Geschichte

Vor 60 Jahren: Bundestag bekennt sich zur Hauptstadt Berlin

Die Zonengrenze vor dem zerstörten Brandenburger Tor trennte West- und Ost-Berlin 1957.

Die Zonengrenze vor dem zerstörten Brandenburger Tor trennte West- und Ost-Berlin 1957. (© bpa/mp3: Parlamentsarchiv)

Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands. Was heute selbstverständlich klingt, war über Jahrzehnte der deutschen Nachkriegsgeschichte eine kontrovers diskutierte Frage. Seit seiner ersten Wahlperiode diskutierte auch der Deutsche Bundestag darüber. Vor 60 Jahren, am 6. Februar 1957, traf das Parlament eine historische Entscheidung: Es erkannte Berlin als Hauptstadt an. Dieser Beschluss war Höhe- und Wendepunkt einer Reihe emotionaler Debatten, die sich nicht nur um den Standort Bonn oder Berlin drehten, sondern vielmehr Sinnbild für die ungelöste Deutschlandfrage waren.

Berlin als „natürliche Hauptstadt“

Als die Abgeordneten am 6. Februar 1957 einen Bericht des Ausschusses für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen zur sogenannten Hauptstadtfrage diskutierten, war Bonn Parlamentssitz. Der Parlamentarische Rat hatte die Stadt im Rheinland zum Sitz des westdeutschen Parlaments bestimmt, wenige Tage bevor das neue Grundgesetz 1949 in Kraft trat und damit die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland begründete. Frei von historischen Bürden sollte der Ort vorübergehend Hauptstadt sein - bis sich die gesamtdeutsche Frage gelöst hatte.

Die Interessenkonflikte zwischen den USA und der Sowjetunion hatten zu einer politischen und geografischen Gesamtlage geführt, die Berlin als Hauptstadt vorübergehend unmöglich zu machen schien: aufgeteilt in vier Sektoren unter den Besatzungsmächten USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion, war die Stadt umgeben vom Gebiet der ebenfalls 1949 neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR).

Sinnbild des geeinten Deutschlands

Doch trotz ihrer außergewöhnlichen Situation nahmen die meisten Menschen in Ost und West die Stadt an der Spree immer noch als Hauptstadt wahr. Selbst der Große Brockhaus sprach „nach wie vor“ von Berlin als der Hauptstadt, Bonn hingegen gelte nur als die „vorläufige“ Lösung. In der Frage nach der Hauptstadt Deutschlands zeigte sich acht Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik die Ambivalenz zwischen dem Glauben an die Wiedervereinigung und der immer sichtbareren Teilung in Ost und West.

Genauso wie für viele Bürger war Berlin auch für viele Parlamentarier Sinnbild eines geeinten Deutschlands – trotz ihrer belasteten Vorgeschichte als Hauptstadt des Kaiserreiches und des nationalsozialistischen Regimes. Schon in der ersten Sitzung des Bundestages in Bonn diskutierten die Abgeordneten einen Antrag, der ein Bekenntnis zu Berlin als Hauptstadt forderte und auf fraktionsübergreifende Zustimmung stieß. Politische Institutionen wie der Ausschuss für Berliner und Gesamtdeutsche Fragen oder Zusammenschlüsse wie der Königsteiner Kreis, eine Vereinigung aus Exil-Juristen und -Volkswirten aus der Sowjetischen Besatzungszone, unterstützten eine Politik der Wiedervereinigung.

Kritik an der Westintegration

Zur gleichen Zeit bemühte sich die Regierung Adenauer und besonders der Kanzler selbst, die politische Handlungsfähigkeit der jungen Republik zu erweitern und sie wieder in die globale Politik zu integrieren. Exemplarisch für diese Politik war beispielsweise der Beitritt zur Nato 1954.

Seitens der Opposition brachte ihm das viel Kritik ein: Sie kritisierte, dass Adenauers Politik der Westintegration eine gesamtdeutsche Politik zunehmend erschwere – und er damit auch zu Ungunsten der Hauptstadt Berlin handle.

