Menschenrechte

Thomas Oppermann kämpft für die Frei­lassung von Selahattin Demirtaş

Ein Mann im offenen Hemd steht vor dem Reichstagsgebäude und schaut in die Kamera.

Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann setzt sich für die Freilassung des türkisch-kurdischen Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş ein. (DBT/Büro Thomas Oppermann)

Selahattin Demirtaş war Ko-Vorsitzender der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP und trat bei zwei Präsidentschaftswahlen in der Türkei gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan an. Als Rechtsanwalt setzte sich Demirtaş außerdem für Gefangene in türkischen Haftanstalten ein, die dort Polizeiwillkür erfahren haben. Seit über drei Jahren ist der bekannte türkisch-kurdische Oppositionspolitiker nun selbst in Haft. Gegen ihn wurden mehrere Prozesse eingeleitet. Die Anklagepunkte lauten Aufrufe zur Gewalt, Beleidigung des Präsidenten, Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und „Terrorpropaganda“.

Diesen Vorwurf der „Terrorpropaganda“ erheben die türkischen Anklagebehörden gegen Oppositionspolitiker in inflationärer Weise. „Der Tatbestand ist äußerst unbestimmt und wird von der Justiz sehr exzessiv ausgelegt. Er wird gezielt genutzt, um Regierungskritiker und Andersdenkende verhaften zu lassen“, kritisiert Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD). „Die Vorwürfe gegen Selahattin Demirtaş sind an den Haaren herbeigezogen. Das Ganze erweckt den Anschein eines politisch motivierten Verfahrens und stellt eine systematische Behinderung der parlamentarischen Arbeit von demokratisch gewählten Abgeordneten dar“, betont Oppermann.

„Demirtaş wird aus politischen Gründe festgehalten“

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte bereits 2018 fest, dass Demirtaş aus politischen Gründen festgehalten wird und bewertete die lange Untersuchungshaft als unrechtmäßig. „Die Türkei ist als Mitglied des Europarates demokratischen Werten und rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtet. Demirtaş und die anderen in der Türkei inhaftierten Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen unverzüglich freigelassen werden“, fordert Oppermann.

Selahattin Demirtaş ist jedoch weiter in Haft und muss auch seinen 47. Geburtstag am Karfreitag, 10. April, im Gefängnis verbringen. Der Prozess in Ankara verläuft sehr schleppend, die nächsten Verhandlungstermine sind für Mai angesetzt.

Ein Fall für das Patenschaftsprogramm des Bundestages

Bereits im Herbst 2016 hat Oppermann mit zwei weiteren damaligen Fraktionsvorsitzenden, Dr. Sahra Wagenknecht (Die Linke) und Dr. Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen), eine Patenschaft für Demirtaş im Rahmen des Programms „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ (PsP) übernommen: „Wir wollten damit fraktionsübergreifend ein Zeichen setzen. Parlamentarier müssen ihr Mandat frei von Furcht und staatlicher Repression ausüben können.“

Dieses Programm des Deutschen Bundestages wurde 2003 durch einen interfraktionellen Antrag der damaligen Fraktionen im Parlament ins Leben gerufen und sucht weltweit seinesgleichen. Alle Abgeordneten können sich daran beteiligen, unabhängig davon, ob sie dem Menschenrechtsausschuss angehören. In der aktuellen Legislaturperiode haben mehr als 100 Abgeordnete eine Patenschaft für gefährdete oder inhaftierte Parlamentarier im Ausland übernommen.

