Kiesewetter: Instabiler Naher Osten zwingt die EU in eine aktivere Rolle
Für eine verstärkte Unterstützung der EU beim Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen bei den arabischen Mittelmeeranrainern plädiert Roderich Kiesewetter im Interview. Die Regierungen dieser Länder seien nicht in der Lage, massive Probleme wie die besonders bei jungen Leuten ausgeprägte hohe Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. Aus Sicht des CDU-Abgeordneten müssen EU und Vereinte Nationen den südlichen Mittelmeerländern auch mehr Hilfen gewähren bei der Bewältigung des Zustroms von Bewohnern der Sahelzone, für die Nordafrika eine Transitregion auf dem Weg nach Europa ist. Kiesewetter leitet am 12. und 13. Mai 2017 in Rom die Bundestagsdelegation bei der Tagung der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum, der Delegierte des Europäischen Parlaments, der Abgeordnetenhäuser der 28 EU-Nationen sowie Vertreter aller Mittelmeerstaaten angehören, die nicht Mitglied der EU sind.
Herr Kiesewetter, die Parlamentarische Versammlung will im Mittelmeerraum Verständigung und Zusammenarbeit fördern. Engagiert sich die EU ausreichend für diese Region, etwa für wirtschaftliche Entwicklung, für die Stabilisierung fragiler Staaten, für Umweltschutz und für Rechtsstaatlichkeit?
Die EU ist durchaus aktiv, auch in diesen Bereichen. Jedoch kann Brüssel nur das umsetzen, was die Mitgliedsländer gemeinsam in die Mittelmeerpolitik einbringen. Hier ist mehr Koordination zwischen den EU-Nationen nötig. Gefördert werden sollten Länderpartnerschaften, um die Entwicklung im nördlichen Afrika voranzubringen, um die Staaten ökonomisch enger zu verflechten und um die Sicherheitslage zu verbessern.
Was erhoffen Sie sich vom Auftritt der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini?
Von Mogherini erwarte ich mir vor allem konkrete Vorschläge für ein Zusammenwachsen des Mittelmeerraums. Da bergen die Migrationssteuerung, die wirtschaftliche Wertschöpfung auf lokaler Ebene, die Berufsausbildung und Sicherheitspartnerschaften zwischen EU-Ländern und südlichen Mittelmeeranrainern noch viel Potenzial in sich. Die Abgeordneten müssen indes ebenfalls ihrer Aufgabe gerecht werden und ihre Parlamentarische Versammlung dauerhaft arbeitsfähig halten. Dieses Gremium dient vor allem dazu, in den Ländern am Mittelmeer das Problembewusstsein zu schärfen und nationale Regierungen zu mehr regionaler Zusammenarbeit zu bewegen.
Bei seiner Rede in Rom dürfte der jordanische Außenminister Ayman Safadi die Flüchtlingskrise nicht aussparen. Müssten Brüssel und die EU-Staaten vor allem Jordanien und den Libanon, die wegen der Nachbarschaft zu Syrien besonders unter Flüchtlingsströmen leiden, stärker unterstützen?
Die anhaltend instabile Lage im Nahen Osten zwingt die EU in eine aktivere Rolle. Es geht dabei nicht nur um mehr Geld zur Versorgung von Flüchtlingen, sondern um Krisenprävention im Rahmen einer breit angelegten Regionalstrategie. Dazu gehört auch ein verstärktes Engagement von Freiwilligen. Beispielsweise könnten Ruheständler aus EU-Ländern mit ihrer Lebenserfahrung vor Ort helfen, die Entwicklung dieser Staaten voranzubringen oder sich um Flüchtlingsbetreuung zu kümmern.
Mit welchen Forderungen ihrer arabischen Kollegen sehen sich die Parlamentarier aus dem EU-Raum konfrontiert?
Die arabischen Abgeordneten erhoffen sich vor allem eine intensivere Zusammenarbeit, um Investitionen zu ermöglichen. Eine zentrale Herausforderung in diesen Ländern ist die demografische Entwicklung, die sogar Herrschaftssysteme zu unterminieren droht. Immer mehr junge Leute sind auf Jobsuche, und die Regierungen bekommen dieses Problem mit Hilfe der nur unzureichend ausgebildeten marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Strukturen nicht in den Griff. Deshalb muss bei den arabischen Mittelmeeranrainern der Aufbau einer funktionierenden staatlichen Infrastruktur im Vordergrund stehen. Wenig hilfreich sind Demokratisierungsversuche, die auch schon bislang nicht viel bewirkt haben.
Der Deal mit der Türkei und die Schließung der Balkan-Route haben zu einer Verlagerung von Fluchtwegen geführt, die jetzt vermehrt aus südlichen Mittelmeernationen Richtung EU führen. Ein Streitpunkt in der Versammlung?
Im nördlichen Afrika sammeln sich Gastarbeiter aus der Sahel-Region, die nach Europa ziehen wollen. Die betroffenen Länder sind durchaus bereit, bei dieser schwierigen Herausforderung mit der EU zu kooperieren. Die arabischen Kollegen dringen etwa auf ein größeres EU-Engagement beim Aufbau von Auffangstrukturen. In beiderseitigem Interesse liegt auch ein besserer Schutz vor islamistischen Gruppen, die sich aus perspektivlosen Jugendlichen rekrutieren.
Sieht die Parlamentarische Versammlung das EU-Konzept als realistisch an, die Zahl der Flüchtlinge aus Nordafrika durch mehr Geld für den Aufbau einer effizienten Grenzsicherung in diesen Staaten zu senken? Und um damit auch fragile und deshalb machtlose Länder wie besonders Libyen zu stabilisieren?
Für den Erhalt von Staatlichkeit ist eine wirksame Grenzsicherung nur ein notwendiger Baustein. Auf dieser Basis können aber die UN und die Internationale Organisation für Migration ihr Engagement auf lokaler Ebene ausdehnen. Dabei muss der EU daran gelegen sein, die Schaffung humanitärer Korridore, die Verstärkung von Rückkehr- und Wiedereingliederungshilfen sowie die Beratung über eine legale Zuwanderung etwa für eine zeitlich befristete Berufsausbildung in den Vordergrund zu rücken.
(kos/08.05.2017)