Parlament

Rede von Michail Gorbatschow

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
Herr Bundeskanzler,
sehr geehrte Parlamentsabgeordnete!

Ich bin schon früher in Berlin gewesen und das nicht nur einmal; ich sprach bei verschiedenen Anlässen. Diesmal ergreife ich das Wort vor den Abgeordneten des gesamtdeutschen Parlaments, und zwar im Gebäude des Reichstages, das in einer bestimmten Zeit für viele eine Konzentration des Bösen darstellte und dessen Fall als Triumph des Guten erschien.

Sehr vieles musste sich verändern, damit das heutige Ereignis stattfinden konnte, damit ich, wie auch Präsident Bush, vor Ihnen, die Sie das vereinigte, demokratische Deutschland vertreten, sprechen können.

Heute feiern nicht nur die Deutschen, sondern alle Europäer, ja die ganze Welt feiert den zehnten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer. Und dies ist verständlich, denn die Berliner Mauer ist eine bedeutsames Symbol. Sie war das Ergebnis eines tiefen Einschnitts in der Weltentwicklung auf dem Scheitelpunkt globaler Prozesse und Widersprüche. Ihre Zerstörung ist das Ergebnis grundlegender Veränderungen in Europa und in der Welt, Veränderungen, die die Interessen und Schicksale des überwiegenden Teils der Menschheit betrafen. Der Weg zu ihrem Fall war lang und qualvoll. Daher habe hier mit großem Interesse und großer Aufmerksamkeit die Reden der Vertreter des vereinten Deutschlands gehört, insbesondere die Reden derjenigen, die diese Ereignisse in der DDR, in Ostdeutschland, erlebt haben.

Heute, aus einem gewissen geschichtlichen Abstand, sind die Ursachen für den Fall der Mauer offenkundiger. Es mussten vor allem in der Sowjetunion, die den Weg zur Freiheit und Demokratie eingeschlagen hatte, grundlegende Veränderungen stattfinden. 1989 haben die sowjetischen Menschen zum ersten Mal in ihrer tausendjährigen Geschichte ihr Recht auf freie Selbstbestimmung verwirklicht. Die Beziehungen zwischen der UdSSR und den Vereinigten Staaten von Amerika mussten sich grundlegend ändern. Dies verdanken wir den unvergleichlichen Bemühungen, der erwiesenen Weitsicht und der Verantwortung sowohl seitens der sowjetischen Führung als auch seitens der Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Ronald Reagan und George Bush. Es mussten demokratische Revolutionen in den Staaten Ost- und Mitteleuropas stattfinden, in deren Verlauf die Völker dieser Staaten ihr Recht auf freie Selbstbestimmung verwirklicht haben.

Zwei Prozesse entwickelten sich gleichzeitig und beeinflussten sich gegenseitig. Zum einen wurde die Konfrontation durch Dialog und Vertrauen ersetzt; zum anderen wurden die Völker, die ihr Selbstbestimmungsrecht erlangten, tätig.

Für die Deutschen bedeutete die Verwirklichung der freien Selbstbestimmung die nationale Einigung. Bei den Deutschen auf beiden Seiten der Mauer war der Drang zur Vereinigung beispiellos. Die Entscheidung der Geschichte, Deutschland nach dem Krieg zu teilen, wurde revidiert. Und damit konnte kein Politiker rechnen, am allerwenigsten einer, der das neue Denken zum Grundsatz seines Handelns gemacht hatte. Aber die Tatsache, dass die Wiedervereinigung gerade damals und gerade auf diese Art und Weise stattgefunden hat, ist ein Verdienst der Völker selbst.

Die Deutschen in Westdeutschland haben Konsequenzen aus der nationalen Katastrophe gezogen, die der Nationalsozialismus und der Krieg gebracht hatten. Sie veränderten sich selbst, liessen sich durch ihre Herzen und Seelen leiten und verwandelten die Bundesrepublik Deutschland in einen demokratischen und friedliebenden Staat. Die westdeutschen Politiker bereiteten konsequent den Boden für die Beseitigung der Folgen des Krieges in den Beziehungen zur Sowjetunion und anderen Ländern.

Die Deutschen in der DDR nutzten nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch auf kultureller Ebene die Möglichkeiten zur Wiederherstellung der guten Beziehungen mit unserem Volk. Dies spielte eine äußerst wichtige Rolle bei der Beseitigung von Missgunst und Feindseligkeit und all den Belastungen und Missständen, die uns der Krieg hinterlassen hatte. Zwischen Tausenden und Abertausenden Deutschen und Russen gestalteten sich wahrhaft freundschaftliche Beziehungen.

