesdeutschen Außen- und Sicherheitspolitik - behagte einer Reihe von Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen nicht.
20 Sozialdemokraten, insbesondere vom linken Flügel der Fraktion, waren unentschlossen, wie sie bei einer Abstimmung entscheiden würden; acht Grüne kündigten sofort ihre Ablehnung an.
Vertrauensfrage als Machttest
Auch wenn ein Antrag der Bundesregierung auf Entsendung von Bundeswehreinheiten mit den Stimmen von Union und FDP hätte verabschiedet werden können, so war Schröders Koalitionsmehrheit nicht sicher. Der Bundeskanzler wollte aber unbedingt das „Heft des Handelns“, wie er selbst es nannte, in der Hand behalten und Macht und Handlungsfähigkeit seiner Regierung gerade in den Monaten nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 demonstrieren.
Er entschied, die Abstimmung über einen Bundeswehreinsatz mit bis zu 3.900 Soldaten mit der Vertrauensfrage zu verknüpfen - ein politischer Machttest. Wenn die Koalition keine eigene Mehrheit für die Bereitstellung von Bundeswehrsoldaten für den internationalen Antiterror-Kampf zustande brächte, dann „müsse das ein anderer machen“, so Schröders Drohung mit Blick auf das eigene Amt. Zustimmung zum Afghanistan-Einsatz oder Rücktritt und das Ende von Rot-Grün? Schröder setzte alles auf eine Karte.
„Einsatz außerhalb des Nato-Gebiets ist eine Zäsur“
„Es geht mir um die Verlässlichkeit unserer Politik“, sagte der Kanzler, als er am 16. November 2001 vor der namentlichen Abstimmung im Bundestag sein Vorgehen begründete. Die erstmalige Bereitstellung von deutschen Soldaten außerhalb des Nato-Gebietes nannte er eine „Zäsur“.
Es sei „unabdingbar“, dass sich der Bundeskanzler bei einer Entscheidung von „solcher Tragweite“ auf die Mehrheit in der eigenen Koalition stützen könne, so Schröder. „Ich habe deshalb bewusst die Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes und den Antrag über die Bereitstellung der deutschen Streitkräfte für den Kampf gegen den Terrorismus miteinander verknüpft.“
Laut Verfassung sei es zulässig, dass ein Kanzler „die Belastbarkeit der ihn tragenden parlamentarischen Mehrheit gerade auch im Zusammenhang mit einer Sachfrage teste“, erklärte er und berief sich dabei auf den ehemaligen Verfassungsrichter Hans Hugo Klein. Kritik, er schränke so die Gewissensfreiheit des einzelnen Abgeordneten ein, wies Schröder damit gleichzeitig zurück: „Dafür habe ich kein Verständnis.“
„Anfang vom Ende der Regierung Schröder“
Die Opposition aus Union und FDP warf der Regierung in der Debatte vor, „gescheitert“ zu sein. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Friedrich Merz, erklärte, unabhängig vom Ausgang der Abstimmung sei „dieser Tag der Anfang vom Ende der Regierung Gerhard Schröder“.
Ein Kanzler, der die Abstimmung über eine Sachfrage mit einer „rein parteipolitischen Frage“ verknüpfen müsse, sei kein Kanzler, der „eine kraftvolle Regierung anführe“, betonte Merz. Wie einst Helmut Schmidt, sei nun auch Schröder ein „Kanzler ohne Unterleib“.
„Armutszeugnis für Deutschland“
Auch FDP-Fraktionschef Dr. Wolfgang Gerhardt sprach von einem „Armutszeugnis für die Bundesrepublik“. Er forderte Schröder auf, die Vertrauensfrage von der Sachfrage zu trennen. Das sei „parlamentarisch das beste Verfahren“ und entspreche der „Ausübung des freien Mandats“.
Doch auch wenn Schröder letztendlich eine Mehrheit bekäme und die Grünen ihm nach der „Anwendung dieses pädagogischen Rohrstocks“ folgten, wäre der Kanzler doch politisch am Ende, so der Liberale.
„Es geht um die Zukunft der Reformkoalition“
Kerstin Müller, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, appellierte an das Verantwortungsgefühl ihrer Fraktion: In der Abstimmung gehe es nicht nur um den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan, sondern auch um den Fortbestand der „Reformkoalition“. Rot-Grün habe eine eindrucksvolle Bilanz aufzuweisen, so die Politikerin. Außerdem lägen noch „große Aufgaben“ vor ihnen. Dies alles sei bei der Abstimmung zu bedenken.
