Karlsruhe: Wahlrechtsreform 2020 ist verfassungsgemäß
Die Wahlrechtsreform von 2020 ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Das hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom Mittwoch, 29. November 2023, verkündet (Aktenzeichen: 2 BvF 1 / 21). Der Bundestag hatte am 8. Oktober 2020 das 25. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (19/22504) auf Empfehlung des Innenausschusses (19/23187) mit den Stimmen der damaligen Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD beschlossen.
216 Mitglieder der damaligen Oppositionsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und FDP hatten das Bundesverfassungsgericht angerufen. Sie hielten die Artikel 1 Nr. 3 bis 5 des Gesetzes für verfassungswidrig, weil sie gegen das Gebot der Normenklarheit sowie gegen die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien verstießen.
„Normenkontrollantrag ist unbegründet“
Konkret ging es um die Überprüfung der Bestimmungen in den Paragrafen 6 Absatz 5 und 6 sowie 48 Absatz 1 Satz 2 des Bundeswahlgesetzes, durch die das Verfahren der Sitzzuteilung bei der Bundestagswahl sowie die Regelung für die Berufung von Listennnachfolgern geändert wurden. Ziel der abstrakten Normenkontrolle sollte es sein, einer zukünftigen Vergrößerung des Bundestages entgegenzuwirken, nachdem dieser nach der Bundestagswahl 2017 auf 709 Abgeordnete angewachsen war.
Der Senat urteilte, der Normenkontrollantrag sei zulässig, aber unbegründet. Die genannten Regelungen im Bundeswahlgesetz seien sowohl mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot als auch mit den Grundsätzen der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien vereinbar. Die Entscheidung sei mit fünf zu drei Stimmen ergangen, wobei die Vizepräsidentin des Gerichts, Prof. Dr. Doris König, und die Richter Peter Müller und Dr. Ulrich Maidowski ein Sondervotum abgegeben hätten.
Sitzzuteilungsverfahren nach der Gesetzesänderung
Wie es in dem Urteil heißt, wurde mit den am 19. November 2020 in Kraft getretenen Wahlrechtsänderungen an einem Sitzzuteilungsverfahren mit einer ersten und einer zweiten Verteilung festgehalten. Die Regelungen kamen bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 zur Anwendung. In der ersten – rein rechnerischen – Verteilung sei die Gesamtzahl der 598 Sitze des Bundestages den Ländern nach deren Bevölkerungsanteil und sodann in jedem Land die Zahl der Sitze auf Grundlage der zu berücksichtigenden Zweitstimmen den Landeslisten der Parteien zugeordnet worden.
Nach einer Erhöhung der Sitzzahl des Bundestages, die dem weitgehenden Ausgleich von in der ersten Verteilung rechnerisch angefallenen Überhangmandaten diente, seien die Sitze in der zweiten – tatsächlichen – Verteilung bundesweit nach der Zweitstimmenzahl auf die Parteien und sodann innerhalb der Parteien auf deren Landeslisten verteilt worden.
Ausgleich von Überhangmandaten
Wie der Senat ausführt, sah die damalige Änderung des Bundeswahlgesetzes im Wesentlichen vor, dass mit dem Ausgleich von in der ersten Verteilung der Sitze rechnerisch anfallenden Überhangmandaten, die entstehen, wenn die Zahl der von einer Partei in einem Land erzielten Wahlkreismandate die Zahl der für die jeweilige Landesliste ermittelten Sitze übersteigt, erst nach dem dritten Überhangmandat begonnen wird.
Zudem sei in begrenztem Umfang die Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate derselben Partei in anderen Ländern zugelassen worden. Außerdem habe Paragraf 48 Absatz 1 Satz 2 des Bundeswahlgesetzes einen Ausschluss der Listennachfolge für den Fall bestimmt, dass eine Partei in einem Land über Überhangmandate verfügt.
Kein Verstoß gegen Wahlrechtsgrundsätze
Nach Darstellung des Gerichts genügt Artikel 1 Nr. 3 bis 5 des Änderungsgesetzes den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots. Die damalige Fassung des Bundeswahlgesetzes sei hinreichend bestimmt, wie und bis zu welchem Punkt die Sitzzahl des Bundestages zu erhöhen ist, und ebenso hinreichend bestimmt, welche Sitzzahl jeder Landesliste beziehungsweise Partei bei der Erhöhung der Gesamtsitzzahl des Bundestages zu berücksichtigen ist. Bei der Sitzzahlerhöhung in den Wahlkreisen errungene Sitze, die nicht von der Zahl der für die Landesliste in der ersten Verteilung ermittelten Sitze abgezogen werden können, blieben bis zu drei unberücksichtigt.
Das durch das Änderungsgesetz modifizierte Sitzzuteilungsverfahren verstoße nicht gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl in Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 sowie der Chancengleichheit der Parteien in Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes, heißt es weiter.
Wahlrechtsreformen 2020 und 2023
Der Bundestag hatte die damalige Wahlrechtsreform am 8. Oktober 2020 beschlossen. Mit Beschluss vom 20. Juli 2021 lehnte der Zweite Senat einen Antrag der damaligen Oppositionsfraktionen ab, per einstweiliger Anordnung die Anwendung bestimmter Regelungen der Wahlrechtsreform 2020 zu untersagen. Damit konnten die von Bündnis 90/Die Grünen, der Linken und der FDP beanstandeten Regelungen bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 angewendet werden.
Damals hatte der Senat festgestellt, dass der Normenkontrollantrag weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet sei. Es sei nicht von vornherein ausgeschlossen, dass vor allem die Neuregelungen im Paragrafen 6 des Bundeswahlgesetzes gegen das Bestimmtheitsgebot und das Gebot der Normenklarheit verstoßen. Auch hinsichtlich der Verletzung der Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien erscheine der Normenkontrollantrag nicht als offensichtlich unbegründet.
Der Bundestag hat am 17. März 2023 ein neues Wahlrecht beschlossen, als er den Gesetzentwurf von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (20/5370) in der vom Innenausschuss geänderten Fassung (20/6015) mit Koalitionsmehrheit annahm. Darin wird auf die Zuteilung von Überhang- und Ausgleichsmandaten verzichtet. Insofern bezieht sich das Karlsruher Urteil auf eine Rechtslage, die nicht mehr aktuell ist. (vom/29.11.2023)