Parlament

Roth: In Zeiten von Grund­rech­te-Ein­schrän­kun­gen sind Parlamente gefragt

Eine blonde Frau im geblümten Kleid lächelt in die Kamera.

(DBT / Inga Haar)

Eigentlich hätte vom 15. bis 20. April 2020 in Genf die Frühjahrstagung der Internationalen Parlamentarischen Union (IPU) stattfinden sollen. Doch die aktuelle Pandemie zwingt auch die älteste globale parlamentarische Organisation dazu, neu zu planen. Das Frühjahrstreffen wurde abgesagt, das nächste Mal will man im Oktober in Ruanda zusammenkommen. Es sei „bitter, dass ein weiteres Forum zur Stärkung der internationalen Zusammenarbeit ausfallen muss“, sagt Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und stellvertretende Leiterin der Delegation der Bundestagsabgeordneten zur IPU, im Interview: „Gerade in Zeiten, da Grundrechte-Einschränkungen immer gut abgewogen und zeitlich begrenzt sein müssen, sind die Parlamente gefragt.“ Das Interview im Wortlaut:


Frau Bundestagsvizepräsidentin Roth, erstmals seit Langem fiel eine Frühjahrstagung der IPU aus. Was geht verloren, wenn die IPU-Parlamentarier, wie jetzt, einmal nicht tagen?

Die IPU ist eine riesengroße Organisation mit 179 Mitgliedsparlamenten und weiteren 13 regionalen Organisationen als assoziierten Mitgliedern, darunter das Europaparlament oder die parlamentarische Organisation afrikanischer Staaten. Jahrestreffen oder Versammlungen einer solch internationalen Dimension zu planen und durchzuführen, ist immer eine echte Herausforderung und ein großer Kraftakt für das recht kleine IPU-Sekretariat. Ich bin sicher, dass die allermeisten Delegationen die Entscheidung über die Absage der Tagung gut nachvollziehen konnten. Dennoch ist es bitter, dass ein weiteres Forum zur Stärkung der internationalen Zusammenarbeit ausfallen muss.

Internationale Politik und Parlamentarismus leben von persönlichen Kontakten. Wie überbrücken Sie die Distanz-Maßnahmen?

Das ist eine schwierige Frage. Erfolgreiche Diplomatie und gute Zusammenarbeit brauchen tatsächlich auch den direkten Austausch und die persönliche Begegnung. Alle nationalen Parlamente beschäftigen sich derzeit damit, die gesetzgeberische Arbeit in digitale Formate umzusetzen und dabei ihre legislative Verantwortung zu bewahren. Bei einer Organisation in der Größenordnung einer IPU stelle ich mir digitale Formate allerdings komplizierter vor. Dennoch: Gerade angesichts der globalen Corona-Pandemie brauchen wir mehr internationale Zusammenarbeit und mehr solidarische Maßnahmen im Einsatz für den Frieden und die Menschenrechte weltweit. Der Austausch dafür muss dann eben derzeit vermehrt digital, durch Telefonate oder ganz klassische Briefe stattfinden.

Erstmals seit langer Zeit ist mit Ihnen eine deutsche Abgeordnete Hauptberichterstatterin einer Resolution der IPU. Das Dokument über die Berücksichtigung der Folgen des Klimawandels in der Sicherheitspolitik, an dem Sie maßgeblich mitgewirkt haben, liegt bereit zur Verabschiedung. Vor einem Jahr hatten Sie die Hoffnung geäußert, dass am Ende der Beratungen eine starke Resolution steht. Sind Sie zufrieden?

Die Klimakrise führt schon heute zu einschneidenden Veränderungen in der Welt. Extreme Wetterereignisse nehmen zu, Ökosysteme und damit Lebensgrundlagen werden zerstört. Millionen von Menschen weltweit erleben tagtäglich die Zerstörung ihrer Gegenwart. Die Klimakrise verschärft Hunger und Armut. Und sie bedeutet bereits heute den unermesslichen Verlust von sicherem Zuhause, von Heimat, von jahrtausendealten Kulturgütern. Und auch Konflikte im Kontext der Klimakrise nehmen zu, die Klimakrise ist Risikomultiplikator und Konflikttreiber. Insgesamt drohen in Staaten, deren wirtschaftliche oder politische Lage sie daran hindert, ihre Bevölkerung vor den Auswirkungen der Klimaveränderungen zu schützen, klimabedingt vermehrt Verteilungskonflikte und Vertreibung. Die Klimakrise ist damit die vielleicht größte humanitäre und friedenspolitische Herausforderung unseres Jahrhunderts.

Diese einander verstärkenden Herausforderungen wollen Sie mit der Resolution in den Blick nehmen. Ist das gelungen?

Mit dieser Resolution haben wir einen ambitionierten Aufschlag gemacht, für die sicherheitspolitischen Folgen der Klimakrise zu sensibilisieren und dafür zu werben, dass die Verbindung von Klimakrise und Sicherheitspolitik in allen Konfliktsituationen mitgedacht wird. Die Perspektive haben wir dabei auf den Klimaschutz und den Schutz der Menschenrechte gerichtet, ebenso sind Gleichberechtigung und gerechte Strukturen als zentrale Lösungsansätze in den Entwurf eingeflossen. All das in enger Anbindung an das Pariser Klimaabkommen und die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen. Wir geben damit einen Impuls, Klimarisiken mit einer präventiven und stabilisierenden Klima-Außenpolitik entgegenzutreten und die menschliche Sicherheit in den Fokus jedweder sicherheitspolitischer Erwägung zu nehmen. Ambitionierter Klimaschutz, die Steigerung von Resilienz und vorausschauendes, am Menschen und seinen Bedürfnissen orientiertes Handeln sind dabei nicht nur eine Frage der Klimagerechtigkeit, sondern ebenso Voraussetzung einer weltweiten Friedensdividende. Darum ja, ich bin sehr zufrieden mit dem Resolutionsentwurf!

