1. Untersuchungsausschuss

Angela Merkel: Deutsche Beteiligung am Afghanistan-Einsatz war richtig

Ein weiterer Evakuierungsflug aus Kabul landet mit 66 Personen und Material während der Evakuierungsoperation in Taschkent/Usbekistan am 20.08.2021.

Landung in Taschkent (Usbekistan) nach dem Evakuierungsflug aus Kabul mit 66 Personen und Material am 20. August 2021 (© Bundeswehr/Marc Tessensohn)

Zeit: Donnerstag, 5. Dezember 2024, 12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal (4.900)

In der letzten öffentlichen Beweisaufnahmesitzung des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan ist die ehemalige Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) als letzte Zeugin aufgetreten. In ihrer Aussage zog sie über den Untersuchungszeitraum hinaus eine Bilanz des gesamten Einsatzes, die auch kritisch ausfiel. Der Ausschuss untersucht die Ereignisse zwischen der Unterzeichnung des Doha-Abkommens im Februar 2020, mit dem die USA und die Taliban den Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan regelten, und der chaotischen Evakuierung am Flughafen von Kabul im August 2021.

“Evakuierung war ein furchtbares Scheitern„

In ihrem Eingangsstatement führte Angela Merkel detailliert und systematisch dazu aus, wann in welcher Konstellation über die Situation in Afghanistan und die Ortskräfte gesprochen wurde. Dass man Afghanistan damals auf der Flucht vor den Taliban habe evakuieren müssen, sei “ein furchtbares Scheitern„ gewesen.

Sie halte die deutsche Beteiligung an dem Militäreinsatz in Afghanistan allerdings auch im Rückblick für richtig, sagte Merkel. Damals habe es die “begründete Hoffnung„ gegeben, dass danach keine weiteren Terrorangriffe von Afghanistan aus geplant werden würden. Bei allen anderen Zielen von der Rechtsstaatlichkeit bis zu den Frauenrechten “müssen wir, muss die internationale Gemeinschaft feststellen, gescheitert zu sein„, führte sie weiter aus. 

Als Ursachen für dieses Scheitern nannte sie unter anderem mangelndes kulturelles Verständnis der westlichen Verbündeten, Vetternwirtschaft und Rauschgifthandel. Auch habe man wohl die geopolitische Lage des Landes und den Einfluss Pakistans auf das eigene Engagement nicht ganz richtig eingeschätzt. 

“Taliban haben sich ein Vetorecht erarbeitet„

Zum Doha-Abkommen sagte Merkel, sie sei “immer sorgenvoll über die festgelegten Zeitfestlegungen gewesen„, die so starr gewesen seien, “dass man nicht prüfen konnte, ob die Ziele erreicht wurden„. Der damalige US-Präsident Donald Trump habe die afghanische Regierung nicht mehr als relevanten Akteur angesehen. Auch die innerafghanischen Friedensverhandlungen seien zu keinem belastbaren Ergebnis gekommen, da die Taliban sich ein Vetorecht erarbeitet hätten und nur hätten abwarten müssen.

Merkel skizzierte, dass die Bundesregierung im Sommer 2021 vor einem Dilemma gestanden habe. “Ich fand es richtig, dass wir für bestimmte Menschen, die uns sehr geholfen haben, eine Fürsorgepflicht hatten„, sagte sie. Deshalb habe sie das Ortskräfteverfahren (OKV) immer unterstützt. Zurückhaltend sei sie jedoch gegenüber einer zu frühen Ausreise der Ortskräfte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gewesen, weil sie den Sieg der Taliban nicht vorwegnehmen wollte. “Ich möchte aber nicht missverstanden werden„, ergänzte sie, “wir sind nach Afghanistan gegangen, unsere Soldatinnen und Soldaten sind dort gestorben. Es sollte sich nicht ins Gegenteil verkehren, dass wir uns schuldig fühlen.„

“Frage der Ortskräfte gewann an Bedeutung„

Im Juni 2021 habe die Frage der Ortskräfte an Bedeutung gewonnen, führte die Ex-Kanzlerin aus. Es sei diskutiert worden, wie die Ausreise der Personen beschleunigt werden könne, die bereits ein Visum hatten. Sie habe den Vorschlag der damaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) unterstützt, Charterflüge zu organisieren. Diese Idee sei jedoch nicht umgesetzt worden, da es nicht genug Betroffene gegeben habe. Zu diesem Zeitpunkt hätte es noch Linienflüge gegeben. Falls diese nicht mehr möglich gewesen wären, sollte die Option für Charterflüge weiterhin offen bleiben, so Merkel.