Parlamentarische Arbeit frei von äußeren Einflüssen

„Das Funktionieren des höchsten Verfassungsorgans, die parlamentarische Arbeit frei von äußeren Einflüssen, ist ein hohes Gut“, so Oppermann. „Dies ist eine der Lehren aus unserer Geschichte. In der Kaiserzeit und vor allem bei der Zerstörung der Weimarer Republik kam es zu einer massiven Behinderung von Abgeordneten und ihrer parlamentarischen Arbeit. Bis zuletzt wehrten sich Sozialdemokraten wie Otto Wels in seiner mutigen Rede gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gegen die Verhaftung von Abgeordneten und die Aushebelung der Grundrechte.“

Daher haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft neben dem Gebot der Immunität von Abgeordneten (Artikel 46 des Grundgesetzes) auch das Verbot der Behinderung von Abgeordneten in Artikel 48 Absatz 2 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich verankert: „Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben“, steht dort aus gutem Grund. „Auf diese Weise wollte man Versuchungen der Exekutive, unliebsame Abgeordnete kaltzustellen, einen Riegel vorschieben“, erläutert der Jurist und frühere Verwaltungsrichter Oppermann.

„Unsere Demokratie ist so stabil, dass diese Garantie aus Artikel 48 Absatz 2 in der Praxis nie infrage gestellt wurde. Weltweit werden Abgeordnete jedoch in vielen Staaten schikaniert, in ihrer Arbeit eingeschränkt oder verhaftet.“ Dem Bundestagsvizepräsidenten Thomas Oppermann ist die Hilfe für verfolgte Parlamentarier deshalb eine Herzensangelegenheit.

Was bedeutet die Patenschaft in der Praxis?

„Bei einem derart politisch motivierten Verfahren wie im Fall Demirtaş kann man nicht einfach beiseite stehen, das erfordert energischen Widerspruch“, betont Oppermann. „Die schwierigste Hürde im Fall von Selahattin Demirtaş besteht darin, das offenbar politisch voreingenommene Gericht von dessen Unschuld zu überzeugen.“ Da er sich als Politiker eines anderen Landes nicht in die Gerichtsverfahren einmischen kann, wendet er sich in erster Linie an die politische Führung und an die Gesellschaft in der Türkei, um für die Werte von Demokratie und Rechtsstaat einzutreten.

Die Unterstützung für verfolgte Parlamentarier und Menschenrechtsverteidiger im Rahmen des „Parlamentarier schützen Parlamentarier“-Programms, sei es durch diplomatische Kanäle, sei es durch Öffentlichkeitsarbeit, hilft nicht nur im einzelnen Fall, sondern „bringt Hoffnung für eine Vielzahl an Betroffenen“, ist Oppermann überzeugt. „Denen wollen wir damit signalisieren: Ihr seid nicht allein, wir vergessen euch nicht.“ Den für die Missstände Verantwortlichen wiederum mache man damit klar: „Ihr seid unter internationaler Beobachtung. Nicht alles was ihr tut, lassen wir euch durchgehen.“

Besuch in der Haft ein schwieriges Unterfangen

Er habe mehrfach versucht, Demirtaş in der Haft zu besuchen. Damit wollten Oppermann und seine beiden Ko-Paten dem inhaftierten Abgeordneten „zeigen, dass sein Schicksal uns nicht kalt lässt und wir genau hinschauen, unter welchen Umständen er gefangen gehalten wird, wie es um seine Gesundheit bestellt ist, und dass wir uns für seine Freiheit einsetzen“. Das sei aber ein schwieriges Unterfangen, und bislang habe man keinen Zugang erhalten: „Wir haben mehrere Vorstöße unternommen, Anträge gestellt.“ Auch den türkischen Botschafter sowie den Außenminister habe er wegen Demirtaş bereits angesprochen.

Wenigstens bekomme dessen Familie Zugang zu dem verhafteten Politiker, weiß Oppermann. Davon habe er sich im September 2018 bei einem Gespräch mit dem Bruder des Inhaftierten bei einer Solidaritätsveranstaltung in Göttingen überzeugen können. „Sein Bruder hat uns auch gesagt, dass er froh ist über das Patenschaftsprogramm des Deutschen Bundestages und das breite Engagement von Bundestagsabgeordneten für türkische Parlamentarier.“

„In der Türkei insgesamt etwas bewegen“

Oppermann betont, dass er mit seinem Einsatz für Selahattin Demirtaş ein zweifaches Ziel verfolgt. Einerseits wolle er den inhaftierten Politiker freibekommen. Darüber hinaus gehe es ihm darum, politisch „in der Türkei insgesamt etwas zu bewegen“.

