Parlament

Stabile Differenzen: Abgeord­nete zu Ge­sprächen in Russ­land

Sechs Männer und drei Frauen stehen nebeneinander vor einem Klinkerbau.

Abgeordnete Dr. Gregor Gysi (Die Linke), Dr. Michael von Abercron (CDU/CSU), Sylvia Pantel (CDU/CSU) Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen), Botschafter Rüdiger Freiherr von Fritsch, Dr. Robby Schlund (AfD), Doris Barnett (SPD), Michael Georg Link (FDP) und Marina Bernhard (Bundestagsverwaltung) vor der Deutschen Botschaft in Moskau (DBT/Dr. Robby Schlund)

Gerade in Zeiten, in denen die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zu einem anderen Land vielfältigen Belastungen ausgesetzt sind, leistet die internationale Arbeit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages einen wichtigen Beitrag zur Pflege der bilateralen Beziehungen. Genau das passiere zurzeit im deutsch-russischen Verhältnis, das nun schon seit einigen Jahren von „stabilen Differenzen“ geprägt sei, wie es der Vorsitzende der Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe, Dr. Robby Schlund (AfD), nennt. So hat die Europäische Union infolge der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der Halbinsel Krim und der mangelnden Kooperation Moskaus bei dem Konflikt in der Ostukraine seit 2014 eine Reihe von Sanktionen gegen Russland verhängt.

Im Gespräch zu bleiben und zu helfen, die deutsch-russischen Beziehungen zu verbessern – darauf zielte auch ein Delegationsbesuch von Mitgliedern der Parlamentariergruppe vom 16. bis 21. Juni 2019 in Moskau und dem 200 Kilometer westlich davon gelegenen Kaluga ab. Die deutschen Abgeordneten sprachen dort unter anderem mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Duma, der zweiten Kammer des russischen Parlaments, sowie mit Mitgliedern der Regierung und Vertretern aus Wirtschaft und Gesellschaft.

„Eine sehr sensible Gruppe“

Unter den Parlamentariergruppen des Bundestages sei die deutsch-russische nicht nur diejenige nach der Parlamentariergruppe USA, bei der die meisten Abgeordneten (etwa 70 Mitglieder) mitmachen, sondern wegen der zurzeit so belasteten Beziehungen zu einem der politisch wichtigsten Länder der Welt „eine sehr sensible Gruppe“, so Schlund.

Man nehme die Aufgabe, die bilateralen Beziehungen auf parlamentarischer Ebene zu pflegen und zu entwickeln, sehr ernst und folge dem Grundtenor, weniger die politischen Differenzen zwischen beiden Ländern als vielmehr den Dialog in den Vordergrund zu stellen. „Die Mitglieder der Parlamentariergruppe nehmen den Begriff der Freundschaftsgruppe“, wie die Parlamentariergruppen in vielen Ländern auch heißen, „wörtlich“, erläutert Schlund das Selbstverständnis der internationalen Arbeit der Abgeordneten. „Wir wollen die Freundschaft pflegen, indem wir den Dialog pflegen.“

Medium des Austauschs und der Verständigung

Über die wechselseitigen Delegationsbesuche hinaus stehe man in vielfältigem Kontakt miteinander. Schon die Vorbereitung des Besuchsprogramms erfordere eine intensive Abstimmung zwischen dem deutschen und dem russischen Vorsitzenden Pawel Nikolajewitsch Sawalnij der entsprechenden Parlamentariergruppe der Staatsduma für die Beziehungen zum Deutschen Bundestag, sowie den Außenministerien beider Länder, die die Parlamentarier dabei tatkräftig unterstützten, und stelle schon ein Medium des Austauschs und der Verständigung dar, erklärt Schlund. Abgeordnete der Duma hatten im Herbst 2018 Deutschland besucht.

So pflege man eine Kultur, auf die Anliegen der anderen Seite einzugehen, bereits wenn es um die Programmgestaltung gehe. Diesem ungeschriebenen Konsens hätten auch die russischen Gastgeber voll und ganz entsprochen und seien sehr flexibel den unterschiedlichen Wünschen aller Fraktionen der Bundestagsdelegation nachgekommen. Der Parlamentariergruppe gehören Politiker aller sechs Bundestagsfraktionen an. In der Delegation war jede Fraktion mit einem Mitglied vertreten.

