Geschichte

Vor 70 Jahren: Bundestag ratifiziert deutsch-israelisches Wiedergutmachungsabkommen

Das Bild zeigt einen Blick auf die Mitglieder der israelischen und deutschen Delegation während der Konferenz. Links die israelische Delegation (von vorne): G. Ainar, Angehöriger des israelischen Außenministeriums, Außenminister Moshe Sharett, Präsidiumsmitglied der Conference on Jewish Material Claims against Germany Nahum Goldmann, D.A. Amir, israelischer Gesandter in Haag (verdeckt), und E. Natan vom israelischen Außenministerium. Rechts die deutsche Delegation (von vorne): Dr. Frohwein, Professor Dr. Franz Böhm (verdeckt), Bundeskanzler Konrad Adenauer, Staatssekretär Professor Walter Hallstein und der SPD-Bundestagsabgeordnete Altmaier.

Am Morgen des 10. September 1952 unterzeichneten Bundeskanzler Konrad Adenauer und der israelische Außenminister Moshe Scharett im kleinen Empfangssaal des Luxemburger Stadthauses das sogenannte deutsch-israelische Wiedergutmachungsabkommen. (© picture-alliance / dpa | dpa)

Vor 70 Jahren, am 18. März 1953, ratifizierte der Deutsche Bundestag das Luxemburger Abkommen zur sogenannten „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“. Mit dem am 10. September 1952 durch Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer (CDU, 1876-1967) und Israels Außenminister Moshe Scharett (1894-1965) unter Beteiligung des Präsidenten der Jewish Claims Conference (JCC) Nachum Goldmann (1895-1982) in Luxemburg unterzeichneten „Wiedergutmachungsabkommen“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel übernahm die Bundesrepublik die Verantwortung für die im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen, insbesondere an den Juden. 

Deutschland verpflichtete sich zu Leistungen in Höhe von drei Milliarden DM an Israel als Erstattung der Eingliederungskosten für jüdische Flüchtlinge und 450 Millionen DM für die Jewish Claims Conference zur Unterstützung von Jüdinnen und Juden außerhalb Israels innerhalb von 12 bis 14 Jahren. Darüber hinaus wurde in den Protokollanhängen zum Vertrag festgelegt, dass die Bundesrepublik Entschädigungsprogramme für Individualzahlungen an die betroffenen Opfer selbst gesetzlich regeln sollte, da diese durch die Zahlungen an Israel und die JCC nicht berührt wurden.

Umstrittenes Abkommen

Nur sieben Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und dem Holocaust mit sechs Millionen von den Nationalsozialisten ermordeten Juden ist das Abkommen keine Selbstverständlichkeit. Auf deutscher, wie auf israelischer Seite gab es Gegner des sogenannten Wiedergutmachungsabkommens. In Israel wies vor allem die Opposition um den späteren israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin (1913-1992) und seine konservativ-nationalistische Cherut-Partei Verhandlungen mit dem Land der Mörder kategorisch zurück. Das Abkommen müsste mit allen Mitteln verhindert werden, so die Forderung.

Als in der Knesset im Januar 1952, über die Aufnahme von Verhandlungen diskutiert wurde, gab es tumultartige Szenen. Tausende Demonstranten fanden sich zu Protesten am Parlamentsgebäude ein. Es kam zu zahlreichen Gewaltausbrüchen. Der israelischen Regierung wurde der Vorwurf gemacht Blutgeld anzunehmen. Der Bundesrepublik wurde vorgeworfen, sich von ihren Schulden loskaufen zu wollen. Nach tagelangen Spannungen konnte der israelische Premierminister David Ben Gurion (1886-1973) am 9. Januar die Abstimmung knapp für sich entscheiden. Eine Mehrheit von einundsechzig Abgeordneten hatte für die Aufnahme von Verhandlungen gestimmt, fünfzig dagegen.

Anhänger des späteren israelischen Ministerpräsidenten Begin verschickten, wenige Tage nachdem am 21. März 1952 im niederländischen Wassenaar die Verhandlungen über ein Wiedergutmachungsabkommen begonnen hatten, eine Briefbombe an Adenauer, bei deren Entschärfung am 27. März 1952 ein Brandmeister der Feuerwehr ums Leben kam. Zwei weitere Briefbomben waren an Mitglieder der deutschen Delegation gerichtet.

Adenauer: Zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichtet

In Deutschland hatte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer am 27. September 1951 in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag in Bonn zur Schuld Deutschlands bekannt und die Bereitschaft zu Verhandlungen mit Israel signalisiert. Vorausgegangen waren dieser Erklärung seit 1950 inoffizielle Kontakte zwischen der Bundesregierung, Vertretern des Jüdischen Weltkongresses und der Regierung Israels.

