Vor 100 Jahren: Inschrift „Dem deutschen Volke“ am Reichstag angebracht
„DEM DEUTSCHEN VOLKE“ – steht auf einer Länge von 16 Metern in 60 Zentimeter großen Bronzelettern unter dem Giebelfries des Reichstagsgebäudes. Vor 100 Jahren, zwischen dem 20. und 24. Dezember 1916, wurde die Inschrift über dem Hauptportal auf der Westseite des Gebäudes angebracht. Mitarbeiter der Berliner Bronzegießerei „S.A. Loevy“, einem jüdischen Familienunternehmen, das die Schriftzeichen auch hergestellt hatte, montierten die Buchstaben. Gestaltet hatte die Schriftzeichen der Architekt und Typograf Peter Behrens.
Einweihung ohne Giebelinschrift
Als der Reichstag am 6. Dezember 1894 zu seiner ersten Sitzung im Reichstagsgebäude zusammentrat, fehlte, anders als in zahlreichen Veröffentlichungen vor der Fertigstellung dargestellt, die Inschrift auf dem dafür vorgesehen Feld unter dem Giebel des Haupteingangs. Das hatte nicht nur in der Presse verschiedene Spekulationen ausgelöst, auch in der Reichstagssitzung am 13. Dezember 1894 bemängelte und hinterfragte der süddeutsche Abgeordnete Friedrich Ludwig von Payer (Demokratische Volkspartei) das Fehlen der Inschrift:
„In den illustrierten Zeitschriften, in den Abbildungen des neuen Hauses, wie man sie uns zu unserer Information von künstlerischer Seite ins Haus, in unsere Heimat gesandt hat, auf welchen das neue Reichstagsgebäude so abgebildet ist, wie es aussehen sollte, nicht wie es aussieht, da haben wir über dem Hauptportal die Inschrift gefunden: ,Dem deutschen Volke'. Wie ich jedoch hierherkam, habe ich diese Inschrift nicht gefunden und ich zerbreche mir seitdem den Kopf, da die Tafel für die Aufnahme der Inschrift so schön hergerichtet ist, was es eigentlich zu bedeuten hat, dass diese Inschrift dort nicht steht.“ Er vermutete, „das sei mit Rücksicht auf die Herren vom Bundesrat geschehen, die in diesem Hause doch auch wohnen müssen“.
Der Platz für die Widmung blieb leer
Unter den Mitgliedern der zuständigen Reichstagsbaukommission hatte sich bisher jedoch keine Mehrheit für die nach den Plänen des Architekten des Reichstagsgebäudes Paul Wallot vorgesehene Widmung gefunden. Andere verschiedentlich vorgeschlagene Inschriften fanden ebenfalls keinen Anklang, weshalb letztlich beschlossen wurde ganz darauf zu verzichten.
Spekulationen, „Seine Majestät der Kaiser“ habe die „Ausführung des Wallotschen Vorschlages“ nicht zugelassen, wies die Reichsregierung in einer Erklärung am 10. Januar 1895 zurück. Tatsächlich hätte er wohl die Formulierung „Der Deutschen Einigkeit“ bevorzugt. Schließlich einigte sich die Kommission am 19. Januar 1895 mit sieben zu fünf Stimmen als Kompromiss auf die Inschrift „Dem Deutschen Reich“. Diese Entscheidung wurde jedoch nie umgesetzt, und der für die Widmung vorgesehene Platz unter dem Giebel blieb weiterhin leer.
Widmung im Ersten Weltkrieg
Erst 20 Jahre später, im Ersten Weltkrieg, gelangte das Thema wieder auf die Tagesordnung. Der Erste Weltkrieg dauerte mittlerweile schon ein Jahr und hatte bereits zu diesem Zeitpunkt unerwartet viele Opfer gefordert. Das Vertrauen in den Kaiser und die Monarchie war angeschlagen.
Nachdem in einem Zeitungsartikel die Anbringung der Inschrift „Dem deutschen Volke“ vorgeschlagen wurde, um dem zunehmenden Vertrauensverlust des Volkes in Regierung und Monarchie entgegenzuwirken, empfahl Arnold Wahnschaffe, ein Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei, die schnelle Übernahme dieses Vorschlags, bevor in der Presse oder im Reichstag wieder eine entsprechende Diskussion aufkäme. Das Erscheinen der Inschrift „würde gut wirken und Seiner Majestät gedankt werden“.
Bronze aus französischen Kanonen
In der Plenarsitzung am 27. August 1915 informierte Reichstagspräsident Johannes Kaempf die Abgeordneten: „Verheißungsvoll möge auch die Inschrift klingen, die auf Anregung und direkten Antrag des Herrn Reichskanzlers (Theobald von Bethmann Hollweg), dem wir dafür Dank schuldig sind, nunmehr an diesem Haus lauten wird: Dem Deutschen Volke.“ Die Abgeordneten reagierten mit lebhaftem Beifall.
Auch Kaiser Wilhelm II erhob keinen Widerspruch und stellte für die Inschrift zwei in den Befreiungskriegen gegen Frankreich (1813 bis 1815) erbeutete Kanonen zur Verfügung. Im Herbst 1916 begannen die Gebrüder Siegfried und Albert Loevy mit der Fertigung von Behrens' Entwurf. Die Bronze wurde eingeschmolzen und die daraus gegossenen Buchstaben fanden 1916 kurz vor Weihnachten ihren Platz über dem Portal. (klz/16.12.2016)