Gesundheitsexperten sehen die zunehmende Digitalisierung in der medizinischen Versorgung grundsätzlich positiv und befürworten den Entwurf der Bundesregierung für das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) (19/13438, 19/13548) in der Zielrichtung. Allerdings sehen vor allem die Krankenkassen erhebliche Probleme bei der Bewertung digitaler Anwendungen (App) und befürchten ein Missverhältnis zwischen Nutzen und Kosten solcher Programme, wie bei der öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses unter der Leitung von Erwin Rüddel (CDU/CSU) über den Gesetzentwurf am Mittwoch, 16. Oktober 2019, in Berlin deutlich wurde. Die Sachverständigen äußerten sich in der Expertenanhörung sowie in schriftlichen Stellungnahmen.
Gegenstand der Anhörung war auch ein Antrag von Bündnis 90/(Die Grünen mit dem Titel „Der Digitalisierung im Gesundheitswesen eine Richtung geben und sie im Interesse der Nutzerinnen und Nutzer vorantreiben“ (19/13539).
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass sich Patienten künftig bestimmte Gesundheits-Apps vom Arzt verschreiben lassen können. Das Verfahren soll unbürokratisch organisiert werden. So soll das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte die App auf Datensicherheit und Funktionalität überprüfen. Ein Jahr lang wird sie dann vorläufig von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erstattet. Während dieser Zeit muss der Hersteller nachweisen, dass seine Anwendung die Versorgung verbessert.
Darüber hinaus soll das digitale Netzwerk ausgebaut werden. Apotheken und Krankenhäuser werden dazu verpflichtet, sich an die Telematikinfrastruktur (TI) anschließen zu lassen. Hebammen und Physiotherapeuten, Pflege- und Rehabilitationseinrichtungen können sich freiwillig anschließen lassen. Die Kosten für die freiwillige Anbindung werden erstattet. Ärzte, die sich nicht anschließen lassen wollen, müssen mit einer höheren Kürzung ihrer Honorare von 2,5 Prozent rechnen.
AOK-Bundesverband fordert effektive Preisregulierung
Der Gesetzentwurf soll auch die Videosprechstunden fördern. Dazu sollen Ärzte künftig auf ihrer Internetseite auf solche Angebote hinweisen dürfen. Um die Papierflut im Gesundheitswesen einzudämmen, wird zudem die elektronische Heil- und Hilfsmittelverordnung eingeführt. Mit einer Anpassung der Honorare soll es für Ärzte attraktiver werden, einen Arztbrief elektronisch zu übermitteln statt mit einem Fax. Der freiwillige Beitritt zu einer gesetzlichen Krankenkasse soll künftig auch elektronisch möglich sein.
Der zu der Anhörung nicht geladene AOK-Bundesverband forderte eine Nutzenbewertung der Apps sowie eine effektive Preisregulierung im Wettbewerb, da hier ein beitragssatzrelevantes Kostenrisiko bestehe. Die digitalen Anwendungen hätten kurze Entwicklungs- und Produktzyklen bei einem minimalen Investitionsaufwand. Dies müsse bei der Preisbildung berücksichtigt werden, andernfalls werde Deutschland ein Hochpreisland für digitale Anwendungen mit intransparentem Nutzen. Sinnvoll sei eine mengenabhängige Preisdegression, da die Kosten für App-Hersteller unabhängig von der Zahl der Nutzer seien, aber pro Nutzer berechnet werden könnten.
GKV befürchtet Fehlanreize für App-Hersteller
Ähnlich kritisch äußerte sich der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband), der durch den Anspruch auf Kostenerstattung für App-Hersteller im ersten Jahr Fehlanreize befürchtet. Angesichts der teilweise monatlichen Entwicklungszyklen und modularen Erweiterbarkeit der Produkte müsse damit gerechnet werden, dass es nach einem Jahr gar nicht mehr zu der geforderten Bewertung der Apps komme.
Der Verband hält es auch für falsch, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte über die Aufnahme von Apps in das Verzeichnis erstattungsfähiger Gesundheitsanwendungen entscheiden zu lassen. Dies sei fachlich und ordnungspolitisch abzulehnen. Für die Hersteller müsse außerdem klar sein, auf welchem Weg ihre Produkte in die Finanzierungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung gelangen könnten. Bei den Firmen handele es sich häufig um Startups ohne Erfahrung in den Strukturen der gesetzlichen Krankenversicherung.
Bundesärztekammer mahnt Datenschutz an
Auch nach Ansicht der Bundesärztekammer fehlen effiziente Verfahren zur Zulassung digitaler Gesundheitsanwendungen. Die spezifischen Bedürfnisse der Patienten und Ärzte würden nicht berücksichtigt, obgleich sie die Kernzielgruppe der digitalen Anwendungen seien. Die Ärzte wandten sich zugleich gegen eine herausgehobene Stellung der Krankenkassen bei der Ermittlung der Versorgungsbedarfe und Diagnosestellung und erklärten, individuelle Versorgungsbedarfe seien Resultat einer vertrauensvollen Patient-Arzt-Beziehung nach gründlicher Anamnese, Diagnose und Indikation.
