Afghanistan-Kommission wird länger eingesetzt als ursprünglich geplant
Die Arbeit der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ wird auch über die parlamentarische Sommerpause 2024 weitergehen. Mit breiter Mehrheit stimmte der Bundestag am Freitag, 23. Februar 2024, einem entsprechenden Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (20/10374) zu. Einzig die Gruppen Die Linke und BSW enthielten sich ihrer Stimme. Ursprünglich war vorgesehen, dass die von Michael Müller (SPD) geleitete Kommission spätestens im Herbst 2024 ihre Ergebnisse und Handlungsempfehlungen vorlegt. Vor dem Hintergrund der noch bevorstehenden Aufgaben sei dieses Ziel jedoch nicht realisierbar, hieß es in dem Antrag.
Gegenstand der gut 70-minütigen Debatte im Bundestag war auch der Zwischenbericht (20/10400), den die Enquete-Kommission vorgelegt hatte. Neben der Einsicht, dass der Afghanistan-Einsatz mit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 „strategisch gescheitert“ sei, werden darin auch Teilerfolge der deutschen Afghanistan-Politik beschrieben. Die Enquete-Kommission wurde 2022 eingesetzt (20/2570), um die Lehren aus dem deutschen Engagement in Afghanistan für die künftige Außen- und Sicherheitspolitik zu ziehen. Auf dieser Basis sollen Ansätze zur Optimierung des vernetzten Ansatzes als Grundprinzip deutscher Außenpolitik entwickelt werden.
Grüne: Einsätze künftig ganzheitlich ausrichten
In der Debatte dankten alle Rednerinnen und Redner den militärischen und zivilen Einsatzkräften für ihr Engagement und gedachten der Opfer und ihrer Angehörigen. „Das Gedenken mahnt uns zum Handeln. Aus unserer Dankbarkeit müssen Taten folgen“, sagte Schahina Gambir (Bündnis 90/Die Grünen). „Wir stehen zu der Verantwortung, die wir als Abgeordnete mit unseren Entscheidungen tragen.“ Die Arbeit in der Enquete-Kommission zeige, wie erst man diesen Auftrag als Parlament nehme.
Afghanistan und Deutschland waren durch Jahrzehnte des Austausches miteinander verbunden, erinnerte Gambir. Dennoch sei es „nicht gelungen das daraus entstandene Wissen effektiv zu nutzen. Das hatte gravierende Folgen.“ Kritische Entwicklungen wie das Erstarken der Taliban seien nicht rechtzeitig erkannt worden. Der Bundesregierungen mit den beteiligten Ministerien habe ein gemeinsames Ziel gefehlt. Das Parlament sei seinem „Kontrollauftrag nicht ausreichend nachgekommen“. Es müssten „klare und verantwortliche Kommunikationsstrukturen“ geschaffen werden. Internationales Krisenmanagement und Landes- und Bündnisverteidigung, zivile und militärische Einsätze, müssten „ganzheitlich ausgerichtet werden“, sagte Gambir.
Union: Der Einsatz war nicht umsonst
Nicht nur Lehren zu ziehen, sondern auch konkrete Empfehlungen auszusprechen, gehöre zum Arbeitsauftrag der Enquete-Kommission Afghanistan, sagte Peter Beyer (CDU/CSU). Man richte nun den Blick auf das zukünftige vernetze Engagement. Die Arbeit der Enquete werde die Nationale Sicherheitsstrategie ergänzen und Fehlstellen ausformulieren. Viele Erfolge wie die relative Stabilität in Afghanistan und gesellschaftliche Verbesserungen seien durch den Abzug 2021 und durch politische Fehleinschätzungen zunichte gemacht worden. Zu den Erkenntnissen der Arbeit der Enquete gehöre aber auch: „Der Einsatz war nicht umsonst.“
Unter dem, was alles schief gelaufen sei, hätten die Experten in der Enquete die „Beschönigung der Einsatzrealitäten“ sowie Ressortegoismen genannt. „Das Zusammenarbeiten in der Führungsebene muss besser werden.“ Dazu plädierte Beyer für die Schaffung eines effizient arbeitenden Gremiums, „das man nationalen Sicherheitsrat nennen mag“. Begleitet werden müsse die künftige Außen- und Sicherheitspolitik durch eine strategische Vorausschau und permanente Evaluierung laufender Einsätze.