Welche Bedeutung hat die Resolution speziell für Europa und die deutsche Außenpolitik?

Alle Mitgliedsparlamente der IPU werden sich nach Beschlussfassung mit der Resolution, also dem Thema an sich und mit den Forderungen und Empfehlungen, befassen müssen. Das Besondere an der Resolution ist die globale Perspektive auf die Auswirkungen und Herausforderungen im Kontext der Klimakrise und eben auch, dass global politische Lösungen gefordert werden. Auch für die deutsche Außenpolitik ist es wichtig, das Thema Klima und Sicherheit aus dem reinen verteidigungspolitischen Kontext herauszulösen, den Nexus humanitäre Sicherheit und Klima in der deutschen und europäischen Außenpolitik viel breiter zu denken und zu verankern. Der Diskurs um die Verknüpfung von Klima und Sicherheit ist gerade erst im Entstehen, die Resolution soll dabei eine menschenrechtlich und friedenspolitisch ausgerichtete Perspektive in die vielen Mitgliedsparlamente tragen. Der Beschluss gibt vielen Parlamentarierinnen und Parlamentariern der IPU auch eine Gelegenheit, Themen auf die Tagesordnung zu setzen, die der jeweiligen Staatsführung nicht immer genehm sind. Damit haben sie die Möglichkeit zu zeigen, dass sie als Parlament eine eigenständige Machtsäule sind.

Weltweit geraten durch Covid-19 eine Reihe sensibler Themen, die zum Kernbereich der IPU gehören, unter die Räder. Wo sehen Sie am dringendsten Handlungsbedarf?

Auch in weniger kritischen Zeiten hat die IPU keine Ausführungs- oder Aufsichtsorgane, sie kann hingegen als Impulsgeberin für global wichtige Debatten rund um Demokratie, die nachhaltigen Entwicklungsziele, Klimakrise, Menschenrechte und Frieden fungieren und diese in nationale Parlamente tragen. In Zeiten von globalen Krisen ist es einigermaßen verständlich, dass die Regierungen beziehungsweise die Exekutive erst einmal besonders im Zentrum stehen, die Legislative muss aber dennoch ihre Kontrollfunktion unbedingt wahrnehmen. Gerade in Zeiten, da Grundrechte-Einschränkungen immer gut abgewogen und zeitlich begrenzt sein müssen, sind die Parlamente gefragt. Bei der Suche nach dem Ausweg aus der Krise kommt den Parlamenten eine wichtige Rolle zu.

Durch die internationalen Abschottungsmaßnahmen begeben sich allerdings viele Regierungen auf nationale Alleingänge…

Da Covid-19 weltweit humanitäre Krisen verschärft, Menschenrechte gefährdet und zudem unter dem Deckmantel der Krisenprävention mit autoritären Maßnahmen demokratische und emanzipatorische Errungenschaften ausgehebelt werden könnten, braucht es eine starke internationale Zusammenarbeit. Hier kommt der IPU, als einem von vielen Foren des Brücken-Bauens, wieder eine wichtige Bedeutung zu. Mit rein nationalen Lösungen werden wir diese globale Krise nicht überwinden können, globale und solidarische Maßnahmen sind gefragt, um die sozioökonomischen Auswirkungen weltweit abzufedern und die Verschärfung humanitärer Krisen zu verhindern.

In einer aktuellen Umfrage möchte die IPU von ihren Mitgliedern wissen, wie die nationalen Parlamente mit der Krise umgehen: normaler Sitzungsbetrieb oder Videokonferenzen? Wie viel betriebliche Normalität herrscht aktuell im Deutschen Bundestag?

Ich begrüße sehr, dass wir uns im Deutschen Bundestag schnell einigen konnten, welche Maßnahmen ergriffen und welche Kompromisse in der Gestaltung von Gremiensitzungen und Beschlussfassung im Sinne unseres Verfassungsauftrags eingegangen werden müssen. Krisenzeiten sind in einem gewissen Sinne auch Lernzeiten, und so manches, was lange nicht möglich war, geht plötzlich. An bestimmten Formaten und parlamentarischen Ritualen wird zwar festgehalten, aber auch viel Neues probiert. Diese Krise führt uns vor Augen, dass Digitalisierung eben auch im Deutschen Bundestag kein reines Schlagwort bleiben kann. Wir werden aus der Corona-Krise einiges an Erkenntnissen mitnehmen, wie der parlamentarische Betrieb auch mit digitalen Formaten unterfüttert werden kann und welche neuen Sitzungs- und Entscheidungsformate im digitalen Zeitalter den Parlamentsbetrieb sicherstellen können. Den pragmatischen Austausch dazu mit Kollegen und Kolleginnen auch jenseits der Fraktionsgrenzen, habe ich als sehr konstruktiv erlebt.

(ll/20.04.2020)

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