Geschichte

Vor 130 Jahren: Wilhelm II. setzt Schluss­stein zum Reichs­tags­gebäude

Ansicht des Reichstagsgebäudes von der Ostseite, Fotografie um 1900

Ostseite des Reichstagsgebäudes (um 1900) (© picture alliance/akg-images)

Vor 130 Jahren, am 5. Dezember 1894, hat Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) den Schlussstein zum Berliner Reichstagsgebäude gesetzt. Einen Tag danach trat der Reichstag zum ersten Mal in seinem neuen Haus zusammen. Mit der feierlichen Einweihung hatte das Parlament fast ein Vierteljahrhundert nach der Gründung des Kaiserreichs im Jahr 1871 und der Konstituierung des ersten Reichstages endlich ein eigenes Haus in Berlin. Der repräsentative Bauentwurf stammte vom Frankfurter Architekten Paul Wallot (1841-1912), der den Kaiser auch durch das Gebäude führte.

Plenarsaal für 397 Abgeordnete

Den Mittelpunkt des neuen Baus bildete der reich geschmückte Plenarsaal für 397 Abgeordnete. Zentral über dem Sitzungssaal erhob sich die aus Metall und Glas gearbeitete große Kuppel, deren höchster Punkt 75 Meter hoch aufragte. Durch die Glasdecke und die Seitenfenster dieser Kuppel erhielt der Plenarsaal natürliches Licht.

Allein für die neuartige Kuppelkonstruktion waren 320 Tonnen Stahl verbaut worden. Insgesamt hatte man in zehnjähriger Bauzeit mehr als 32 Millionen Ziegelsteine und 30.000 Kubikmeter Sandstein für das 138 Meter lange und fast 100 Meter breite Parlamentsgebäude verbaut. 24 Millionen Mark hatte der Bau gekostet, die komplett aus den Reparationen beglichen wurden, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 zahlen musste.

Die Vossische Zeitung schwärmte: „Der Kaiserthron ist eine Schöpfung des deutschen Volkes, und darum hat die Vertretung dieses Volkes einen Palast verdient, der in seiner gewaltigen Pracht selbst den Vergleich mit dem alten Königsschloss am Ufer der Spree nicht zu scheuen braucht.“

„Von wirklich monumentalem Charakter“

Zunächst hatte das Parlament des Kaiserreiches noch im Plenarsaal des preußischen Abgeordnetenhauses am Dönhoffplatz getagt. Dieses war jedoch in einem so schlechten baulichen Zustand, dass die Abgeordneten bereits im April 1871 den Beschluss fassten, ein Reichstagsgebäude „von wirklich monumentalem Charakter“ zu schaffen.

Bis zur Fertigstellung des neuen Gebäudes zogen die Parlamentarier im Herbst 1871 in das dafür umgebaute Haus der Königlichen Porzellanmanufaktur in der Leipziger Straße 4.

Langwierige Auseinandersetzung um die Kuppel

Als das Parlamentsgebäude mit der Kuppel 1894 fertiggestellt wurde, lagen zwölf Jahre ständiger Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Instanzen, vor allem mit Kaiser Wilhelm II., hinter dem Architekten. Paul Wallot hatte 1882 im zweiten Wettbewerb für das Reichstagsgebäude von nahezu 200 eingereichten Entwürfen mit seinem Entwurf den ersten Preis erhalten.

Bevor am 9. Juni 1884 endlich der Grundstein gelegt werden konnte, musste er seinen preisgekrönten Entwurf jedoch mehrfach überarbeiten und in der Folgezeit energisch darum kämpfen, die Kuppel, wie geplant, zentral über dem Sitzungssaal anzubringen.

„Dem Deutschen Volke“ erst 1916 angebracht

Kaiser Wilhelm II., seit 1888 als Kaiser im Amt, empfand die Kuppel prinzipiell als Ärgernis, als ein Symbol für die Ansprüche des ungeliebten Parlaments. Zumal sie mit ihren 75 Metern höher war als die Kuppel des Berliner Stadtschlosses mit gerade einmal 67 Metern. Inoffiziell bezeichnete er das Gebäude als „Gipfel der Geschmacklosigkeit“ und „völlig verunglückte Schöpfung“.

Bei der feierlichen Einweihung hingegen lobte der Kaiser das Reichstagsgebäude als Zeugnis deutschen Fleißes, deutscher Kraft und als Denkmal einer großen Zeit. Die Volksvertretung im Reichstag interessierte ihn jedoch wenig. Verhasst waren ihm vor allem die Sozialdemokraten, deren Vertreter im Reichstag saßen. Kaiser Wilhelm II. wollte unabhängig von der Verfassung, vom Reichstag, vom Reichskanzler und vor allem ohne Volksvertretung regieren. Erfolgreich verhinderte er das Anbringen der Giebelinschrift „Dem Deutschen Volke“. Erst während des Ersten Weltkrieges gab Wilhelm II. seinen Widerstand gegen die Inschrift auf, sodass sie Ende 1916 angebracht werden konnte.

Kaiserliches Verdikt als „Reichsaffenhaus“

Abschätzend bezeichnete er den Reichstag auch als „Reichsaffenhaus“. Trotz der für ihn im Reichstagsgebäude reservierten, repräsentativen Hofloge hat der Kaiser den Reichstag nach der Einweihung nur noch einmal, am 5. April 1906, betreten, als Reichskanzler Bernhard von Bülow (1849-1929) einen Schwächeanfall erlitt.

Nicht nur die Sozialdemokraten standen dem Herrschaftsanspruch Wilhelms II. und seinen negativen Äußerungen kritisch gegenüber, auch vielen Liberalen gefiel das selbstherrliche Verhalten des Kaisers nicht.

