Soziale Bildung und Teilhabe außerhalb von Bildungseinrichtungen
Zeit:
Mittwoch, 20. März 2024,
15
bis 16.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 2.200
Bildung und Lernen fürs Leben läuft vor allem außerhalb der Schule ab. Diese non-formalen Bildungswelten, vor allem in der Familie, mit ihren Chancen, aber auch Ungerechtigkeiten, stärker in den Blick zu nehmen, forderten die Sachverständigen im öffentlichen Fachgespräch der Kinderkommission des Deutschen Bundestages (Kiko) am Mittwoch, 20. März 2024, zum Thema „Faktoren, die über Bildungs- und Entwicklungschancen entscheiden können: Soziale Bildung und Teilhabe außerhalb von Bildungseinrichtungen“. Es gelte für Kinder ein stabiles seelisches und materielles Umfeld zu schaffen, in dem sie sich entfalten, und ihnen Vertrauenspersonen und Vorbilder an die Seite zu stellen, an denen sie sich orientieren können.
Rauschenbach: Bildung ist mehr als Schule
Bildung ist mehr als Schule, sagte Prof. Dr. Thomas Rauschenbach von der Technischen Universität Dortmund und erinnerte daran, dass Bildungsprozesse lebenslange Prozesse sind, die größtenteils außerhalb der Schulzeit geschehen. Das Weltwissen sei komplexer und dynamischer, als dass es die Schule mit ihrer institutionellen Langsamkeit und ihrem starren Fächerkanon je vermitteln könne. Als Konsequenz daraus müssten Bildungs- und Lernwelten außerhalb der Institution Schule „sensibler wahrgenommen werden“. Diese „non-formale“ „Alltagsbildung“, verstanden als „Lebensführungskompetenz“ lasse sich weder zeitlich noch örtlich oder fachlich eingrenzen. Es handele sich um eine bunte Vielfalt und diese berge enorme Potenziale für die Bildung der Heranwachsenden. „Sich im Tun die Welt anzueignen“ sei zudem stets besser als dies auf rein akademischem Weg, durch das Buch, zu versuchen. Das Problem sei, dass diese non-formalen Lernwelten ungewiss seien. Deren Träger, die Familien, befänden sich in einem Zustand der Fragilität und Überforderung. Außerdem würden die nicht formalen Bildungskontexte soziale Ungleichheiten begünstigen. Bildungschancen hingen von der Herkunft ab.
Die Einrichtung von Ganztagsschulen biete die Chance, dieser Logik zu entkommen. Aber um das zu schaffen dürfe der Bund nicht einfach konzeptionslos Geld für das Ziel der Ganztagsbetreuung ausreichen. Als einzige Begründung dränge sich dann auf, es gehe darum, dass die Eltern in Ruhe arbeiten können.
Statt sich als Gesellschaft dieses Armutszeugnis auszustellen gehöre zur öffentlichen Verantwortung, den Kindern ein Bildungsangebot jenseits der Schule zu schaffen, das sie im Sinne der Alltagsbildung zum Leben in dieser Welt ertüchtige, sie sich selbst entdecken und Leidenschaften für etwas entwickeln lasse. Es müsse sich um einen Ort klar jenseits der Schule und der Hausaufgabenbetreuung handeln, der nicht mit Unterricht assoziiert werde und an dem die Kinder sich wohlfühlen: „wie eine kleine Volkshochschule“. Betreut werden müsse dieser Teil des Ganztagsangebotes durch einen Kern verantwortlicher Fachkräfte - nicht durch Lehrer und nicht durch Ehrenamtliche. Zusätzlich könnten Sportvereine oder Musikschulen an den Nachmittagen Angebote machen.
Siggelkow: Es dürfte uns eigentlich gar nicht geben
Pfarrer Bernd Siggelkow berichtete von seiner Kinder- und Jugendarbeit bei dem Verein „Die Arche“ Kinderstiftung Berlin. Kinder aus schwierigen Familienkontexten liefen seiner Einrichtung leider weiterhin in Scharen zu. Mittlerweile unterhalte man ein ganzes Filialnetz. Dabei arbeite er seit Jahrzehnten darauf hin, seine Einrichtung eines Tages schließen zu können. Aber die Probleme würden eher größer statt kleiner. Dass es eine solche Kinderarmut in Deutschland gebe, könne getrost als Tatbestand „unterlassener Hilfeleistung“ gelten. Die Arche spiegele den „Misserfolg de Gesellschaft. Wir übernehmen eine staatliche Pflichtaufgabe. Es dürfte uns eigentlich gar nicht geben.“ Da vielen Elternhäusern die materielle Sicherheit fehle, sie staatliche Transferleistungen bezögen, stellten deren Lebensumstände kein Vorbild für ihre Kinder dar. Siggelkow schilderte wie diese Familien, wo es oft an dem Grundlegendsten wie einer Mahlzeit fehle, als Kontext außerschulischer Bildung ausfielen und Kinder dort auch vergebens nach einer belastbaren Beziehung suchten.
Die Arche sei in sozialen Brennpunkten wie Berlin-Marzahn unterwegs. Man biete Mahlzeiten und Hausaufgabenbetreuung. Aber die Arche sei mehr als das. „Die Kinder kommen wegen der Probleme mit ihren Eltern.“ Sie fragen neue Mitarbeiter als erstes: „Wie lange bleibst Du?“ und wollen vor allem Beziehungen zu Vertrauenspersonen aufbauen. „Wir holen die Kinder da ab, wo sie stehen.“ Ein Schlüssel aus der Armut sei Bildung. Aber es brauche auch die nötige Grundversorgung. Wer ohne Frühstück in die Schule komme, könne sich nicht in dem erwarteten Maß konzentrieren. Die Bildung der Kinder hänge von den Eltern und deren Möglichkeiten ab. Man müsse mit Förderangeboten helfen, Perspektiven aufzeigen. „Wir schaffen es, abgehängte Kinder bis auf den Arbeitsmarkt und damit in die Gesellschaft hinein zu bringen.“
„Die Arche will Menschen stärken“, sagte Siggelkow, „Kinder brauchen unsere ganze Aufmerksamkeit. Sie gehören in die Mitte der Gesellschaft.“ Man sehe sich als große Familie und investiere, allein spendenfinanziert, jahrelang in die Heranwachsenden. Die Politik forderte der Theologe und Gründer der Arche auf, ein gemeinsames Konzept zu erarbeiten, um die „unglaubliche Chancenungleichheit“ an Schulen zu überwinden. „Warum statten wir das Schulsystem nicht so aus, dass die Kinder gleiche Startchancen haben?“ Für die außerschulische Bildungsteilhabe sei eine „Chancen-App“ denkbar. Mit alimentierten Transferleistungen an Familien dagegen entstünden falsche Vorbilder. Die Kinder hätten dann auch keine Lust mehr auf irgendetwas und betrachteten das Hoffen auf staatliche Unterstützung als ihr Lebensziel. (ll/20.03.2024)