Im Juni 2021 sei in einem Ministergespräch beschlossen worden, den Berechtigtenkreis auf Personen auszuweiten, die seit 2013 tätig gewesen waren, wie es Kramp-Karrenbauer gefordert hatte. Das Auswärtige Amt (AA) und das BMZ hätten sich dagegen ausgesprochen. Auf die Richtlinienkompetenz angesprochen, erläuterte Merkel, dass sie sich stets um einen gemeinsamen Konsens im Kabinett bemüht habe.

Entsendung eines Krisenunterstützungsteams beschlossen

Am 13. August 2021 habe der damalige Chef des Bundeskanzleramtes (BKAmt), Helge Braun (CDU), sie über die dramatischen Entwicklungen in Kabul informiert. Später habe auch Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer sie angerufen, die sehr gut informiert gewesen sei. Am nächsten Tag habe eine Telefonkonferenz mit allen Ministern stattgefunden, in der über die Situation am Flughafen von Kabul und die Entsendung von deutschen Soldaten und Polizisten gesprochen wurde. Dort sei zunächst die Entsendung eines Krisenunterstützungsteams beschlossen worden.

Am 15. August sei der afghanische Präsident Aschraf Ghani aus dem Land geflohen, und die Taliban hätten die Herrschaft übernommen. Daraufhin habe die Evakuierungsmission begonnen. Sie habe erst später erfahren, dass die deutschen Vertreter vor Ort die Sicherheitslage ganz anders einschätzten als das in Berlin der Fall gewesen sei. Ihr seien auch keine Entscheidungen der Staatssekretärsrunde bekannt, die die Arbeit der Ministerien zu Afghanistan koordinierte.

“Lageentwicklung am 15. August überraschte den BND„

Vor der ehemaligen Kanzlerin befragte der Ausschuss den ehemaligen Leiter des Bundeskanzleramtes, den CDU-Abgeordneten Prof. Dr. Helge Braun. Braun, verteidigte den Bundesnachrichtendienst (BND) gegen Kritik und erläuterte zudem, wie die Arbeit im Bundeskanzleramt strukturiert war und wie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel über wichtige Themen informiert wurde.

Braun, der als Chef des Kanzleramtes auch für die Koordinierung der Nachrichtendienste zuständig war, erklärte, dass nach seinem Eindruck der BND bis zuletzt über sehr gute Informationsquellen verfügte, “insbesondere in die afghanische Regierung und die Taliban hinein„. Daher habe er damals keinen Zweifel an der Qualität der Berichte gehabt. Dass durch den Abzug der Bundeswehr die Informationsquellen des Dienstes ausgedünnt wurden, habe er später in der Zeitung gelesen.

Dennoch verteidigte er den BND gegen die Vorwürfe, er habe nicht rechtzeitig oder fehlerhaft informiert. Bereits im Jahr 2020 habe der BND mögliche Szenarien in Afghanistan, mit drohenden Kipppunkten versehen, analysiert. Doch die Lageentwicklung am 15. August dem Tag, an dem die Taliban in der afghanischen Hauptstadt Kabul einmarschierten habe auch den BND überrascht. Mit dem Verlassen der sogenannten “Green Zone“ durch die US-Truppen und der Flucht des damaligen afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani seien gleich zwei Kipppunkte eingetreten. Selbst die Taliban seien überrascht gewesen, sagte Braun.

