Parlament

Schwabe und Nick: Wach­sam bei Verstößen gegen Europarat-Grundwerte

Zwei Männer sitzen mit Abstand auf einer Bank im Reichstagsgebäude und führen eine Unterhaltuntg, wobei der Mann links einen weißen Mundschutz trägt.

Frank Schwabe (links) und Andreas Nick leiten die Delegation des Bundestages zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates. (DBT/Melde)

Wegen der Virus-Pandemie musste die zweite Sitzungswoche der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (Europarat PV) in diesem Jahr ausfallen, die vom 20. bis 24. April 2020 in Straßburg terminiert war. Die Abgeordneten Dr. Andreas Nick (CDU/CSU), Leiter der Bundestagsdelegation zur Europarat PV, und Frank Schwabe (SPD), stellvertretender Delegationsleiter, sprechen im Interview darüber, wie virtuelle Sitzungen und Online-Abstimmungen den internationalen Parlamentsbetrieb verändern, wie wichtig es ist, dass die europäische Wertebasis nicht einer autoritären Notstandsgesetzgebung geopfert wird, und welchen Beitrag der Europarat leistet, um die gegenwärtige Krise zu überwinden. Das Interview im Wortlaut:

Herr Dr. Nick, die Pandemie hat die Welt fest im Griff. Auch der Europarat ist im „Telework-Modus“. Die Sitzungswoche der Parlamentarischen Versammlung ist ausgefallen, auch andere Sitzungen finden nicht, nur teilweise oder virtuell statt oder werden verschoben. Wie muss man sich die Arbeitsweise der Versammlung jetzt vorstellen?

Wir haben als Parlamentarische Versammlung sehr frühzeitig reagiert und bereits am 6. März alle weiteren Ausschusssitzungen abgesagt, kurz darauf auch die Plenarsitzung, die eigentlich im April in Straßburg stattfinden sollte. Die Region in und um Straßburg war ja schon sehr früh ganz besonders betroffen. Bei Parlamentariern aus 47 Mitgliedstaaten ergibt sich eine zusätzliche Komplexität mit im Zeitablauf unterschiedlichen regionalen Betroffenheiten, Risiko-Einschätzungen und Reise-Beschränkungen. Persönlich erwarte ich auch eine Absage der Plenarwoche im Juni und aller anderen physischen Sitzungen mindestens bis nach der Sommerpause.

Welche Folgen hat das Virus für die Möglichkeiten sich zu treffen? Haben Sie neue Formen der Online-Zusammenarbeit geschaffen, die der Arbeitsweise der Versammlung gerecht werden?

Das Sekretariat arbeitet derzeit an der Bereitstellung digitaler Plattformen für unsere Gremien. Dabei ergeben sich zusätzliche Erfordernisse, was zum Beispiel die Übersetzung in mehrere Sprachen betrifft. Am 30. April werden wir in einer Videokonferenz des Präsidiums und des Ständigen Ausschusses auch die notwendigen Anpassungen des Regelwerks beraten, damit unsere Ausschüsse in den nächsten Monaten online nicht nur tagen, sondern auch notwendige Entscheidungen wirksam treffen können, vor allem zu den Themen, die sich aktuell aus der Corona-Krise ergeben.

Herr Schwabe, gibt es ein zuverlässiges und sicheres Online-Verfahren für Abstimmungen? Welche Wünsche haben Sie als Abgeordnete an die Technik?

Wir nutzen ein System der Onlinekonferenz und auch der Fernabstimmung, das sehr praktikabel und sicher ist. Aber natürlich ist es auch anders als im realen Leben. Man sieht sich zum Beispiel beim Abstimmungsprozess nicht. Also bekommen eigentlich offene Abstimmungen irgendwie einen quasi geheimen Charakter. Das System muss eine Verdolmetschung in mehrere Sprachen ermöglichen. Wir achten penibel darauf, dass es nicht manipuliert werden kann. Aber wir wollen und müssen handlungsfähig bleiben.

Wird die Pandemie die Arbeit des Europarates und der Parlamentarier auch langfristig verändern? Mehr online, weniger Flüge? Oder kehrt man zum bisherigen „Fahrplan“ und der Taktzahl internationaler Treffen zurück?