SPD: Politische Ausgrenzung der Taliban war ein Fehler
Zum ersten mal habe der Deutsche Bundestag eine Enquete-Kommission zu einem außen- und sicherheitspolitischen Thema eingesetzt, sagte der Vorsitzende des Gremiums, Michael Müller (SPD). Kein Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik sei umfangreicher, teurer und verlustreicher gewesen. „Trotzdem sind Deutschland und seine Partner mit dem Abzug und der erneuten Machtübernahme der Taliban mit den Zielen und Vorstellungen für ein langfristig stabiles Afghanistan strategisch gescheitert. Der Zwischenbericht wirft ein kritisches, aber differenziertes Bild auf die deutsche Rolle in Afghanistan.“
Der deutsche Einsatzbeschluss sei 2001 unter dem Schock der Terroranschläge gefallen. Die damalige Bundesregierung habe den USA selbstverständlich ihre uneingeschränkte Solidarität zugesagt. Zahlreiche weitere Terroranschläge hätten die Gefahr des Terrorismus vor Augen geführt. Für Politik und Einsatzkräfte habe es wenig Handlungsspielraum und Vorbereitungszeit gegeben. Für das ambitionierte Ziel eines Staatsaufbaus in Afghanistan über die Terrorbekämpfung hinaus habe es an einer langfristigen und realistischen Strategie und an den nötigen Ressourcen gefehlt. Man habe zudem das Land, seine Entscheidungsstrukturen und lokalen Machtverhältnisse nie richtig verstanden. Die Ausgrenzung der Taliban vom politischen Prozess sei ein Fehler gewesen. „Wir müssen in Zukunft früher auf Kritik und Fehlentwicklungen reagieren. Dazu braucht es ein realistisches, ressortübergreifendes Gesamtbild, gerade für das Parlament, das über die Einsätze entscheidet.“
AfD: Staatsumbau war unrealistisch
Jan Ralf Nolte (AfD), erinnerte daran, dass an dem zwanzig Jahre dauernden Afghanistan-Einsatz 93.000 Bundeswehrsoldaten teilgenommen hatten. „59 von ihnen kehrten nicht lebend nach Deutschland zurück. Genau wie drei Bundespolizisten und drei Mitarbeiter deutscher Hilfsorganisationen.“ Am Schicksal dieser Menschen könne man den „wahren Preis des Afghanistan-Einsatzes ablesen“.
Seine Fraktion habe die deutschen Einsatzkräfte „schon vor vielen Jahren von ihren Pflichten in Afghanistan“ entbinden wollen. Die deutschen Einsatzkräfte hätten dennoch in Afghanistan bis zuletzt ihr Bestes gegeben. Nolte unterstrich die konstruktive Zusammenarbeit aller Fraktionen in der Kommission. Insgesamt sei der Afghanistan-Einsatz von den verschiedenen Bundesregierungen deutlich zu positiv dargestellt worden. Es sei „im Kern nicht darum gegangen die Mandatsziele umzusetzen, sondern den USA seine Treue zu beweisen“. Das Ziel eines Staatsumbaus „in einem kulturell ganz fremden Raum“ nach westlichem Vorbild sei „ein unrealistischer Ansatz“ gewesen.
FDP: Der vernetzte Ansatz war kein Erfolg
Die Enquete-Kommission gehe nun in den zweiten Teil ihrer Arbeit über, wende sich den Lehren und Schlussfolgerungen zu, erklärte Christian Sauter (FDP). Der Zwischenbericht sei die Grundlage dafür. „Er zeigt die Erfolge des Einsatzes auf, aber auch, dass dieser am Ende mit der Machtübernahme der Taliban deutlich gescheitert ist“.
„Die Bundeswehr ist Parlamentsarmee. Daher war auch die Aufarbeitung so wichtig.“ Eine umfassende politische Strategie mit realistischen Zielen sowie dafür ausreichende Mittel hätten gefehlt. „Das Spannungsfeld von Staatsaufbau und Terrorbekämpfung wurde nicht hinreichend und langfristig betrachtet.“ Der vernetzte Ansatz habe sich als nicht erfolgreich erwiesen. In der heute definierten Form sei der Begriff zu Beginn der Mission gar nicht vorhanden gewesen.