Das russische Volk ist seinerseits dem Bestreben der Deutschen nach guten Beziehungen mit offenem Herzen entgegengekommen. Es hatte Verständnis für ihren Willen, in einem vereinten Deutschland zu leben. Die Völker der Sowjetunion haben all diese ruhig aufgenommen, als normalen Vorgang, verbunden mit der Hoffnung auf die einmalige Chance beiderseits nützlicher russisch-deutscher Beziehungen.

Hätte es diese grundlegenden Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland, den Willen ihrer Bürger zur Einheit, den mächtigen Drang zur Einheit in der DDR nicht gegeben, hätten die Politiker nichts ausrichten können. Und wenn ich gefragt werde, wer der größte Held der deutschen Wiedervereinigung sei: Bush, Kohl, Gorbatschow oder sonst jemand, dann sage ich, in Anerkennung unserer gewissen Verdienste, dass die größten Helden das deutsche Volk und das russische Volk waren.

Und dennoch möchte ich hier einige Worte über die Generation der Politiker sprechen, die unmittelbar in alle komplizierten und gefährlichen Wechselfälle der Vereinigung mit einbezogen waren. Es ist dies die Generation, der die Welt die Beendigung des Kalten Krieges verdankt. Großer Respekt gilt meinen Kollegen der damaligen Zeit: Helmut Kohl, mit dem es uns gelungen war, wie er es einmal ausdrückte, „die Geschichte am Schopfe zu packen“; Hans-Dietrich Genscher, mit dem wir die deutsche Frage zu erörtern begannen; großen Respekt zolle ich der Weisheit Richard von Weizsäckers, mit dem ich für das gegenseitige Verständnis äußerst wichtige Gespräche geführt habe. Und natürlich muß man hier an diesem Tag und in diesem Saal den Schöpfer der neuen Ostpolitik, den großen Deutschen Willy Brandt nennen.

Ich bin zutiefst davon überzeugt - und habe auch allen Grund dazu - daß die Rolle von George Bush und James Baker unverzichtbar und groß war. Sie haben der Welt gezeigt, wie Amerika seine nationalen Interessen, seine Macht und seine Autorität zum Wohle der internationalen Interessen einsetzen kann und soll. Ich begrüße heute Herrn Präsident George Bush.

Es ist Ihnen sicherlich aufgefallen, wie wir bei unserem gestrigen Treffen nach Jahren weiter bemüht waren, unsere Beziehungen zu klären, einander spitzfindige Fragen zuzuwerfen. Ja, wir hatten das Privileg, einander zu vertrauen und wir haben gründlich gearbeitet. Dabei haben wir beide nie vergessen, dass hinter jedem von uns das eigene Volk, die eigenen nationalen Interessen standen. Damit war uns eine große Verantwortung auferlegt. Dass wir so waren, dass die Beziehungen sich so entwickelten, wie wir es jetzt sehen, war damals von großer Bedeutung, als wir innerhalb von Minuten und Stunden Entscheidungen treffen mussten. Wir haben uns gestritten, hatten Meinungsverschiedenheiten, manchmal gingen wir im harten Streit auseinander, aber ungeachtet dessen fanden wir Lösungen, die den objektiven Bedürfnissen des Geschichtsverlaufs in dem Augenblick entsprachen.

In Camp David sagte Präsident Bush, als er unsere Position kritisierte, derzufolge das vereinigte Deutschland neutral werden und keinem Bündnis angehören sollte: „Vertrauen Sie Deutschland etwa nicht? Es ist doch eine neues Deutschland?“. Darauf antwortete ich: „Erlauben Sie bitte: Sie wollen das neue Deutschland in der Umarmung der NATO halten. Also vertrauen Sie Deutschland nicht.“ So haben wir die Probleme oft hart diskutiert. Und dann gelangten wir zu dem einzig richtigen Schluss: die Deutschen vereinigen sich, sie sind ein souveränes Volk und bestimmen selbst, wo sie stehen, mit wem sie befreundet sind und welche Beziehungen sie unterhalten möchten. Ich denke, dies war richtig, es war ein richtiger Ansatz, der Früchte trägt.

Schließlich möchte ich Folgendes sagen: die Wiedervereinigung Deutschlands eröffnete vor dem Hintergrund der allgemeinen weltweiten Veränderungen eine Perspektive für den Übergang der Weltgemeinschaft zu einer neuen, friedlichen Etappe der Weltgeschichte. Im November 1990 wurden in Paris die berühmte Pariser Charta und das Wiener Abrüstungsabkommen unterzeichnet. George Bush warf damals die Frage einer neuen Weltordnung auf. Mich hat diese Idee beeindruckt; ich teile allerdings sie auch heute noch. Meines Erachtens verspielen wir gegenwärtig diese Chance. In der Tat wurde in den zwei Jahren nach dem Mauerfall auf den Grundsätzen des Vertrauens, der gemeinsamen Suche nach Lösungen und des gemeinsamen Handelns einiges Konkrete und Grundlegende getan. Und diese Grundsätze wurden in einer so schwierigen Situation wie der Krise am Persischen Golf bereits erprobt. Im Grunde war dies ein Test für die neuen Beziehungen.

