Parlament

„Eine ganz große Leistung, die erbracht worden ist“

Rudolf Seiters im Interview

Rudolf Seiters im Interview (© dpa - Report)

Rudolf Seiters, damals Kanzleramtsminister, musste am Abend des 9. November 1989 im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zum Fall der Berliner Mauer abgeben. Im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ vom 6. September 2010 erinnert sich der heute 72-jährige CDU-Politiker an die damaligen Ereignisse und zieht eine Bilanz des 20-jährigen Aufbauprozesses nach der Herstellung der deutschen Einheit. Das Interview im Wortlaut:


Herr Seiters, am Abend des Mauerfalls 1989 mussten Sie als Kanzleramtsminister im Bundestag eine Regierungserklärung zu den Ereignissen in Berlin abgeben - Helmut Kohl war in Polen. Wie haben Sie damals vom Mauerfall erfahren?

Ich sprach im Kanzleramt mit den Fraktionschefs von CDU/CSU, SPD und FDP über anstehende politische Fragen, als die ersten Meldungen kamen. Wir haben die Sitzung unterbrochen, um den Wahrheitsgehalt dieser Meldungen zu erkunden, dann informierten wir den Bundeskanzler, zu dem wir die ganze Nacht hindurch Kontakt hielten. Dann habe ich die Regierungserklärung abgegeben, die Fraktionsvorsitzenden sprachen, die Abgeordneten erhoben sich und sangen die Nationalhymne.

Ihre Regierungserklärung ließ Überraschung spüren und auch Vorsicht…

Das ist richtig. Ich stand ja in Verhandlungen über ein neues DDR-Reisegesetz - wir wussten, dass gewisse Erleichterungen kommen würden, aber wir waren völlig überrascht, dass die Mauer an diesem Tag geöffnet wurde - es war ja auch nicht geplant.

Musste die Bundesregierung, mussten Sie sich an diesem Abend zurückhalten?

Was die Bundesregierung anbetrifft, waren die ganzen Monate 1989 und auch später von einer sehr vorsichtigen Steuerung geprägt. Wir mussten Rücksicht nehmen auf Empfindlichkeiten im Osten wie im Westen, wollten auch die Gespräche mit der DDR nicht belasten.

Wann ahnten Sie, dass die Weichen Richtung Wiedervereinigung standen?

Nicht am 9. November beim Mauerfall - wohl aber am 19. Dezember in Dresden bei der Rede Helmut Kohls. Man muss sich vorstellen: Da kommt ein Staatsgast, der Bundeskanzler, in die DDR, und die DDR-Führung lässt ihn mit der eigenen Bevölkerung alleine, weil sie offensichtlich die Gleichzeitigkeit des Beifalls für Kohl und der Pfiffe für sich selbst fürchtete. In der Nacht waren wir überzeugt: Es hat überhaupt keinen Sinn, noch weitere Absprachen mit der DDR zu treffen - mit einer Ausnahme: möglichst schnell freie Wahlen herbeizuführen. Wir waren sicher: Wenn die Menschen in der DDR frei entscheiden können, werden sie sich nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die Einheit entscheiden. 

Bei der Kundgebung in Dresden bekräftigte Kohl das Ziel der Einheit mit der Einschränkung: Wenn die geschichtliche Stunde es zulässt. Welche Hürden hielten Sie damals für die höchsten?

Kohl hat nach seinem Zehn-Punkte-Programm vom 28. November zur Einheit berichtet, dass noch nie auf einem EU-Gipfel die Stimmung so eisig gewesen sei wie bei dem Treffen der Regierungschefs in Straßburg Anfang Dezember. Mitterrand hatte damals noch Vorbehalte, von Andreotti stammt der Spruch „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich am liebsten zwei davon habe“, die Niederländer waren alles andere als begeistert, Margaret Thatcher war dagegen. Das heißt: Wir waren Ende des Jahres überzeugt, dass es mit der DDR zu Ende geht, aber natürlich mussten die Bedenken im Westen ausgeräumt werden - und auch der damals noch vorhandene Widerstand von Gorbatschow und Schewardnadse.

Im Februar 1990 ging dann alles ganz schnell: Die Verhandlungen über eine Währungsunion mit der DDR wurden auf den Weg gebracht.

Das war ganz wichtig, weil die DDR auszubluten drohte. Denn der Übersiedlerstrom hörte nicht mit dem Mauerfall auf, sondern erst, als die Menschen mit dem Angebot der D-Mark die Perspektive einer möglicherweise schnellen Wiedervereinigung erkannten.

Ebenfalls im Februar signalisierte Gorbatschow prinzipielle Zustimmung zur Einheit, die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen wurden beschlossen. War der Einheitsprozess damit nicht im Grunde schon vor der Volkskammerwahl vom März unumkehrbar?

Die Volkskammerwahl hat den Prozess zumindest sehr beschleunigt, weil für die ganze Welt erkennbar war: Die DDR will die deutsche Einheit.

Nach dieser Wahl wurden ostdeutsche Volksvertreter im Westen gerne als „Laienspieler“ betrachtet. Welchen Eindruck hatten Sie von den neuen DDR-Vertretern?