Zwischenbericht der Kommission
In ihrem Zwischenbericht analysieren die Abgeordneten und sachverständigen Mitglieder den zwanzigjährigen militärischen und zivilen Einsatz Deutschlands in Afghanistan zwischen 2001 und 2021, um daraus Lehren für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu ziehen. Der Bericht bescheinigt Deutschland in Afghanistan Teilerfolge: „Deutschland hat sich als verlässlicher Verbündeter gezeigt.“ Militärische wie zivile Einsatzkräfte hätten sich durch ein hohes Maß an Professionalität ausgezeichnet. Zudem habe es während der Anwesenheit ausländischer Soldaten und Entwicklungshelfer in Afghanistan bedeutende Verbesserungen der Lebensverhältnisse, insbesondere für Frauen und Mädchen, sowie spürbare Verbesserungen in Bereichen der Infrastruktur gegeben.
Dennoch sei der Afghanistan-Einsatz letztlich „mit dem Abzug und der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 strategisch gescheitert, Ergebnisse und gesteckte Ziele dauerhaft abzusichern.“ Um die ambitionierten Ziele eines Staatsaufbaus mit rechtsstaatlichen Institutionen, „selbsttragender Sicherheit“ sowie einer „weitreichenden gesellschaftlichen Transformation“ mit „wirtschaftlichen und sozialen Zukunftsperspektiven“ in Afghanistan zu erreichen, habe allerdings eine realistische und kohärente Strategie gefehlt, hält der Bericht weiter fest. Zu den Defiziten des Afghanistaneinsatzes, die der Bericht aufzeigt, gehören zudem die verglichen mit der ambitionierten Zielsetzung zu geringen zum Einsatz gebrachten Fähigkeiten und Ressourcen, sowohl auf militärischer Seite als auch beim Zivilpersonal.
Außerdem habe es an einem realistischen Gesamtbild der Lage, einer laufenden Bestandsaufnahme sowie einer optimalen Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ministerien gefehlt. Und die am Einsatz beteiligten Akteure hätten schließlich kein ausreichendes Verständnis für Kultur und Geschichte Afghanistans aufgebracht. Die lokalen Machtverhältnisse seien daher falsch eingeschätzt und der steigende Einfluss der Taliban unterschätzt worden. Die Erfahrungen aus der Afghanistanmission, versehen mit Handlungsempfehlungen, für zukünftige Einsätze nutzbar zu machen, ist Arbeitsauftrag der Enquete-Kommission. Im Sommer 2022 wurde die Kommission vom Bundestag auf Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP eingesetzt. Am 19. September 2022 hatte sich das Gremium konstituiert und Michael Müller (SPD), früherer Regierender Bürgermeister von Berlin, zum Vorsitzenden sowie Serap Güler (CDU/CSU) zu seiner Stellvertreterin gewählt. Bis zum Ende der Wahlperiode will die Kommission in einer zweiten Phase, abgeleitet aus den im Zwischenbericht zusammengeführten Erfahrungen aus dem Afghanistan-Einsatz, konkrete Handlungsempfehlungen für das zukünftige Engagement Deutschlands in internationalen Krisenregionen erarbeiten und in einem Abschlussbericht vorlegen.
Antrag von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP
Der beschlossene Antrag zur Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kommission gibt das Ziel vor, dass die inhaltliche Arbeit möglichst bis Ende des Jahres 2024 abgeschlossen wird, „so dass insgesamt ausreichend Zeit und Gelegenheit ist, sowohl die Ergebnisse der Arbeit von Clustergruppen zu beraten als auch die abschließende Bewertung der Kommission und die sachgerechte Gestaltung des Abschlussberichts zu gewährleisten, damit anschließend eine Befassung im Deutschen Bundestag stattfinden kann“.
Teil des Antrags ist zudem eine Bestimmung, nach der das Gremium abweichend von Paragraf 73 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages über die Veröffentlichung der Protokolle seiner nichtöffentlichen Sitzungen selbst bestimmen kann. Begründet wird dies mit den behandelten außen- und sicherheitspolitisch sensiblen Fragestellungen und „den Notwendigkeiten, die sich aus besonders schutzbedürftigen Informationen und Erkenntnissen ergeben“, wie es im Einsetzungsbeschluss heißt. (ll/ste/ahe/hau/23.02.2024)