Allerdings wurde dieser Prozess durch den Zerfall der Sowjetunion auf tragische Weise unterbrochen. Danach hat man über unser Erbe, denke ich, nicht auf beste Art und Weise verfügt. Ich sehe den Hauptgrund dafür einerseits darin, dass im Westen die Auffassung vertreten wurde, den Kalten Krieg gewonnen zu haben, mit all den daraus resultierenden Folgen, einschließlich der Politik, der Realpolitik. Andererseits lag es daran, dass Rußland aus unterschiedlichen Gründen - darüber können wir heute nicht ausführlich sprechen - in der Weltpolitik nicht jene Rolle spielen konnte, die die Sowjetunion zu Zeiten der Perestroika zu spielen begonnen hatte.

Man kann viel über das Deutschland unserer Tage sagen, aber nicht hier und heute. Den Deutschen fallen die Schritte zur Erfüllung der Wiedervereinigung mit neuen Inhalten nicht leicht. 1992 traf ich mich mit Helmut Kohl, wir saßen mit unseren Ehefrauen in freundschaftlicher Atmosphäre an einem Tisch und unterhielten uns. Er sagte: „Weißt Du, Michail, mit der Wirtschaft ist es schwierig, aber wir werden es, wie es scheint, Schritt für Schritt schaffen.“ In der Tat waren dafür größere Anstrengungen erforderlich als erwartet. Nun ja, Sie wissen, Politik ist schließlich kein Zugfahrplan. Vielmehr haben wir es mit einer Vision, einer Orientierung, einer Wahl zu tun; und der Schaffensprozess selbst gibt manchmal die Antwort darauf, was zu tun ist. Was das Volk anbelangt, so sagte Helmut Kohl, dass die vierzig Jahre der Trennung große Bedeutung hätten: „...denn als wir wieder zusammenkamen, sprachen wir zwar eine Sprache, waren ein Volk, aber wir verstanden einander oft nicht.“ Es wird also eine, vielleicht zwei Generationen dauern, bis die Probleme des neuen, vereinten Deutschlands harmonisch gelöst werden können.

Auch in dieser schwierigen Aufgabe möchte ich Sie unterstützen, Ihren Mut stärken. Als ich gestern abend mit einigen Deutschen sprach, sagte ich: „Ich weiß, Sie haben viele Probleme“, und sie antworteten: „Ja, ja, ja!“ Ich erwiderte: „Darf ich Ihnen eine Möglichkeit anbieten, die Sie sofort beruhigen wird – Tauschen Sie Ihre Probleme gegen die russischen Probleme.“ Alle riefen sogleich: „Nein, nein, nein! Lösen Sie nur Ihre Probleme, wir lösen die unseren.“

Ich denke, dass die Deutschen den größten Teil des Weges schon gegangen sind und auch den Rest bewältigen werden. Ich möchte Ihnen allen, meine lieben Freunde - denn das Parlament repräsentiert das ganze Volk - viel Erfolg bei Ihrer Arbeit wünschen. Ich sehe, wie schwierig sich die Beziehungen innerhalb des nun vereinigten Deutschlands gestalten. Aber so ist das Leben nun einmal. In vielen Fällen bedarf es der Zeit. Wahrscheinlich wird die Lösung der Übergangsprobleme einige Generationen dauern.

Ich will nicht verheimlichen, dass es auch Erscheinungen gibt, die bei mir auf Unverständnis stoßen. Verzeihen Sie mir meine Schwäche, Sie kennen sie, ich spreche immer ehrlich, freundschaftlich, und die parlamentarische Terminologie fällt mir schwer. Und deshalb möchte ich auf freundschaftliche Weise sagen, dass es einige Erscheinungen in Ihrem öffentlichen Leben gibt, die bei mir auf Unverständnis stoßen. Ich meine zum Beispiel das Verhalten des Staates gegenüber einigen Politikern der ehemaligen DDR. Es ist doch sonderbar, dass heute ausgerechnet die Personen der DDR-Staatsführung vor Gericht stehen, die vor zehn Jahren den Beschluß fassten, die Mauer durchlässig zu machen, die Personen, die keinen anderen Weg eingeschlagen und keinen anderen Beschluss gefasst haben.

Abschließend möchte ich sagen, dass das Bild, welches das festliche Berlin unserer Tage bietet, mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass wir in den schwierigen Monaten der Jahre 1989 und 1990, als es um die Wiedervereinigung Deutschlands ging, im großen und ganzen richtig gehandelt haben. Dies gibt uns Hoffnung für die Zukunft.

Dankeschön.