In seiner Regierungserklärung sagte der Bundeskanzler: „Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt. Im Namen des deutschen Volkes sind aber unsagbare Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten, sowohl hinsichtlich der individuellen Schäden, die Juden erlitten haben, als auch des jüdischen Eigentums, für das heute individuell Berechtigte nicht mehr vorhanden sind. Die Bundesregierung ist bereit, gemeinsam mit Vertretern des Judentums und des Staates Israel, der so viele heimatlose jüdische Flüchtlinge aufgenommen hat, eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungsproblems herbeizuführen, um damit den Weg zur seelischen Bereinigung unendlichen Leides zu erleichtern.“

Große Zustimmung für Aufnahme von Verhandlungen im Bundestag

Bei den Sozialdemokraten stieß er mit seiner Erklärung auf offene Ohren. Für seine Fraktion antwortete Paul Löbe (1875-1967), Alterspräsident des Bundestages und Abgeordneter der SPD, auf die Erklärung des Bundeskanzlers. Es sei die Überzeugung der sozialdemokratischen Fraktion, dass Deutschland die sittliche Verpflichtung habe, sich mit ganzer Kraft um eine Aussöhnung mit dem Staate Israel und den Juden in aller Welt zu bemühen. „Und zwar kommt es dabei uns Deutschen zu, den ersten Schritt auf diesem Wege zu tun. Wir Sozialdemokraten werden deshalb den eben angekündigten Schritt der Bundesregierung von Herzen unterstützen und hätten es begrüßt, wenn er schon früher und mit noch größerer Entschiedenheit getan wäre. Die verbrecherischen Machthaber der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft haben die jüdischen Deutschen und die Juden in Europa unmenschlich verfolgt und sechs Millionen Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Greise, nur wegen ihrer jüdischen Abstammung ermordet. Wir wollen dieses unermessliche Leid nicht vergessen.“

Für die CDU/CSU-Fraktion unterstrich Dr. Heinrich von Brentano (1904-1964) mit Nachdruck, das in der Regierungserklärung und zum Teil von Paul Löbe gesagte. Für die FDP-Fraktion sprach Dr. Hermann Schäfer (1892-1966) die Billigung seiner Fraktion aus. Für die Deutsche Partei (DP) begrüßte Dr. Hans-Joachim von Merkatz (1905-1982) die Erklärung der Regierung: „Wir unterstützen sie von ganzem Herzen, denn es gilt, einen Frevel, der wider göttliches und menschliches Recht begangen worden ist, wiedergutzumachen.“

Auch die Zentrumsfraktion vertreten durch Dr. Bernhard Reismann (1903-1982) begrüßte „mit voller Überzeugung und mit Dankbarkeit die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, die den ersten Schritt der Bundesrepublik zur Herstellung geordneter, friedlicher und, wie wir hoffen wollen, freundschaftlicher Verhältnisse zu unseren jüdischen Mitbürgern in Deutschland, in der Welt und insbesondere im Staate Israel darstellen soll“, ebenso wie Dr. Ing. Hugo Decker (1899-1985) für die Bayernpartei: „Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion steht auf folgendem Standpunkt. Wer sich zum Rechtsstaat bekennt, muss sich auch zur Erklärung des Herrn Bundeskanzlers bekennen, sie begrüßen und unterstützen.“

Widerstand gegen Abkommen

Dennoch gab es auch in Deutschland und in den Reihen der Regierungskoalition Widerstand gegen das Abkommen mit Israel.  Vor allem Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU, 1888-1967) hielt die haushaltsmäßige Aufbringung der Wiedergutmachungsleistungen für unmöglich und begründete seine Ablehnung auch damit, dass Zahlungen an Israel die loyale Erfüllung der jüdischen Individualansprüche gefährden könnten, über die – im Rahmen einer Verbesserung und Vereinheitlichung der innerdeutschen Wiedergutmachungsgesetzgebung ebenfalls verhandelt wurden.

Verbreitet war auch die Befürchtung das Abkommen könne eine negative Wirkung auf die Beziehungen zu den arabischen Staaten haben. In der arabischen Welt wurde das Abkommen als Affront gegen die freundschaftlichen Bemühungen gedeutet.

Adenauer: Zwingende moralische Verpflichtung

In seiner Rede zur ersten Lesung zur Ratifizierung des Abkommens im Bundestag, am Mittwoch, den 4. März 1953, unterstrich der Bundeskanzler deshalb noch einmal die Wichtigkeit des Abkommens: „Die Bundesregierung hat das Abkommen abgeschlossen, um einer zwingenden moralischen Verpflichtung des von der Bundesrepublik vertretenen deutschen Volkes nachzukommen.“ Dies sei ein notwendiger Akt der Wiedergutmachung durch das deutsche Volk angesichts „der von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durchgeführten Ausrottungsmaßnahmen gegen das Judentum“.