„Hauptstadtcharakter stärken“ 

Die Debatte am 6. Februar 1957 war daher Höhe- und zugleich Wendepunkt einer Reihe politischer Entwicklungen und Debatten um den Standort Berlin. Die Abgeordneten diskutierten einen Bericht zum Antrag der Oppositionsfraktionen. Die Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), die Freie Demokratische Partei (FDP) und der Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen (GB/BHE) forderten neben der Anerkennung der Hauptstadtfunktion Berlins vor allem, Bundesbehörden und -dienststellen aus Bonn nach Berlin zu verlegen und dadurch den Hauptstadtcharakter der Stadt weiter zu stärken. Zudem solle die Errichtung eines neuen Parlamentsgebäudes gefördert und auch die Verlegung von Bundesministerien nach Berlin angestrebt werden. Nur so können „der gesamtdeutsche Anspruch der Bundesrepublik von Berlin aus eindringlicher und wirkungsvoller geltend gemacht werden“.

Ein Anspruch, den die Bundesrepublik seit ihrer Gründung vertrat, da sie sich als einzige demokratisch legitimierte Volksvertretung verstand. So hatte der Parlamentarische Rat dem Grundgesetz bewusst nicht den Namen „Verfassung“ gegeben, um seinen vorübergehenden Charakter zu unterstreichen. Und auch der Name Bundesrepublik Deutschland sollte die gesamtdeutsche Zukunft hervorheben.

Regierung: Bekenntnis zu Berlin

„Die Bundesregierung hat sich schon mehrfach und ausdrücklich zu Berlin als Hauptstadt eines freien und wiedervereinigten Deutschlands bekannt“, resümierte Dr. Gerhard Schröder (CDU), Innenminister der Regierung Adenauer, in der Debatte vom 6. Februar. Die Förderung von anderen Dienststellen und Institutionen sowie die kulturelle Förderung der Stadt treibe man durchaus voran.

„Eine Verlegung von Bundesministerien nach Berlin kommt zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht in Betracht“, so Schröder. Dies begründete er vor allem mit den vom Grundgesetz vorgegebenen Rechten und Pflichten von Bundestag und Bundesrat; diese könnten mit einer Aufteilung auf zwei Standorte nicht gewährleistet werden.

Brandt: Trennung zwischen dem Westen und Berlin ein Fehler

„Diese Debatte ist nicht in Berlin entfacht worden, sondern im deutschen Westen entstanden“, sagte Willy Brandt als Redner für die SPD-Fraktion. Die meisten hätten sich in den letzten Wochen von der Ungeduld über die Frage der Wiedervereinigung leiten lassen. Doch schon im September 1949 habe „eine überwältigende Mehrheit“ im ersten Bundestag festgestellt, dass „Berlin nach dem Willen des deutschen Volkes Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland und ihre Hauptstadt sein solle“.

Neben einem Stopp der Baumaßnahmen in Bonn forderte Brandt, Ministerien umgehend nach Berlin zu verlegen und die beiden West-Berliner Universität zu fördern, um die Stadt als „geistigen Mittelpunkt zu etablieren“. Eine weitere Fehlentscheidung wie die Trennung zwischen dem „westlichen Bundesgebiet“ und Berlin dürfe nicht noch einmal geschehen.

Die „Berliner Lobby

Mit seinen Forderungen war der Berliner SPD-Abgeordnete nicht allein. Seit 1950 entsandte die Stadt Berlin Vertreter in den Deutschen Bundestag. Sie wurden nicht gewählt, sondern von den Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses nominiert. Die „Berliner Lobby“ bestand aus Mitgliedern aller Fraktionen und setze sich für die Belange der Stadt ein. 1953 starb Stalin und die Berlin-Frage verlor zeitweilig an akuter politischer Brisanz. Dies stärkte die Lage der Stadt: 1954 fand die Wahl der Bundesversammlung gegen den Widerstand Adenauers in West-Berlin statt, zwischen 1955 und 1958 tagte der Bundestag vier Mal in der Stadt. Zur Jahreswende 1956/57 befanden sich mittlerweile 34  Bundesdienststellen mit bis zu 14.000 Beschäftigten in der Stadt.