Duma, Föderationsrat, Regierungsvertreter

In Moskau kam die Delegation mit Mitgliedern der Parlamentariergruppe der Staatsduma für Beziehungen zum Deutschen Bundestag sowie mehrerer Fachausschüsse zusammen, traf den ersten stellvertretenden Vorsitzenden der Staatsduma Alexander Dmitrijewitsch Schukow und tauschte sich mit dem Oppositionsführer Gennadi Andrejewitsch Sjuganow aus. Arbeitstreffen fanden auch mit den entsprechenden Gremien des Föderationsrates, der für die Regionen zuständigen Kammer des russischen Parlaments, statt, sowie mit dem stellvertretenden Außenminister der Russischen Föderation, Wladimir Titow, der zuständig ist für die Beziehungen zu den europäischen Ländern. Gesprächsthemen waren die deutsch-russischen Beziehungen im Allgemeinen, wirtschaftspolitische Aspekte und das Gas-Pipeline-Projekt „Nordstream 2“ im Besonderen sowie die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland.

Die Bundestagsabgeordneten hätten mehrheitlich „zum Ausdruck gebracht, dass sie mit der Annexion der Krim und mit dem Verhalten Russlands im Konflikt in der Ostukraine nicht einverstanden sind“. Mehr als einen Austausch der unterschiedlichen Positionen dürfe man allerdings bei solchen „Hardcore-Themen“, tief verwurzelten sicherheitspolitischen Gegensätzen, die das Verhältnis momentan so sehr belasteten, und deren Behandlung man im Übrigen dem Auswärtigen Amt überlasse, nicht erwarten. Es brauche außerdem einfach noch mehr Zeit, um zu Lösungen und Auswegen aus der Krise zu finden, so der Russlandkenner Schlund.

Man nehme aber auch auf der Ebene des parlamentarischen Dialogs sämtliche noch so winzigen Ansätze und Ideen mit und bringe sie in die Arbeit des Bundestages ein, ja habe die Ergebnisse auch dem Außenminister in Berlin überbracht und werde nach dem Russland-Besuch weiter mit vollem Einsatz an der Verbesserung der deutsch-russischen Beziehungen arbeiten und auf eine Lösung in den Streitfragen hinwirken.

NGO-Gesetzgebung

Auf dem Programm des Delegationsbesuchs standen außerdem Gespräche mit Vertretern der Zivilgesellschaft, darunter Menschrechtsorganisationen, und dem Oppositionspolitiker Pawel Nikolajewitsch Grudinin, dem erfolgreichsten parteilosen Gegenkandidaten von Präsident Wladimir Putin bei der Präsidentschaftswahl 2016.

„Wenn wir Bundestagsabgeordneten uns zu einer solchen Delegationsreise aufmachen, wollen wir uns ein Gesamtbild von Politik und Gesellschaft in Russland machen“, unterstreicht Schlund. Durch die Bandbreite der Gesprächspartner habe sich die Delegation einen umfassenden und weitestgehend unverfälschten Eindruck von der Lage in dem Land verschaffen können.

Insbesondere über die Lage der Opposition, die Arbeitsbedingungen von Journalisten und die Probleme, vor denen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Russland stehen, wollten die deutschen Abgeordneten sprechen. Die Frage, inwieweit die russische Regierung wieder abrücke von dem in den letzten Jahren äußerst restriktiven Vorgehen gegen NGOs, durch das diese zum Teil massiv in ihrer Arbeit behindert werden, sei von einigen deutschen Parlamentariern konkret angesprochen worden. Auch wenn man selbstverständlich gegenüber dem Souverän russischer Gesetze über keinerlei Einwirkungsmöglichkeiten verfüge und diesbezüglich auch nicht anmaßend auftreten wolle, sei doch für Fragen zu den bestehenden Gesetzen, zur Gesetzgebung und zur rechtlichen Praxis, aber auch für kritische Einwände, die Ebene der Parlamentarier der richtige und passende Ort, findet Schlund.

