Zeit:
Donnerstag, 10. Dezember 2020,
15.30
bis 17.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E.300 (sowie Übertragung in PLH E.501/E.502)
Die Forderung „Grundrechte für alle“ lässt sich nicht einfach umsetzen. Zu diesem Ergebnis kamen die Sachverständigen in der Anhörung zu einem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Grundgesetzes (19/5860) im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz am Donnerstag, 10. Dezember 2020. Wie es in dem Entwurf heißt, macht das Grundgesetz bei einigen Grundrechten eine Unterscheidung zwischen Menschen mit und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. So würden die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie das Grundrecht auf Freizügigkeit und die Berufsfreiheit explizit nur Deutschen zugesprochen.
Für Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchtete, die in Deutschland leben, aber die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besitzen, gelte dieser Grundrechtsschutz nicht. Angesichts dieser „ungerechten und ausgrenzenden Verfassungslage gegenüber Nichtdeutschen“ solle in den Artikeln 8, 9, 11 und 12 des Grundgesetzes die Formulierung „Alle Deutschen“ durch die Formulierung „Alle Menschen“ ersetzt werden.
„Problematische Hierarchisierung von Grundrechtsträgern“
Für eine solche Grundgesetzänderung sprach sich Prof. Dr. Tarik Tabbara von der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht in der vom stellvertretenden Ausschussvorsitzenden Prof. Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) geleiteten Sitzung aus. Die Unterscheidung von Deutschengrundrechten und Menschenrechten schaffe auf politisch-symbolischer Ebene eine problematische kategoriale Hierarchisierung von Grundrechtsträgern.
Die Einteilung der Grundrechte im Grundgesetz in Deutschengrundrechte und Menschenrechte folge keiner nachvollziehbaren Logik oder gar einem systematischen Gesamtkonzept, erklärte der Professor. Die Beibehaltung der Deutschenrechte stehe in einem grundlegenden Spannungsverhältnis zur menschenrechtlichen Idee der Grundrechte, und zwar auf politisch-symbolischer Ebene. Sie vermittle eine Botschaft des Ausschlusses und der Zurückstufung, die der integrativen Idee des Grundgesetzes als Verfassung eines offenen Staates widerspreche.
„Realitäten der Migrationsgesellschaft darstellen“
Bafta Sarbo von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland sagte, mit einer Grundgesetzänderung könnten die aktuellen Realitäten in der Migrationsgesellschaft in Deutschland besser widergespiegelt werden. Deutschland sei mittlerweile ein Einwanderungsland, in dem Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen, ihren Lebensmittelpunkt haben.
Diese Menschen sollten auch die Möglichkeit haben, das politische Leben in Deutschland mitzugestalten. Darüber hinaus könnte eine Gesetzesänderung wichtig sein wegen der damit verbundenen Strahlkraft für die politische Arbeit.
„Rechtlich nicht zwingend geboten“
Prof. Dr. Anna-Bettina Kaiser von der Humboldt-Universität zu Berlin erklärte, eine Änderung der sogenannten Deutschengrundrechte des Grundgesetzes in Menschenrechte sei rechtlich nicht zwingend geboten. Der verfassungsändernde Gesetzgeber könne diese Frage vielmehr politisch entscheiden. Ohne Zweifel hätte eine Umwandlung der Deutschenrechte in Menschenrechte nicht nur eine hohe symbolische Bedeutung, sondern würde – aus rechtlicher Perspektive – für Rechtsklarheit sorgen.
Das einfache Recht sehe in den meisten Bereichen keine Differenzierungen zwischen Deutschen und Ausländern mehr vor. Einfachrechtliche Ungleichbehandlungen, die auf die Deutschenvorbehalte gestützt werden, bestünden aber durchaus fort, etwa im Asyl- und Aufenthaltsrecht. Als Vorgehensweise böte sich an, zuerst die Differenzierungen des einfachen Rechts systematisch zu prüfen und rechtspolitisch zu bewerten und erst in einem zweiten Schritt die vorgeschlagene Verfassungsänderung in Betracht zu ziehen.
„Kein rechtspolitischer Handlungsbedarf“
Prof. Dr. Markus Heintzen von der Freien Universität Berlin ging in seiner Stellungnahme ebenfalls davon aus, dass eine Gesetzesänderung verfassungsrechtlich keinesfalls geboten sei. Der Entwurf scheine von einer Verpflichtung des Verfassungsgesetzgebers auszugehen, Deutsche und Ausländer formal gleich zu behandeln. Dies könne man als politische Forderung gutheißen oder ablehnen, so der Professor. Als Rechtsgebot lasse es sich aber selbst bei einer an äußerste Vertretbarkeitsgrenzen gehenden Handhabung der Gleichheitsgebote und Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes nicht darstellen.
Nüchtern juristisch komme er zu der Beurteilung, so Heintzen, dass es keinen rechtspolitischen Handlungsbedarf gibt. Mit Respekt vor den in der Begründung des Gesetzentwurfs genannten Anliegen, Ausländerfeindlichkeit, und Rechtsextremismus entgegenzutreten, empfehle er, es bei der Unterscheidung zwischen Jedermann- und Deutschengrundrechten in Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes als Auffanggrundrecht zu belassen.
„Verfassungsänderung hätte vor allem symbolische Wirkung“
Prof. Dr. Foroud Shirvani von der Universität Bonn erklärte, dass die Konzeption der Autoren des Grundgesetzes, die Grundrechte der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Freizügigkeit und Berufsfreiheit als Deutschengrundrechte auszugestalten, auch heute tragfähig und sinnvoll sei. Eine Verfassungsänderung, wie sie im Gesetzentwurf vorgeschlagen werde, hätte vor allem eine symbolische Wirkung und würde zu gewichtigen Folgeproblemen führen, etwa im Migrations- und im Hochschulrecht.
Auch das Unions- und das Völkerrecht drängten nicht zu einer Verfassungsrevision. Das berechtigte Anliegen des Gesetzesentwurfs, gegen die Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund vorzugehen, lasse sich besser durch andere Mechanismen verwirklichen. (mwo/10.12.2020)