05.07.2024 1. Untersuchungsausschuss — Ausschuss — hib 497/2024

Jan van Thiels Widerspruch löste ein „Aha-Moment“ aus

Berlin: (hib/CRS) Der 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan des Bundestages hat sich in seiner 82. Sitzung hauptsächlich mit der Rolle des Bundesnachrichtendienstes (BND) in der letzten Phase des Afghanistan-Engagements Deutschlands befasst. Zunächst wurde die ehemalige Vizepräsidentin des BND Tania Freiin von Uslar-Gleichen befragt. Die Zeugin war zu einer der Schlüsselfiguren der gesamten Untersuchung geworden, weil bei den bisherigen Zeugenbefragungen der Eindruck entstanden war, dass sie bei der Krisenstabsitzung zwei Tage vor dem Fall Kabuls in die Hände der Taliban, eine Evakuierung der deutschen Botschaft, der Ortskräfte und den Schutzbedürftigen, durch den von ihr vorgetragenen Lagebericht verzögert hätte.

Von Uslar-Gleichen wies diese Vorwürfe in ihrer Aussage entschieden zurück und versuchte das Geschehene aus ihrer Perspektive zu erklären. Demnach habe der BND über Jahre belastbare Lageeinschätzungen geliefert. „Wir haben es nicht für übermorgen vorgesehen, aber perspektivisch beschrieben, dass ein Emirat entstehen würde“ sagte sie. Im Rückblick werde jedoch deutlich, dass das BND die Geschwindigkeit der Machtübernahme der Taliban nicht habe erkennen können.

Andererseits müsse man bedenken, unterstrich die Juristin, dass in dem BND-Lagebericht am 13. August 2021 zwar eine Einnahme der afghanischen Hauptstadt innerhalb von 30 Tagen für nicht wahrscheinlich gehalten worden - damit jedoch ausschließlich eine militärische Eroberung gemeint gewesen sei. „Ich vertraute den Mitarbeitern des BND, dass sie die besten und korrektesten Schlüsse ziehen“, sagte sie, „Sie haben aber nicht vorhergesehen, dass Kabul kampflos übergeben werden würde.“

Sie hätten am 12. August schriftlich fünf Kipppunkte formuliert, führte von Uslar-Gleichen aus, und darauf hingewiesen, dass deren Eintreten die Lage ändern und den Zeithorizont verkürzen würde. „Wir haben nicht gedacht, dass alle Kipppunkte innerhalb von 36 Stunden eintreten würden“, gab sie zu. Im Mittelpunkt des Lageberichtes der besagten Krisenstabsitzung am 13. August habe die militärische Fähigkeit und die Absichten der Taliban gestanden. Sie hätten der Runde berichtet, dass Distrikte in der Fläche fallen und die Taliban der Hauptstadt Kabul immer näherkommen würden. Aber die Taliban hätten kein Interesse gehabt, die Stadt mit einem Häuserkampf zu erobern, da sie die Unterstützung der Bevölkerung hätten gewinnen wollen, meinte die Zeugin. Außerdem hätten auch die US-Partner eine Einnahme vor dem 11. September 2021 ausgeschlossen.

An die Sitzung am 13. August könne sie sich sehr gut erinnern, sagte die ehemalige Vizepräsidentin des BND, weil der deutsche Gesandte in Kabul, Jan van Thiel, dem BND sehr stark widersprochen habe. Er habe gesagt, er sehe das ganz anders, weil er ganz andere Erkenntnisse aus seinen Kontakten mit den US- und britischen Vertretern vor Ort habe. Er habe dem BND zwar pauschal widersprochen und keine konkreten Angaben gemacht, sei dabei aber sehr überzeugt gewesen. Das habe bei ihr ein „Aha-Moment“ ausgelöst. Daraufhin habe sie sich schon am selben Nachmittag an ihre Mitarbeiter gewandt und gebeten, die Lage zu prüfen.

Sie hätten nach einem Bericht aus der Botschaft gesucht, aber keinen gefunden: „Hätten wir gewusst, dass keine abstrakten, sondern konkrete Kipppunkte eingetreten gewesen sind, hätten wir die Lage anders bewertet.“

Auf die Frage eines Abgeordneten, ob sie oder ihre Mitarbeiter versucht hätten, Jan van Thiel direkt zu kontaktieren, antwortete sie: „Ich habe ihn nicht angerufen. Vielleicht hätte ich ihn anrufen sollen. Es ist eine gute Frage, warum ich ihn nicht angerufen habe.“

Der Bericht der damaligen deutschen Botschafterin in den USA, Emily Haber, am 9. August 2021 sei hingegen für den BND sehr relevant gewesen, führte von Uslar-Gleichen aus. Die Analyse der Kipppunkte sei zwar das Ergebnis einer langen Arbeit gewesen, aber die vielen Szenarien, die in diesem Bericht beschrieben worden seien, hätten bei ihnen Aktivität ausgelöst und in der „klaren Formulierung der Kipppunkte ihren Niederschlag gefunden.“ Diese seien dann am 12. August auf Bitte des Bundeskanzleramtes schriftlich niederlegt worden.

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