„Wir haben die Probleme internationaler NGOs bei unseren Terminen in der Duma angesprochen, und wir haben dort, wenn wir auch nicht überall auf offene Ohren gestoßen sind, so doch immer die Möglichkeit einer freien Aussprache gehabt.“ So wie in Parlamentariergruppe und Delegation die Nuancen zwischen den einzelnen Fraktionen aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien je nachdem, um welches Thema es gerade geht, sichtbar seien, habe es auch auf russischer Seite unterschiedliche Meinungen und nicht nur den Standpunkt der Regierungsfraktion gegeben. So sei deutlich geworden, dass auch im russischen, semipräsidentiellen System die Duma ein sehr eigenständiges Parlament ist, deren Abgeordnete frei, lediglich den Empfehlungen ihrer jeweiligen Fraktion entsprechend, entscheiden könnten.

Besuch am Innovationsstandort Kaluga

Mehr als nur ein Abstecher in die Provinz, sondern ein wesentlicher Bestandteil des Programms war der Besuch der Delegation in der boomenden Stadt und Region Kaluga. „Kaluga hat schon lange darauf gewartet, mal eine deutsche Delegation aus der Politik zu empfangen“, fasst Schlund die Hintergründe für die Wahl dieses Ortes und die sehr gute Atmosphäre bei den dortigen Gesprächen zusammen. Die Deutschen trafen sich mit Lokalpolitikern und dem Gouverneur der Region, aber vor allem mit Vertretern der dort ansässigen deutschen Wirtschaft und von Forschungsinstituten.

Mit dem über 700 Hektar großen Industriepark „Grabzewo“ ist es Kaluga gelungen, zahlreiche internationale Investoren, darunter auch deutsche Firmen anzuziehen. Autohersteller wie Volkswagen und der Reifenhersteller Continental haben sich hier angesiedelt. Das nahmen die Abgeordneten aus Berlin bei einem Besuch des dortigen Volkswagen-Werkes in Augenschein, einem der größten Arbeitgeber der Region. „Produktion und Forschung gehen in Kaluga Hand in Hand“, und darauf seien die Russen sehr stolz, berichtet Schlund.

Daran hätten die Deutschen einen nicht unerheblichen Anteil, engagiere sich doch Volkswagen sehr in der Region, investiere nicht nur in Forschung, High Tech und Maschinen, sondern auch in die Ausbildung und soziale Absicherung seiner Mitarbeiter. In der Forschung und Entwicklung arbeiteten die lokalen Unternehmen mit der dortigen Baumann-Hochschule zusammen, die mit ihren innovativen Forschungsinstituten und Gründungszentren für Unternehmen zu den renommiertesten technischen Hochschulen des Landes zählt. Insgesamt habe man in „Grabzewo“ einen beeindruckenden Komplex aus innovativer Forschung und modernsten Produktionsstätten gesehen, der sehr erfolgreich arbeite. Die Auftragsbücher der ansässigen Unternehmen seien voll, mit der Produktion komme man kaum hinterher.

Versöhnungsgeste am Denkmal des Unbekannten Soldaten

In Kaluga gedachten die deutschen Parlamentarier außerdem der Opfer des Zweiten Weltkrieges. Schlund und Sawalnij legten am Denkmal des Unbekannten Soldaten einen Kranz nieder. „Diese Geste war uns Bundestagsabgeordneten besonders wichtig, aber auch unseren russischen Freunden. Damit wollten wir Abgeordneten aus Deutschland und Russland zum Ausdruck bringen, dass wir das geschehene Unrecht, die Verbrechen der deutschen Wehrmacht, nicht vergessen, und dass Totalitarismus, in welcher Form auch immer, in den deutsch-russischen Beziehungen keinen Platz mehr hat. Zugleich wollten wir damit unseren Willen bekräftigen, dass wir uns verziehen haben und in die Zukunft schauen. Unsere Probleme liegen nicht länger in der Vergangenheit. Die Versöhnung ist mittlerweile in eine fruchtbare und umfassende wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit gemündet.“

Jetzt und in Zukunft gehe es darum, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zum Nutzen beider Seiten voranzutreiben. Auf dieser Basis freundschaftlicher und konstruktiver Beziehungen könne man sich auch der Lösung aktueller Konflikte, sei es in den eigenen Ländern oder anderswo, zuwenden. Ein solcher freundschaftlicher, auf Dialog basierender Ansatz verträgt auch die Behandlung kritischer Themen, ist sich Schlund sicher.