CDU/CSU betont Sonderstatus Berlins

Berlin sei „immer die Hauptstadt Deutschlands geblieben“, betonte auch Dr. Agnes Katharina Maxsein (CDU/CSU). Jedoch sei der aktuelle Schutz durch die Besatzungsmächte der Garant für die politische Rolle der Stadt, den man wahren müsse: „Wir sind der Meinung, daß der Viermächtestatus mit allen seinen Konsequenzen für uns von höchstem nationalen Interesse ist und daß wir nichts tun sollten, was die Besetzungstruppen veranlassen könnte, ihre Schutztruppen über Helmstedt abziehen zu lassen.“ Man müsse bedacht handeln, um keine Konflikte zu schüren.

FDP und GB/BHE kritisieren Regierung

„Es ist ja nicht die Regierung gewesen, die den Antrag eingebracht hat! Die Opposition kann für sich in Anspruch nehmen, daß, wenn die Linie der Gesamtpolitik nicht in allen Teilen fortgesetzt wird, dann erst recht für Berlin alles getan wird“, sagte der FDP- Abgeordnete Dr. Hans Reif. Man müsse „vorsorgliche Maßnahmen“ ergreifen, damit Berlin in naher Zukunft wieder seine Hauptstadtfunktion wahrnehmen könne.

Die Zeit zum Handeln würde drängen, betonte auch Dr. Johannes Stroche (GB/BHE), und bezog sich dabei auf die Prognose Adenauers, dass die Wiedervereinigung in greifbarer Nähe sei. Außerhalb kleiner „Beruhigungsbonbons in Richtung Kanzlerwahl im Herbst“ müsse die Hauptstadtfunktion Berlins durch die Verlegung von Ministerien und den Bau eines Parlamentsgebäudes ausgebaut werden.

Wendepunkt der Debatte

In der Debatte am 6. Februar ging es letztlich jedoch nur noch um den weiteren Ausbau der Bundespräsenz in Berlin. Durch die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes im November 1956 war eine Annäherung an die Sowjetregierung und die Festigung parlamentarischer Vorgänge in Berlin wieder in den Hintergrund gerückt. Vor diesem Hintergrund äußerte sich Dr. Gerd Bucerius (CDU/CSU) besorgt. Ein Jahr zuvor hatte der Verleger gefordert, Regierung und Parlament endgültig nach Berlin zu verlegen.

„Wir hofften natürlich, daß das große Ziel in zwei bis drei Jahren erreicht sein würde, natürlich immer vorbehaltlich der weltpolitischen Entwicklungen.“ Nun seien die Entwicklungen jedoch anders verlaufen. „Die gewaltsame Niederschlagung des ungarischen Aufstandes durch die Sowjets hat eine scharfe Zäsur in die von uns geplanten Entwicklungen gebracht.“ Es sei nun aber richtig gewesen, angesichts des drohenden Ausbruchs von großen Verwicklungen die eigenen Vorbehalte zunächst zurückzustellen. „Aber wir werden unser Ziel nicht aus den Augen verlieren“, so der Politiker weiter.

Berlin-Bekenntnis

Das Parlament stimmte schließlich für den Antrag der Oppositionsparteien: 515 der 519 Abgeordneten (einschließlich der Berliner Abgeordneten) sprachen sie sich dafür aus, Berlin als Hauptstadt anzuerkennen und die Stadt weiterhin zu unterstützen.

Zudem entschied das Parlament, über die Einrichtung eines Unterausschusses im Ausschuss für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen zu beraten. Dieser sollte prüfen, welche „Bundesorgane, Bundesbehörden und Bundesanstalten“ möglicherweise nach Berlin verlegt werden könnten.

Debatte verliert an Bedeutung

Die Diskussion um und über Berlin bestimmte die junge Republik besonders in den 1950er-Jahren. Doch infolge der politischen Entwicklungen verschwand die Hauptstadtfrage langsam von der politischen Agenda. Unkalkulierbare politische Faktoren hatten dabei erheblichen Einfluss: unter anderem das Ultimatum Nikita Chruschtschows von November 1958. Der Parteichef der Kommunistischen Partei der Sowjetunion versuchte damit, Berlin als Freie Stadt zu organisieren und die Westmächte zum Rückzug zu zwingen.

So stetig, wie sich die Trennung zwischen Ost und West manifestierte, verlor auch das Ziel der Wiedervereinigung und die Debatte um den Standort Berlin im Bundestag an Bedeutung. (lau/31.01.2017)