Gleichzeitig verteidigte sie die grundsätzliche Skepsis der Grünen gegenüber militärischen Einsätzen: „Es gibt kaum eine Partei, die (...) sich so kritisch, so kontrovers, so gründlich und so ernsthaft mit der Notwendigkeit militärischer Maßnahmen auseinandergesetzt hat“, sagte Müller. Niemand müsse sie über verantwortungsvolles Verhalten in der Regierung aufklären.
„Nötigung des Parlaments“
Roland Claus, Fraktionsvorsitzender der PDS, warf Schröder ein „Koalitionsmachtspiel“ vor, durch das der Krieg in Afghanistan in den Hintergrund gerückt sei. Die Verknüpfung der Entscheidung über den Bundeswehreinsatz mit der Vertrauensfrage bezeichnete der Abgeordnete als „Irreführung der Öffentlichkeit und Nötigung des Parlaments“.
Claus bekräftigte, seine Fraktion sage „Nein“ und werde gegen den Bundeswehreinsatz stimmen und dem Kanzler das Vertrauen verweigern. Wenn der Kanzler das vermeiden wolle, solle er jetzt den Antrag „vom Tisch“ nehmen - oder wenigstens die Verknüpfung lösen.
Front der „Neinsager“ zeigte Risse
Doch als nach zweieinhalbstündiger Debatte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) die Abstimmung eröffnete, musste Gerhard Schröder nicht mehr ernsthaft fürchten, die Vertrauensfrage zu verlieren. Die „Front der Neinsager“ in der Koalition war schon in den Tagen vor der Sitzung des Bundestages gebröckelt: Zwar hatte die SPD-Parlamentarierin Christa Lörcher die Fraktion aus Protest verlassen, doch bei den zuvor Unentschlossenen in der eigenen Fraktion schien Schröders Disziplinierungsmaßnahme Wirkung zu zeigen.
Obwohl mancher angesichts seines drastischen Schrittes von „Erpressung“ sprach, zeichnete sich schließlich auch bei den Bündnisgrünen die Bereitschaft zu einem Kompromiss ab: Von den acht Abgeordneten, die anfänglich angekündigt hatten, der Entsendung von deutschen Soldaten nicht zustimmen zu können, wollten nun noch genau die Hälfte, also vier, mit „Ja“ votieren - als Signal und Bestätigung für die gemeinsame Arbeit in der rot-grünen Regierungskoalition.
„Riesenentscheidung - ein Fast-Martyrium“
Die andere Hälfte wollte aber bei ihrem Votum bleiben - darunter auch der Berliner Abgeordnete Hans-Christian Ströbele, der das Ringen mit sich gegenüber dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ als „Riesenentscheidung - ein Fast-Martyrium“ bezeichnet hatte.
Einen Tag vor der Vertrauensabstimmung hatten die Koalitionsfraktionen einen Entschließungsantrag zum Antrag der Bundesregierung vorgelegt, der Anregungen der Kritiker aufnahm. Ferner wurde eine Protokollnotiz von Seiten der Bundesregierung zum Regierungsantrag abgegeben. Sie konkretisierte die Bedingungen für den geplanten Einsatz der Bundeswehr und sicherte dem Bundestag eine kontinuierliche Unterrichtung zu.
Schröder am Ziel: Zurück an die Arbeit
Dennoch stand dem Bundeskanzler die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als Wolfgang Thierse das Ergebnis der namentlichen Abstimmung verkündete: Von 662 Abgeordneten hatten 336 mit „Ja“ gestimmt (zwei Stimmen mehr als die erforderliche absolute Mehrheit), 326 mit „Nein“.
„Meine Damen und Herren, die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses und damit der Antrag der Bundesregierung zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte (...) sind angenommen. Ich stelle weiterhin fest, dass der Antrag des Bundeskanzlers gemäß Artikel 68 Absatz 1 des Grundgesetzes die dort vorgesehene Mehrheit gefunden hat. Der Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, ist damit angenommen.“
Schröder war am Ziel: Er sei „froh“ darüber, dass er „die Arbeit für Deutschland“ mit voller Unterstützung seiner Fraktion fortsetzen könne, sagte er nach der Entscheidung im Plenum. Es sei ihm zudem wichtig gewesen, dass die Koalition zusammenstehe und die Bundesregierung außen- und innenpolitische Handlungsfähigkeit demonstriere, „wenn es ernst wird“. Nun gehe es wieder „an die Arbeit“. (sas)