Ich denke, dass sich vieles in der Kommunikation verändert. Sicherlich vor allem bei vorbereitenden Sitzungen. Allerdings bringt es die Logik des Europarats mit sich, dass doch sehr vieles vor Ort erfolgen muss. Eine Wahlbeobachtung beispielsweise kann ja nicht virtuell stattfinden. Ob Ausschusssitzungen mit zahlreichen Verdolmetschungen und Abstimmungen wirklich gut funktionieren, werden wir erst in ein paar Wochen beurteilen können. Und es fehlt natürlich die menschliche Interaktion. Das ist virtuell nicht zu ersetzen.

Herr Dr. Nick, lassen Sie uns anlässlich der nicht stattfindenden Sitzungswoche die Aufmerksamkeit auf die Traditionsinstitution Europarat richten: Was hat die Parlamentarische Versammlung zur aktuellen Krise zu sagen?

Die aktuelle Krise setzt Staaten und Regierungen unter hohen Handlungsdruck, durch geeignete Maßnahmen die Verbreitung des Virus einzudämmen und zu verlangsamen. Das bedeutet aber auch befristete Einschränkungen von individuellen Freiheiten und erfordert daher ganz schwierige Abwägungen zwischen dem Schutz des Lebens und der Gesundheit unserer Bürger und anderen Grundrechten. Als das „Gewissen Europas“ muss der Europarat genau darauf achten, dass dabei die Grundlagen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den Mitgliedstaaten gewahrt bleiben. Dies betrifft ganz zentral die Rechte der Parlamente, aber auch die Rolle der unabhängigen Justiz. Wo es nötig erscheint, muss auch kritisch überprüft werden, ob die Verhältnismäßigkeit getroffener Maßnahmen im Einklang mit den von den Mitgliedstaaten eingegangenen Verpflichtungen wie der Europäischen Menschenrechtskonvention steht.

Herr Schwabe, mehrere Mitgliedstaaten haben mit Ausnahmegesetzen auf die Virus-Krise reagiert und Grundrechte außer Kraft gesetzt, für die der Europarat steht. Ist das zur Bekämpfung der Pandemie erforderlich?

Es ist möglich, befristet Grundrechte einzuschränken. In Deutschland ist ja zum Beispiel das Demonstrationsrecht ausgesetzt. Aber die Europäische Menschenrechtskonvention gilt. Und es gibt Grundsätze, die in keinem Fall gebrochen werden können. Zum Beispiel gilt in jedem Fall das Verbot der Folter fort. Alle Maßnahmen müssen verhältnismäßig und zeitlich begrenzt sein. Das ist zum Beispiel in Ungarn definitiv nicht der Fall. Dort wird das Parlament quasi entmachtet. Das ist ein fundamentaler Bruch mit den Grundsätzen des Europarats.

Herr Dr. Nick, wie ist es um die euroatlantische Wertegemeinschaft bestellt, wenn einzelne EU-Mitglieder wie Polen oder Ungarn jetzt den Wertekonsens bei der Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat aufkündigen?

Als liberale Demokratien müssen wir gerade in einer solchen Situation unter Beweis stellen, dass wir unsere Bürger vor den Auswirkungen der Krise schützen können – ohne aufzugeben, was unsere Wertebasis ausmacht. Die Präsidenten der Parlamentarischen Versammlungen des Europarates, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Nato haben ein gemeinsames Statement zur Bekämpfung der Corona-Pandemie herausgegeben. Darin fordern sie zum einen eine enge internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Pandemie, aber auch eine enge Einbindung der Parlamente auf nationaler und internationaler Ebene.

Sprechen Sie Verstöße direkt an?

Was konkrete Verstöße von Mitgliedstaaten gegen Grundwerte des Europarates betrifft, sind wir natürlich auch weiter handlungsfähig und wachsam. Erst in der Januar-Sitzung haben wir das Monitoring-Verfahren wegen der Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz für Polen neu eröffnet. Die Frage der in Polen während des Lockdowns am 10. Mai terminierten Präsidentschaftswahlen oder die zeitlich unbegrenzte Notstandsgesetzgebung in Ungarn haben wir sehr genau im Blick. Das wird wohl auch Thema in den Berichten zur Corona-Krise werden.

Herr Schwabe, wie kommt man aus dem Krisen-Modus und der Ausnahmegesetzgebung wieder heraus? Welche Rolle kann der Europarat dabei spielen?