Ich muss auch im Nachhinein sagen, dass ich voller Respekt bin vor den Volkskammerabgeordneten. Wir Westdeutschen kannten uns aus mit parlamentarischen Fragen, mit Regierung und Opposition, mit der Behandlung politischer Entscheidungen in einer Demokratie. Das war in der Volkskammer ja nicht vorhanden. Und wie etwa der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière die Probleme angepackt hat, oder sein Unterhändler Günther Krause beim Einigungsvertrag - da kann ich nur sagen: Hut ab! Wenn das Laien waren, haben sie sich aber sehr professionell verhalten.

Gab es 1990 Entscheidungen, die Sie im Nachhinein als Fehler sehen? 

Wir hatten keine Schubladenpläne für den Weg zur Einheit - zu Recht, denn hätten wir solche Pläne gehabt, wäre das bekannt geworden und hätte die Entspannungspolitik torpediert. Bei den Verträgen von 1990 waren die Grundentscheidungen richtig - etwa, statt auf eine neue Verfassung auf den Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz zu setzen, was auch die DDR wollte. Für eine neue Verfassung hätten wir viel Zeit gebraucht, und dann wäre bei den Großmächten der Resonanzboden für die deutsche Einheit nicht mehr da gewesen. Unterschätzt haben wir die schwierige Wirtschaftslage, und einiges musste nachgebessert werden, etwa beim Thema „Rückgabe und Entschädigung“ oder bei der Arbeit der Treuhand.

Der Einheitseuphorie folgte Ernüchterung: Dem Westen dämmerte, dass das Ganze ziemlich teuer wird; im Osten machte sich das Gefühl breit, von den Wessis „plattgemacht“ zu werden. Können Sie das nachvollziehen?

Wir haben damals die katastrophale ökonomische und ökologische Hinterlassenschaft der DDR unterschätzt. Das Ausmaß dieser Katastrophe haben auch die Geheimdienste nicht erkannt, die Amerikaner nicht, die Wirtschaft nicht. Die OECD zählte die DDR noch im Sommer 1990 zu den zehn wirtschaftsstärksten Nationen der Welt. Weil wir das unterschätzt haben, ist der Aufbauprozess ein Stück langsamer gelaufen. Nicht erkennbar war damals auch das Auseinanderbrechen der Sowjetunion, womit die Ostmärkte praktisch wegbrachen, was die Lage zusätzlich erschwerte. Es sind damals auch Übererwartungen aus dem Westen geweckt worden, die später zu Enttäuschungen geführt haben. Und es waren ja nicht nur Lichtgestalten, die aus dem Westen plötzlich in die DDR kamen, um dort ihre Geschäfte zu machen.

Wurden die Ressentiments zwischen Ost und West durch die Folgen des Transformationsprozesses im Osten befördert?

Ich habe 1992 in einem Vortrag gesagt, die Umwandlung einer über 40 Jahre gewachsenen, sozialistischen, zentralistischen, planwirtschaftlichen Kommandowirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft sei ein gigantisches Unternehmen - nicht nur eine wirtschafts- und finanzpolitische, sondern viel mehr noch eine geistige und kulturelle Herausforderung. Über viele Jahrzehnte sind die Menschen in unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen - dort eine Diktatur, hier eine freie Gesellschaft - aufgewachsen: Dass das Zusammenwachsen dieser Menschen psychologisch nicht einfach gewesen ist, liegt auf der Hand. Dazu hat es viel Verständnis für die jeweils andere Seite bedurft, das nicht immer da gewesen ist. Vielen im Osten ging der Aufbau auch nicht schnell genug, während es im Westen Verständnislosigkeit gab nach dem Motto „Wir geben doch so viel Geld dahin...“

Sind sich Ost- und Westdeutsche mittlerweile nähergekommen?

Dass beispielsweise so viele Westdeutsche noch nie in den neuen Ländern waren, kann nur negativ beurteilt werden, darf aber auch nicht überbewertet werden. Es gab vor wenigen Wochen eine Umfrage unter 18- bis 25-Jährigen, bei der 90 Prozent angaben, sich nicht als West- oder als Ostdeutsche zu betrachten, sondern als Deutsche. Das führt vielleicht auch zu der Erkenntnis, dass das Zusammenwachsen der Menschen in Deutschland - das wirkliche, verständnisvolle Zusammenwachsen - nicht nur Aufgabe einer Generation ist, sondern länger dauert.

Welche Bilanz würden Sie heute, nach 20 Jahren Einheit und Aufbau Ost, ziehen?

Betrachtet man die Schlussbilanz der DDR, die weit über ihre Verhältnisse gelebt hat, die die Umwelt flächendeckend zerstört hat, Innenstädte verfallen lassen und die Menschen - als Preis für soziale Sicherheit auf niedrigem Niveau - in Unmündigkeit gehalten hat: Wenn man diese Schlussbilanz vergleicht mit dem, was heute entstanden ist mit vielen blühenden Landschaften - noch nicht überall, aber doch viele blühende Landschaften -, dann ist das eine ganz große Leistung, die vom Osten und vom Westen erbracht worden ist. Auch wenn wir wissen, dass noch viel Arbeit bevorsteht, kann doch eine sehr positive Bilanz gezogen werden. 

(sto)