In seiner Erklärung wies Adenauer auch die arabischen Einwände, Deutschland beziehe mit dem Luxemburger Abkommen im Krieg Israels gegen Palästina Stellung und verletze so die Neutralität, zurück. „Außerdem ist Vorsorge dafür getroffen, dass das Abkommen nicht zur Lieferung von Waffen, Munition oder sonstigem Kriegsgerät an Israel benutzt werden kann“ stellte er dazu klar.

„Auf die heilende Kraft der Zeit bauen“

Zu den Befürchtungen einer Verschlechterung der Beziehungen zu den arabischen Staaten sagte er: „Die Bundesregierung hat sich im Übrigen bemüht, die arabischen Länder über Gründe und Grenzen des Israel-Vertrages aufzuklären und dadurch die entstandenen Besorgnisse zu zerstreuen. Sie hat überdies ihren Willen bekundet, die traditionellen freundschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu der arabischen Welt zu pflegen und weiter auszubauen.“

Zum Abschluss seiner Rede drückte der Bundeskanzler die Hoffnung aus, dass der Abschluss der Verträge zu einem neuen Verhältnis zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volke wie auch zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und dem Staate Israel führen wird. Dabei werde man „nach allem, was vorgefallen ist, Geduld zeigen und auf die Auswirkung unserer Wiedergutmachungsbereitschaft und schließlich auf die heilende Kraft der Zeit vertrauen müssen“, so der Bundeskanzler.

Ratifizierung nur durch Zustimmung der SPD möglich

Dennoch gelang es Adenauer nicht, große Teile seiner Regierungskoalition aus CDU/CSU, FDP und DP von der zwingenden Notwendigkeit dieses Abkommens zu überzeugen. Zwar hatten nach seiner Regierungserklärung vom 27. September 1951 alle Parteien der Regierungskoalition ihre Zustimmung ausgesprochen, die Ratifizierung des Luxemburger Abkommens, am 18. März 1953, wurde jedoch nur durch die uneingeschränkte Zustimmung der SPD-Fraktion möglich.

Von den 360 stimmberechtigten Abgeordneten, die in der namentlichen Abstimmung ihre Stimme abgaben, stimmten mit Ja 239, mit Nein 35. 86 Abgeordnete, viele aus der Regierungskoalition und dem Kabinett, enthielten sich der Stimme. Nicht einmal die Hälfte der Mitglieder der Koalitionsparteien konnte sich zu einer Zustimmung entschließen.

Gewissensentscheidung der FDP

Die FDP hatte die Entscheidung, dem Abkommen zuzustimmen, zur Gewissensfrage gemacht. Vor allem fürchtete sie die negative Wirkung des Abkommens auf die arabischen Staaten.

„Meine Fraktion teilt nicht die Sorglosigkeit der Bundesregierung in dieser Beziehung“, stellte Dr. Walther Hasemann (FDP, 1900-1976) klar und fügte hinzu: „Wir möchten nicht, dass das große Maß an Vertrauen und Freundschaft, das Deutschland seit langer Zeit in der mohammedanischen Welt genießt, unüberlegt verspielt wird.“

Ablehnung der KPD

Geschlossen gegen die Ratifizierung hatte die KPD gestimmt. Sie befürchtete, dass diese Leistung bei den geflohenen Juden nicht ankommen werden.

„Unter dem Namen der Wiedergutmachung erhalten also die Industriellen Israels aus Westdeutschland alles, was sie zum Ausbau ihrer Grundindustrien benötigen. Die Tatsachen beweisen, dass dieses Abkommen mit einer Wiedergutmachung auch nicht das Geringste zu tun hat“, sagte der Abgeordnete Oskar Müller (KPD, 1896-1970) und ergänzte: „Wir lehnen es ab.“

Meilenstein für die deutsch-israelischen Beziehungen

Am 21. März 1953, genau ein Jahr nach dem Beginn der Verhandlungen, wurde das Abkommen im Bundesgesetzblatt verkündet. Die israelische Regierung ratifizierte den Vertrag am 22. März 1953. Wenige Tage später stellte das Bundesfinanzministerium Israel die erste Jahresleistung von 200 Millionen DM aus Haushaltsmitteln zur Verfügung. Ende 1965 lieferte die Bundesrepublik die letzte Warenladung an Israel und zahlte die letzte Rate der 450 Millionen DM an die Jewish Claims Conference.

Nach Abschluss des Abkommens 1965 nahmen die Bundesrepublik und Israel diplomatische Beziehungen auf. Das Luxemburger Abkommen gilt als ein erster, unersetzbarer Meilenstein für die deutsch-israelischen Beziehungen. (klz/10.03.2023)