Leitung des Wirtschaftsministeriums gegen Streckbetrieb
Berlin: (hib/HLE) Innerhalb des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gab es offenbar unterschiedliche Auffassungen zwischen der Fach- und der Leitungsebene über einen Weiterbetrieb der letzten drei deutschen Kernkraftwerke, die eigentlich Ende 2022 endgültig hätten abgeschaltet werden müssen. Vor dem 2. Untersuchungsausschuss, der die Umstände des deutschen Atomausstiegs aufklärt, schilderte ein Zeuge aus dem Wirtschaftsministerium am Donnerstag in der vom Vorsitzenden Stefan Heck (CDU) geleiteten Sitzung, dass der damalige Staatssekretär Patrick Graichen (Grüne) in einem Gespräch seine Vorstellungen zum Streckbetrieb der Kernkraftwerke über das Jahresende 2022 hinaus abgelehnt habe. Dennoch habe Graichen ihn gebeten, seine Vorstellungen in einem Vermerk aufzuschreiben und ihm zu schicken.
Der Zeuge schilderte, er habe einen Streckbetrieb für sinnvoll erachtet, um im Winter 2022/23 Erdgas einsparen zu können, da die Atomkraftwerke dann noch Strom produzieren und Gaskraftwerke ersetzen könnten. Den Streckbetrieb habe er aber nur für möglich gehalten, wenn die Kernkraftwerke ihren Betrieb im Sommer 2022 reduzieren würden. Denn aufgrund eines vom Energiekonzern und Kraftwerksbetreiber RWE stammenden Vermerks habe er angenommen, dass die Brennstäbe ohne Leistungsreduzierung der Kernkraftwerke im Sommer nur noch bis zum Ende des Jahres reichen und sich neue Brennelemente nicht mehr rechtzeitig beschaffen lassen würden. Diese Annahmen von RWE waren aber von anderen Zeugen aus der Kraftwerks- und Atomwirtschaft als unzutreffend dargestellt worden. Graichen sei wohl davon überzeugt gewesen, dass es bei einem Streckbetrieb nur eine Verschiebung des Gasverbrauchs, aber keine Einsparung geben würde, so der Zeuge. Kostenfragen hätten ihn wohl nicht interessiert.
Der Zeuge schilderte, aus energiewirtschaftlicher Sicht hätte ein Betrieb der Kernkraftwerke im Winter mehr Sinn ergeben. Dann wäre der Verbrauch der Gaskraftwerke auf ein Minimum zurückgegangen. Wie groß die Ersparnis an Gas sein würde, konnte er nicht beziffern. Er würde diesen Vermerk genauso wieder schreiben, sagte er. Er habe ergebnisoffen prüfen dürfen. Verbote habe es im Ministerium nicht gegeben.
An dem gemeinsamen Vermerk von Wirtschafts- und Umweltministerium vom 7. März 2022, in dem ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke über das Jahresende hinaus aus Sicherheitsgründen und wegen nicht mehr rechtzeitig beschaffbarer Brennstäbe abgelehnt worden war, sei er nicht beteiligt gewesen, schilderte der Zeuge. Überraschend sei dieser Vermerk für ihn auch nicht gewesen, da es Graichens Position gewesen sei.
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte später die Übernahme der Kernkraftwerke in eine Kaltreserve als Möglichkeit erachtet. Dann wären die Atomanlagen nur bei Bedarf wieder eingeschaltet worden. Der Zeuge vertrat dazu die Auffassung, dass Kernkraftwerke für den Reservebetrieb wegen sehr langer Anfahrzeiten ungeeignet seien. Reservekraftwerke müssten in kürzester Zeit bereit sein.
Ein anderer Zeuge aus dem Wirtschaftsministerium bestätigte, für die Leitung des Ministeriums habe der Reservebetrieb im Fokus gestanden. Eine Reserve wäre rechtlich jedoch schwieriger umsetzbar gewesen. Es handele sich um ein sehr viel komplexeres Unterfangen als bei einem kurzzeitigen Streckbetrieb, bei dem nur Daten im Atomgesetz hätten geändert werden müssen.
Eine Zeugin aus dem Wirtschaftsministerium, die mit Fragen der Versorgungssicherheit befasst war, erklärte, wenn Erdgas wegen des Ausfalls russischer Lieferungen knapp geworden wäre, hätte es eine Option sein können, im Sommer weniger Atomstrom zu produzieren, um im folgenden Winter noch Strommengen zu haben. Aber das sei nur eine Option zum Prüfen gewesen. Ob diese Möglichkeit noch hätte realisiert werden können, sei zum damaligen Zeitpunkt gar nicht klar gewesen.