Der Europarat wird die Lage genau beobachten. Es ist geplant mehrere Berichte zur aktuellen Situation zu erarbeiten. Im Zentrum wird genau diese Frage stehen. Wie missbrauchen die Regierungen von Mitgliedstaaten die aktuelle Situation? Was ist zur Zeit akzeptabel oder gar geboten? Aber auch die Frage, wann und wie das alles enden muss. Aber da dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Das wird eine harte Debatte.

Frank Schwabe, im Februar haben Sie eine Mission von Parlamentariern des Europarates zur Beobachtung der Parlamentswahl in Aserbaidschan geleitet und dabei, wie die OSZE auch, Unregelmäßigkeiten festgestellt. Die aserbaidschanische Regierung und die dortigen Medien zeichnen aber, unterstützt auch von deutschen Politikern ein ganz anderes, durchweg positives Bild. Stellen von der Regierung in Baku „eingekaufte“ Pseudo-Wahlbeobachter die Alleinstellung des Europarates und der OSZE als die Institutionen der Wahlbeobachtung infrage?

Na klar. Das ist ja der Sinn der Übung. Es ist ein absurdes Geschäft. Dutzende „Delegationen“ werden nur deshalb eingeladen, um die Einschätzungen seriöser und dafür legitimierter Organisationen wie OSZE und Europarat zu unterminieren. Nachdem das Land versucht hatte, den Europarat zu korrumpieren und das mittlerweile unterbunden wurde, haben solche gefälschten Beobachtungsmissionen eine noch größere Rolle bekommen. Es ist eine Schande, dass sich auch gewählte oder ehemalige Abgeordnete für so etwas hergeben. Insbesondere der Deutsche Bundestag ist gehalten, so etwas zu unterbinden.

Ein Wort noch zu Ihrer Reise als Berichterstatter des Europarates in die russische Teilrepublik Tschetschenien im vergangenen September. Was haben Sie dort vorgefunden und wie wurde Ihre Arbeit von der Regierung in Moskau aufgenommen?

Ich war der erste Berichterstatter des Europarates in Tschetschenien seit zehn Jahren und der erste in Russland seit vielen Jahren der Blockade von Besuchen überhaupt. Russland muss kooperieren. Und das weiß das Land auch. Solche Besuche sind die rote Linie für die Mitgliedschaft in der Institution generell. Die Menschenrechtslage in Tschetschenien ist verheerend. Das bekommt man vor Ort weniger zu Gesicht. Aber wir haben zahlreiche, sehr seriöse Quellen, auf die ich meine Berichte stütze.

Herr Dr. Nick, wie stark beeinträchtigt eine Krise wie diese, die von Autokraten und Populisten als willkommene Ablenkung von Kernthemen des Europarates genutzt wird, dessen Handlungsfähigkeit?

Es kommt gerade jetzt auf Wachsamkeit an, die der Europarat im Hinblick auf die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie an den Tag legen muss. Der Europarat verfügt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der Venedig-Kommission, dem Anti-Folter-Komitee und der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) über ein einmaliges und breites Instrumentarium ebenso wie über die fachliche Kompetenz. Mit der Etablierung des Sanktionsmechanismus haben wir für die Zukunft ein zusätzliches Instrument geschaffen, das darauf abzielt, bei gravierenden Verstößen das Verhalten des betroffenen Mitgliedstaates wieder in Einklang mit den Grundprinzipien des Europarates zu bringen.

Andreas Nick, wie kann der Europarat zu früherer Stärke zurückfinden?

Der Europarat hat nach 1945 und erneut nach 1990 mit der Heranführung junger Demokratien an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einen großen Beitrag zur europäischen Rechts- und Friedensordnung insgesamt geleistet. In diesen Kernbereichen ist er jetzt in neuer Weise gefordert, nicht nur an seiner geografischen Peripherie, sondern auch bei einigen anderen Mitgliedstaaten, die offenbar den Rückwärtsgang einlegen wollen.

Herr Schwabe?

Der Europarat muss konsequent sein. Konsequent bei Verstößen gegen die Grundsätze, konsequent gegen Korruption. Und er muss finanziell handlungsfähig sein. Geld ist nicht alles, aber die auch personelle und institutionelle Ausstattung ist oft beschämend. Das muss sich dringend ändern. Es geht nämlich dort um die Grundlagen der europäischen Zivilisation. Das ist gar nicht hoch genug zu bewerten. (ll/28.04.2020)

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