„Druck in den USA für den Truppenabzug“

Grundsätzlich seien alle Vorlagen, auch jene zu Sitzungen, an denen er nicht teilgenommen habe, über seinen Tisch gegangen. Die Bundeskanzlerin sei regelmäßig durch diese Vorlagen informiert worden. Auch bei den Geheimdienstinformationen sei der reguläre Weg eine schriftliche Vorlage einer Abteilung im BKAmt, in die alle Erkenntnisse des BND eingeflossen seien. Braun schloss nicht aus, dass die Analysen des BND nicht direkt an Merkel weitergeleitet wurden. 

Dennoch seien die Perspektiven in Afghanistan stets thematisiert worden. Er habe sehr früh von dem BND-Szenario „Emirat 2.0“ erfahren, dessen Eintritt sei jedoch in ferner Zukunft erwartet worden. Auf die Frage, ob auch Merkel von diesem Szenario Kenntnis hatte, wollte er keine Antwort geben. „Am besten fragen Sie sie selbst“, empfahl er den Abgeordneten. 

Das Doha-Abkommen sei während des US-Wahlkampfs ausgehandelt worden, erklärte Braun. Dabei habe man erkannt, dass es in der US-Gesellschaft großen Druck gegeben habe, die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Diese Erkenntnis sei alarmierend gewesen. Deshalb habe man von Anfang an versucht, den Abzug mit innerafghanischen Friedensgesprächen zu verbinden.

„Visa-on-Arrival ein unbürokratisches Verfahren“

Braun erinnerte sich, dass das Thema Ortskräfte ab April 2021 virulent geworden sei und sich im Juni noch zugespitzt habe. In dieser Zeit habe das OKV nicht zufriedenstellend beschleunigt werden können. Daher sei es im August 2021 notwendig geworden, sich täglich mit diesem Thema zu befassen.

Als für diejenigen Ortskräfte, die noch kein Visum hatten, alternative Wege der Evakuierung diskutiert wurden, habe das Auswärtige Amt sehr früh „Visa-on-Arrival“ (VoA), also die Visaausstellung an der deutschen Grenze, gefordert, so Braun. Er bezeichnete VoA als ein „unbürokratisches Verfahren“. Es sei jedoch auch ein Notfallverfahren. Das Bundesinnenministerium (BMI) habe Bedenken gegen dieses Verfahren gehabt, weil dabei Visa ohne vorherige Sicherheitsprüfung ausgestellt würden. „Das ist der Grund, warum VoA nicht gleichwertig mit dem Regelverfahren ist“, sagte der Zeuge.

Anfangs habe auch er die Überzeugung vertreten, „dass es möglich sein muss, in stabileren Zeiten reguläre Visaverfahren durchzuführen“. Als sich die Entwicklung in Afghanistan zuspitzte, habe er jedoch „auch dem BMI gegenüber deutlich gemacht, dass VoA nicht abgelehnt werden sollte“.

Entscheidungen meist in Ministergesprächen

Die meisten bedeutenden Entscheidungen seien in Ministergesprächen getroffen worden. So habe sich die Bundeskanzlerin auf Bitten der damaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer für Charterflüge eingesetzt, um diejenigen Ortskräfte, die bereits ein Visum hatten, auszufliegen. Merkel sei mit allen beteiligten Ministern übereingekommen, dass Charterflüge durchgeführt werden sollten. Diese Idee sei jedoch später auf Arbeitsebene nicht mehr weiterverfolgt worden, da die infrage kommende Personenzahl so gering gewesen sei, dass auch Linienflüge ausgereicht hätten.

Ebenso sei in einem Ministergespräch die Erweiterung des Berechtigtenkreises beschlossen worden. Es habe breiten Konsens gegeben, dass die Ortskräfte „mit deutschem Geld Gutes für ihr Land tun könnten“. Hier habe Merkel die Entscheidung herbeigeführt.

Mit der Sitzung am 5. Dezember ist der Beweisaufnahmeprozess abgeschlossen. Nun wird ein Bericht über die Arbeit und die Erkenntnisse des Ausschusses verfasst, der noch vor der Bundestagswahl 2025 dem Bundestag übergeben werden soll.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. 

Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/06.12.2024)