Ein Ferienlager zur Völkerverständigung

Zu der gemeinsamen Arbeit an der Verständigung passte auch ein Besuch der Delegation in dem Kinderferienlager „Ethnomir“. Auf beeindruckenden über 100 Hektar wird dort anhand von Länderbeispielen, Führungen, Rollenspielen und Ferienaufenthalten internationales Zusammenleben vermittelt und eingeübt. Auch Deutschland ist mit einem eigenen Bereich präsent, in dem deutsche Erfindungen, Industrie sowie Trachten- und Dialektvielfalt dargestellt werden. Kinder und Jugendliche lernen dort etwas über unterschiedliche Kulturen und Lebensformen sowie Regeln des friedlichen Miteinanders und des Zusammenlebens, die diese Unterschiede, oft auch innerhalb eines Landes, zulassen.

Um die deutsch-russische Zusammenarbeit über die parlamentarische Ebene hinaus weiter zu intensivieren, hat der Vorsitzende der Deutsch-Russischen Parlamentariegruppe im Bundestag gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Russisch-Deutschen Freundschaftsgruppe in der Staatsduma als neues Format eine „vertikale regionale“ Zusammenarbeit angeregt.

Riesiges Potenzial in den Regionen

Der Blick in die Regionen, jenseits der Hauptstädte, ermögliche ein tieferes Verständnis des Partnerlandes. Das praktizierten die Parlamentariergruppen bereits bei ihren Delegationsbesuchen, die immer auch eine regionalen Teil hätten, so Schlund. In den Regionen, Ländern und Kommunen gebe es außerdem einen enormen Bedarf, sich auszutauschen, und wo dies noch nicht artikuliert worden sei, schlummere doch merkbar ein riesiges Potenzial, nicht nur auf Seiten der Politik, sondern auch auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Ebene.

Kontakte kämen dann aber auf dieser „horizontalen Ebene“ häufig nicht zustande. Da könnten die Parlamentarier des Bundestages helfen und solche Austausche anstoßen oder aufgreifen und, ähnlich einer Patenschaft, flankierend, mit mehr oder weniger Rat und Tat begleiten. Ausgehend beispielsweise von den Wahlkreisen der Mitglieder der Parlamentariergruppe, Landtags- oder regionale Abgeordnete einbeziehend. 

Zwischen russischen und deutschen Regionen beginne man gerade, diese Form der Zusammenarbeit zu praktizieren. So sei im vergangenen Jahr bereits eine Delegation der russischen Jamal-Region in Thüringen gewesen. Die bilaterale Zusammenarbeit gewinne dadurch weiter an Breite und Tiefe, regionale und nationale Ebene profitierten wechselseitig davon.

Beitrag zur Vertrauensbildung

Die Deutsch-Russische Parlamentariergruppe sei jedenfalls bereit, auf deutscher Seite sowohl Initiativen aus den Bundesländern aufzugreifen als auch seitens ihrer fast 70 Mitglieder künftig auf diesem Feld vor allem über die Wahlkreise tätig zu werden. Innerhalb des „vertikalen regionalen Konzepts“ schlummerten im Übrigen noch zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten, ist Schlund überzeugt, und regt an, das Konzept auch auf andere Länder zu übertragen.

Insgesamt habe die Delegationsreise im Sommer in diplomatisch schwierigem Fahrwasser zur Vertrauensbildung zwischen Deutschland und Russland beigetragen. Man habe sehr offene und konstruktive Gespräche geführt. Wo Deutsche und Russen sich uneins waren, habe man sich wenigstens zugehört. Auf beiden Seiten sei grundsätzlich der Wille vorhanden, auch Kompromisse einzugehen. Man sei sich aber bewusst, dass vor allem bei bestimmten außenpolitischen Fragen eine Übereinkunft äußerst schwierig werden und noch einige Zeit auf sich warten lassen wird. (ll/23.12.2019)

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