Präsident Erdoğan regiere das Land „extrem autoritär“, kritisiert Oppermann. Presse- und Meinungsfreiheit seien stark eingeschränkt, die Repression gegen Regierungskritiker und Andersdenkende habe nach dem Putschversuch von 2016 dramatisch zugenommen. Mehr als 200.000 Personen seien festgenommen worden, über 30.000 verbüßten entweder eine rechtskräftige Haftstrafe oder befänden sich in Untersuchungshaft. 2018 trat eine Reform der Verfassung in Kraft, mit der Erdoğan seine präsidialen Machtbefugnisse noch weiter ausgebaut und auch seinen Einfluss auf die Justiz erweitert habe.

„Erdoğan hat sich politisch verrannt“

Aber nicht nur die Rechtsnormen, auch Gepflogenheiten änderten sich, so Oppermann: „Vorauseilender Gehorsam ist mittlerweile in weiten Bereichen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft an der Tagesordnung.“ Die meisten Richter würden sich dem politischen Kurs Erdoğans unterwerfen. Solche, die sich nicht in den Dienst der Regierung stellen wollten, riskierten ihren Job. Tausende Richter und insgesamt 125.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes seien seit 2016  entlassen worden.

Als Hoffnungsschimmer für eine Normalisierung und Demokratisierung in der Türkei wertet Oppermann den Sieg einiger Oppositionskandidaten bei den Kommunalwahlen im März 2019 in zahlreichen großen Städten, vor allem in Istanbul und Ankara: „Die Türken haben damit eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht, dass sie in der Mehrheit den autoritären Kurs von Erdoğan nicht gut finden.“ Den Menschen dort werde immer klarer, dass sich ihr Staatschef Erdoğan auch „außenpolitisch komplett verrannt“ habe, da er an sämtlichen Krisenherden, an denen er sich eingemischt habe, von Syrien bis Libyen, seine internationalen Partner verliere. Wie verzweifelt Erdoğan mittlerweile sei, habe sein jüngstes „Ablenkungsmanöver in der Flüchtlingskrise“ gezeigt, als seine Regierung Tausende Geflüchtete an die Grenze zu Griechenland geschickt, diese dann aber wieder zurückgeholt habe.

„Mit türkischer Führung im Gespräch bleiben“

Sowohl die Türkei als auch die Europäische Union hätten letztlich ein gemeinsames Interesse daran, den 2016 vereinbarten „Flüchtlingsdeal“ am Leben zu erhalten. Oppermann unterstreicht, dass man trotz der Differenzen bei Themen wie der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten einen realpolitischen Blick behalten und miteinander im Gespräch bleiben müsse, nicht nur wegen der Flüchtlingsproblematik.

Auf diese Weise müsse man die Führung in Ankara daran erinnern, dass man als Mitglied im Europarat und in der Nato gemeinsame Werte teile, denen man in Politik und Rechtsprechung verpflichtet sei: „Politische Gefangene zu machen, Kritiker ins Gefängnis zu stecken, ist damit nicht vereinbar.“ Als Partner müsse man sich das klar sagen, so Oppermann. „Wir müssen die Türkei in die Wertegemeinschaft des Bündnisses zurückbringen.“

Der Fall Selahattin Demirtaş ist deshalb ein wichtiger Prüfstein, in welche Richtung sich die Türkei unter Erdoğan entwickeln wird. Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann wird sich weiterhin die Freilassung des „kurdischen Obamas“ engagieren: „Selahattin Demirtaş setzt sich seit Jahren mutig und konsequent für die Menschenrechte und eine gewaltfreie Lösung des Konflikts zwischen Türken und Kurden ein. Er ist eines der größten politischen Talente der Türkei.“ (ll/10.04.2020)

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