Reichstag mit eingeschränkten Befugnissen

Auch wenn die Abgeordneten des Reichstages aus allgemeinen (wahlberechtigt waren bis 1919 allerdings nur Männer ab 25 Jahren), gleichen, geheimen und direkten Wahlen nach dem Mehrheitswahlrecht hervorgingen, hatte das gewählte Parlament nur eingeschränkte Befugnisse.

Der Reichstag konnte weder die Regierung kontrollieren noch Einfluss auf die Regierungspolitik nehmen. Der Reichskanzler war nicht dem Parlament verantwortlich, sondern allein vom Vertrauen des Monarchen abhängig, der ihn ernannte und entließ. Zwar konnte die Volksvertretung das Budget der Regierung blockieren, die Abgeordneten durften jedoch nur auf persönliche Einladung des Kaisers zusammenkommen.

Feierliches Zeremoniell mit militärischem Charakter

Wie schon die Grundsteinlegung durch Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) – den Großvater Wilhelms II. – war auch die Schlusssteinlegung geprägt durch den höfischen und vor allem militärischen Charakter des Zeremoniells. Zur feierlichen Zeremonie waren die gesamte Generalität, die kaiserliche Familie, der Hofstaat, Bevollmächtigte der deutschen Bundesstaaten, das Diplomatische Corps, der Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901), die Staatssekretäre des Reiches, die preußischen Minister und schließlich auch die meisten der 397 Reichstagsabgeordneten anwesend. Der konservative Reichstagspräsident Albert von Levetzow (1827-1903), ein Preuße von der Deutschkonservativen Partei, war in der Uniform eines Landwehrmajors der Reserve erschienen.

Eröffnungssitzung im Berliner Stadtschloss

In seiner Thronrede in der anschließenden Eröffnungssitzung des Reichstages im Rittersaal des Königlichen Schlosses in Berlin sagte Kaiser Wilhelm II: „Sie werden Ihre Arbeit in die neue Stätte verlegen, welche durch zehnjähriges ernstes Schaffen als ein Denkmal vaterländischen Fleißes ihrer Vollendung entgegengeführt ist. Möge Gottes Segen auf dem Hause ruhen, möge die Größe und Wohlfahrt des Reiches das Ziel sein, welches alle zur Arbeit in seinen Räumen Berufenen in selbstverleugnender Treue anstreben. Diesen Wunsch empfinde ich besonders lebhaft im Hinblick auf die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Aufgaben, welche unter Ihrer Mitwirkung zur Lösung zu bringen sein werden.“

„Ein großartiger Bau, der seinesgleichen sucht“

Im Anschluss kehrten die Abgeordneten noch einmal zu einer letzten Sitzung in ihr altes Domizil in der Leipziger Straße 4 zurück, bevor sie am 6. Dezember 1894 zu ihrer ersten Sitzung im Reichstagsgebäude zusammenkamen.

„Meine Herren, ein großartiger Bau, der seinesgleichen sucht, weite Hallen, prächtige Säle, anstatt unserer gewohnten einfachen Heimstätte, die wir wegen ihrer Wohnlichkeit, ihrer praktischen Einrichtung, ihrer Bequemlichkeit noch oft vermissen werden, nehmen von heute an den Reichstag auf“, eröffnete der Reichstagspräsident Albert von Levetzow die erste Sitzung im neuen Hause.

Eklat am ersten Sitzungstag

Gleich am ersten Sitzungstag im neuen Plenarsaal kam es zu einem Eklat. Beim Hoch auf den Kaiser verließen die Sozialdemokraten nicht – wie sonst üblich – den Saal. Einige Abgeordnete blieben sitzen.

Die rechten Abgeordneten tobten über die Majestätsbeleidigung. Der Reichstagspräsident empörte sich: „Ich bedaure, dass ich kein Mittel habe, um ein derartiges Verfahren gebührend zu rügen und zu hindern.“

„Mit unserer Ehre und Würde nicht vereinbar“

Selbstbewusst erklärte der SPD-Vorsitzende Paul Singer (1844-1911) im Namen der sozialdemokratischen Fraktion, dass es angesichts der durch den Kaiser geplanten Umsturzvorlage, „die sich gegen uns richtet, wir es mit unserer Ehre und Würde nicht vereinbar erachten, uns an solchen Hochs zu beteiligen“.

Einen Tag zuvor hatte der Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst eine entsprechende Gesetzesvorlage in den Deutschen Reichstag eingebracht, mit der den „gefährlichen, auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Verfassung und Gesellschaftsordnung des Deutschen Reiches zielenden Bestrebungen“ entgegengetreten werden sollte. Gemeint waren hiermit insbesondere die Sozialdemokraten.

Großes öffentliches Interesse am Parlamentsgeschehen

Trotz der eingeschränkten Befugnisse des Parlaments war der Reichstag das Forum, in dem die wichtigen Fragen der Innen- und Außenpolitik verhandelt wurden. Entsprechend groß war das öffentliche Interesse am Parlamentsgeschehen. In den Zeitungen wurden die Reichstagsdebatten abgedruckt. Während die kritische Berichterstattung massiv behindert wurde, war die wortgetreue Wiedergabe der Reden der Parlamentarier erlaubt.

Die Debatten von der Tribüne aus zu verfolgen, wurde zu einer Attraktion, vor allem für Berlin-Besucher. Auf der Besuchertribüne herrschte großes Gedränge. Eigentlich kostenlos, waren die Platzkarten oft nur noch auf dem Schwarzmarkt zu haben.

Etwas über 100 Jahre später, im April 1999, wurde das Reichstagsgebäude Sitz des Deutschen Bundestages. (klz/03.06.2024)

Marginalspalte