Der Verband forderte eine klare Regelung der datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit innerhalb der Telematikinfrastruktur sowie für Entwickler verlässliche Rahmenbedingungen zur Erprobung ihrer Technik.
Digitalisierung der Kliniken
Auf technische Umsetzungsprobleme bei der Telematikinfrastruktur machte die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) aufmerksam. Die Leistungserbringer seien auf das Angebot an Soft- und Hardware der IT-Firmen angewiesen und hätten auf die Verfügbarkeit solcher Angebote keinen Einfluss. Insofern könne die Anbindung zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht garantiert werden.
Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) sieht dieses Umsetzungsproblem und forderte zeitlich flexible Vorgaben. Bedauerlich sei zudem, dass die Festlegungen zur elektronischen Patientenakte (ePA) verschoben würden. Dies könne bisher vorgesehene Fristen gefährden. Die DKG forderte ein milliardenschweres Programm des Bundes zur Digitalisierung der Kliniken und einen Zuschlag zum Aufbau des dazu nötigen Fachpersonals.
Gesundheits-Apps auch für psychisch Kranke
Die Forderung der DKG wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege unterstützt. So biete der Gesetzentwurf keine Lösung für den Investitionsstau in gemeinnützigen Krankenhäusern. Die Digitalisierung sei jedoch ohne erhebliche Investitionen nicht zu bewältigen. Eine staatliche Förderung in Form eines Sonderprogramms sei dringend erforderlich. Der Verband forderte ferner, bei der Entwicklung von Apps die Barrierefreiheit zu berücksichtigen.
Wie ein Vertreter der Bundespsychotherapeutenkammer in der Anhörung sagte, können digitale Anwendungen auch für psychisch Kranke eine Hilfe sein, wenn es um die Intensivierung oder Stabilisierung einer Behandlung gehe. Allerdings müsse die Wirksamkeit der Apps nachgewiesen sein, sollten sie nicht funktionieren, könnte auch großer Schaden entstehen.
Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates
Ein Mitberatungs- und Antragsrecht der Länder beim Innovationsfonds zur Förderung neuer sektorenübergreifender Versorgungsformen lehnt die Bundesregierung ab, wie aus ihrer Gegenäußerung (19/13548) zur Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf hervorgeht.
Eine solche Beteiligung der Länder sei nicht sachgerecht, weil die Fördermittel durch die GKV bereitgestellt würden. Zudem gehe es um die Weiterentwicklung der Versorgung insgesamt und nicht einzelner regionaler Versorgungsangebote.
Antrag der Grünen
Die Grünen fordern die Bundesregierung in ihrem Antrag unter anderem auf, eine Strategie zur Umsetzung der Digitalisierung für das Gesundheitswesen auf den Weg zu bringen und dabei auch die digitalen Aktivitäten von Bund und Ländern sowie der Bundesministerien für Gesundheit sowie Bildung und Forschung eng aufeinander abzustimmen. Wichtiger Bestandteil der Strategie müsse auch die Förderung von Digitalkompetenz, Akzeptanz und Vertrauen zur Digitalisierung für das Gesundheitswesen sein.
Zur Begleitung und Koordination dieser Strategie solle die Regierung Governance-Strukturen wie etwa eine öffentlich finanzierte Agentur schaffen und dabei internationale Erfahrungen und Beispiele einzubeziehen. Die Entwicklung und Verbreitung von interoperablen Standards und offenen Schnittstellen im deutschen Gesundheitswesen solle auf der Grundlage international gebräuchlicher Terminologien stärker gefördert werden. (pk/16.10.2019)
Liste der geladenen Sachverständigen
Verbände/Institutionen:
- ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V.
- Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (APS)
- Bertelsmann Stiftung
- Bitkom – Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V.
- Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) e. V.
- Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e. V. (BAG SELBSTHILFE)
- Bundesärztekammer (BÄK)
- Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK)
- Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände - Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. (vzbv)
- Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e. V.
- Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e. V. (bpa)
- BVMed – Bundesverband Medizintechnologie e. V.
- Deutsche Gesellschaft für Telemedizin e. V.
- Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V. (DKG)
- Deutscher Pflegerat e. V. (DPR)
- Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V. (DNVF)
- gematik – Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH
- Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA)
- Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband)
- Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
- Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV)
- Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV)
- Patientenrechte und Datenschutz e. V.
- Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV) e.V.
- TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V.
- Verband der Privaten Krankenversicherung e. V. (PKV)
- Verband der Universitätsklinika Deutschlands e. V. (VUD)
- Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e. V. (ZVEI)
Einzelsachverständige:
- Jörn Gutbier, Diagnose-, Funk-, Umwelt- und Verbraucherorganisation zum Schutz vor elektromagnetischer Strahlung e. V.
- Prof. Dr. Peter Haas, Fachhochschule Dortmund
- Peter Ihle, Universitätsklinikum Köln
- Dr. Wolfgang Riedel, Prognos AG
- Prof. Dr. Dominique Schröder, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
- Robert Spiller, Deutscher Gewerkschaftsbund
- Dr. Elke Steven, Digitale Gesellschaft e. V.
- Dr. Victor Stephani, Technische Universität Berlin
- Prof. Dr. Christoph Straub, BARMER