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„Wir brauchen ein Pflichtjahr für alle – Männer wie Frauen“ – Interview, 15.06.2024

Tageszeitungen liegen aufgefächert auf einer schwarzen Unterlage.

(© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit der Wehrbeauftragten im „Stern“ vom 15. Juni 2024

„Wir brauchen ein Pflichtjahr für alle – Männer wie Frauen“

Frau Högl, Verteidigungsminister Boris Pistorius hat ein neues Wehrdienst-Modell vorgestellt. Kann es die Bundeswehr retten?

Es geht bei dem Wehrdienstmodell nicht darum, die Bundeswehr zu retten. Das vorgeschlagene Modell wird helfen, die Gesellschaft als Ganzes in die Lage zu versetzen, unseren Frieden und unsere Freiheit zu verteidigen. Außerdem kann es dazu beitragen, dass wir weniger Personalprobleme bei der Bundeswehr haben.

Pistorius nennt das „die Gesellschaft kriegstüchtig machen“. Wie glücklich sind mit dem Begriff?

Ich finde es richtig, dass der Verteidigungsminister deutliche Worte findet, um die Lage zu beschreiben. Ich selbst sage lieber verteidigungsbereit.

Weil es weniger militaristisch klingt?

Wir müssen unseren Frieden und unsere Freiheit auch militärisch verteidigen. Das gebietet das Prinzip der Abschreckung. Ein Land, welches auf einen Angriff mit einer hervorragend ausgebildeten und ausgestatteten Armee antworten kann, schreckt auch potenzielle Aggressoren ab. Diese Wahrheit sollten wir nicht mit Sprachkritik verwässern.

Die Bundeswehr soll bis 2031 von rund 181.000 auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten aufgestockt werden. Reicht dafür eine bloße Musterungspflicht mit anschließender Freiwilligkeit?

Freiwilligkeit ist wichtig, aber es braucht perspektivisch auch eine Verpflichtung. Allen muss deutlich werden: Jeder und jede in unserer Gesellschaft muss einen Beitrag leisten. Das schwedische Modell ist da vorbildhaft. Alle sind wehrpflichtig, aber es wird nicht ein ganzer Jahrgang eingezogen. Sondern nur ein Teil aus dem Pool jener, die sich freiwillig für den Wehrdienst melden.

Das stimmt nicht ganz. In diesem Jahr musste Schweden erstmals auch Soldatinnen und Soldaten gegen ihren Willen rekrutieren, weil die Zahl der Freiwilligen nicht reichte. Sollte das auch in Deutschland die Regel sein?

Sollte die Zahl der Freiwilligen nicht reichen, muss es die Pflicht geben. Da bin ich mir mit Boris Pistorius einig. Ich glaube aber wie er, dass zunächst die Pflicht ausreicht, zumindest den Musterungsbogen zu beantworten – anschließend werden sich viele freiwillig zum Wehrdienst melden, sodass wir ausreichend Personal für die Bundeswehr bekommen.

Umfragen zeigen aber, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen für die Rückkehr der Wehrpflicht ist.

Nicht die 16- bis 29-Jährigen, die ja davon betroffen wären. Da lehnen zwei Drittel eine Wehrpflicht ab. Aber auch in dieser Altersgruppe unterstützt eine Mehrheit ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr.

Entspricht die Zielmarke von 203.000 überhaupt noch dem realen Bedarf?

Nein, wir bräuchten viel mehr. Mindestens 100.000 mehr. Andere Militärexperten sagen, man müsste die Zahl verdoppeln. Aber wir tun uns ja schon schwer damit, die 200.000 zu erreichen. Umso wichtiger ist deshalb das neue Wehrdienst-Modell.

Anders als in Schweden wird es in Deutschland keine Musterungspflicht für Frauen geben. Denn dafür müsste man das Grundgesetz ändern. Fehlt dafür der Mut?

Wir brauchen perspektivisch ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für alle, Männer wie Frauen. Das stärkt den Zusammenhalt und tut auch jedem und jeder Einzelnen gut. Der Dienst in der Bundeswehr wäre ein Teil davon. Andere könnten im sozialen Bereich, im Klimaschutz, in der Denkmalpflege oder in anderen Bereichen ihr Dienstjahr absolvieren.

Also, das Grundgesetz ändern?

Ja, aber das wird leider in dieser Legislatur nicht mehr zu schaffen sein. Ich wäre sehr dafür, dass wir es in der nächsten Legislatur sehr schnell angehen.

Wäre ein Wehrdienst mit Pflichtelementen in der SPD überhaupt mehrheitsfähig?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin bei den internen Gremiensitzungen nicht mehr dabei. Ich weiß aber, dass es viele in meiner Partei gibt, wie auch in den anderen Parteien, die für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr oder für ein modernisiertes Wehrpflichtkonzept sind.

Olaf Scholz hat sich in der Vergangenheit gegen eine Wehrpflicht ausgesprochen, zuletzt nannte er den Personalbedarf der Bundeswehr eine „überschaubare Aufgabe“. Hat er Recht?

Der Personalmangel in der Bundeswehr ist ein ernstes Problem und keine Kleinigkeit. Wir müssen jetzt alle Anstrengungen unternehmen, um dieses zu lösen und gute Rahmenbedingungen bei der Bundeswehr zu schaffen, damit sie attraktiv für junge Menschen ist.

Und wie schafft man die? Mit Verlaub, Frau Högl, das haben schon drei bis vier Verteidigungsminister und -ministerinnen vor Boris Pistorius versucht. Warum und wie soll es jetzt gelingen?

Mit modernen, sauberen Kasernen, ausreichend Personal und mit genügend Material. Wenn sie als junger Mensch zu einem Panzerbataillon kommen und dort gibt es keine Panzer, ist das nicht attraktiv. Oder wenn sie Kampfjets fliegen wollen und dann sind nicht genügend da.

Wie soll das gehen, künftig mehr Personal zu rekrutieren, wenn man schon jetzt beim Material und bei der Infrastruktur überfordert ist?

Das muss gehen. Und dafür braucht es viel Geld. Die Bundeswehr muss dauerhaft ausreichend finanziert sein. Wir brauchen mehr Gerät, mehr Uniformen, mehr Ausbilder, mehr Stuben, mehr Truppenküchen, mehr Sportmöglichkeiten. Das ist ein Kraftakt.

Von wieviel Geld sprechen wir? Sie haben im Wehrbericht ein Sondervermögen von 300 Milliarden gefordert. Pistorius hat für den kommenden Haushalt 6,5 Milliarden extra gefordert. Das neue Wehrdienstmodell allein wird vermutlich 1,4 Milliarden Euro pro Jahr kosten…

Ich mische mich nicht in die Haushaltsverhandlungen ein. Aber klar ist: Der Verteidigungshaushalt muss nicht nur stabil sein, sondern ausgebaut werden.

Das funktioniert aber nicht allein durch Einsparungen in anderen Ressorts.

Wahrscheinlich nicht. Aber dafür gibt es ja viele Vorschläge. Ein weiteres Sondervermögen, eine Ausnahme von der Schuldenbremse, mehr Einnahmen durch Steuererhöhungen.

Alles Maßnahmen, die FDP-Finanzminister Christian Lindner bislang ablehnt.

Man wird eine Einigung finden müssen.

Allein die geplante neue Brigade in Litauen zur Stärkung der Nato-Ostflanke wird rund 7 Milliarden Euro kosten. Wie erklären Sie den Menschen, dass Deutschland noch mehr Geld für den Ukraine-Krieg ausgeben muss, während politische Kräfte wie die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht fordern, dass wir das Geld dringend für uns selbst brauchen?

Seit Beginn des Krieges ist die Mehrheit der Deutschen dafür, die Ukraine auch militärisch zu unterstützen. Die Werte mögen leicht schwanken, aber es ist und war immer eine Mehrheit. Und noch etwas: In der Bundeswehr gibt es keine einzige Diskussion darüber, ob die Unterstützung der Ukraine sinnvoll ist. Ich höre da immer nur volle Zustimmung. Obwohl die Hilfe in den eigenen Bestand gewaltige Löcher reißt. Das finde ich stark.

Viele Eltern fragen sich jetzt besorgt: Muss ich mein Kind in den Krieg schicken? Verstehen Sie diese Sorge?

Selbstverständlich. Der Krieg in der Ukraine macht deutlich, was auch der Auftrag der Bundeswehr ist: nicht Amtshilfe bei Hochwasser oder in der Pandemie, sondern dieses Land notfalls im Gefecht zu verteidigen. Unter Einsatz des eigenen Lebens. Ich respektiere alle, die sagen: Ich kann keine Waffe in die Hand nehmen. Für sie muss es andere Verwendungen geben, beim Technischen Hilfswerk, im Krankenhaus oder in weiteren sozialen und kulturellen Bereichen. Zum Dienst an der Waffe wird bei uns niemand verpflichtet. Wir sind aber auch nicht im Krieg. Wir sind im Frieden.

Kritik an einem Wehrdienst mit Pflicht kommt auch aus der Wirtschaft. Dort fürchtet man, dass diese zu einem noch größeren Mangel an Fachkräften führen könnte.

Diese Probleme sehe ich nicht. Die Unternehmen sollten es vielmehr als Vorteil ansehen, wenn ihre jungen Mitarbeiter eine militärische Grundausbildung vorweisen können. Bei der Bundeswehr lernt man Struktur, Kameradschaft, Pflichtbewusstsein, fachliche Qualifikation. Alles Eigenschaften, von denen auch die Wirtschaft profitiert. Ich appelliere außerdem an die Unternehmen, auch den Reservedienst noch mehr zu unterstützen.

Also, Wehrübungen für ehemalige Bundeswehrsoldaten, damit diese im Krisenfall schnell einsatzfähig wären.

Das sind rund 800.000. Auch sie sollen im Zuge des neuen Wehrdienstmodells noch einmal gezielt angeschrieben werden, um sie für diese Übungen zu gewinnen. Dafür ist aber Voraussetzung, dass die Arbeitgeber sie ohne zu Murren freistellen. Leider ist das nicht immer der Fall, auch in der öffentlichen Verwaltung nicht.

Was müsste sonst noch getan werden, um die Reserve der Bundeswehr zu stärken?

Die Altersgrenze muss flexibilisiert werden. Bislang ist es so, dass man ab dem 65. Lebensjahr den Soldatenstatus verliert. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Ein Beispiel: In der Pandemie haben sich frühere Bundeswehrärzte gemeldet und wollten helfen. Weil sie über 65 waren, durften sie aber nicht mehr Reservedienst leisten.

Wo sollte die Altersgrenze liegen?

Ich bin gegen eine starre Altersgrenze. Dass man mit über 90 keinen Reservedienst mehr leisten kann, ist klar. Aber ich würde grundsätzlich sagen: Wer über 65 Jahre alt ist, aber geistig und körperlich fit ist, sollte nach einem Medizincheck auch weiter als Reservist dienen können.

 

Interview: Miriam Hollstein