Merkel: Für deutsch-türkische Beziehungen einsetzen
Mit deutlichen Worten hat der Bundestag die Nazi-Vergleiche von Seiten türkischer Politiker zurückgewiesen und die Entwicklungen in der Türkei kritisiert. „Wer dieses Land öffentlich verdächtigt, Nazi-Methoden anzuwenden, wenn seine Behörden und gewählten Repräsentanten im Rahmen unserer Verfassungsordnung handeln, disqualifiziert sich selbst“, betonte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert am Donnerstag, 9. März 2017, vor Eintritt in die Tagesordnung. In diesen „turbulenten, manchmal hysterischen Zeiten“ könne sich jeder sein eigenes Bild machen, wo Menschenrechte geachtet, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung gesichert und Meinungs- und Pressefreiheit praktiziert werden.
Das Recht türkischer Politiker, in Deutschland aufzutreten, verteidigte Lammert jedoch. Da Prinzipien wie Meinungs- und Pressefreiheit hierzulande „nicht zur Disposition stehen, bitten wir die Menschen in Deutschland um Verständnis, dass wir sie auch bei begründeter Empörung anderen nicht verweigern“. Sollte die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan geplante Verfassungsreform beim Referendum am 16. April gebilligt werden, entwickle sich die Türkei zu einem „zunehmend autokratischen Staat, der sich immer weiter von Europa, seinen Überzeugungen und demokratischen Standards, entfernt“, warnte Lammert.
Merkel: Auftritte türkischer Politiker sind möglich
Im Anschluss bezog auch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) in ihrer Regierungserklärung zum Frühjahrsgipfel der Europäischen Union am 9. und 10. März in Brüssel Position zu den gegenwärtig stark angespannten deutsch-türkischen Beziehungen. Vergleiche der Bundesrepublik Deutschland mit dem Nationalsozialismus seien „traurig“ und „deplatziert“. Doch so „unzumutbar“ manches sei – „unser außen- und geopolitisches Interesse kann es nicht sein, dass sich die Türkei noch weiter von uns entfernt“, betonte die Kanzlerin.
Deutschland müsse sich nach Kräften für die deutsch-türkischen Beziehungen einzusetzen, „auf Basis unserer Werte, unserer Vorstellungen und in aller Klarheit“. Auftritte türkischer Politiker in Deutschland seien laut Merkel möglich, sofern sie rechtzeitig und ordnungsgemäß und „mit offenem Visier“ angekündigt und genehmigt würden.
Die rund 1,5 Millionen Türken mit deutscher Staatsbürgerschaft oder jene, die schon lange in Deutschland leben, nannte die Bundeskanzlerin einen „Teil Deutschlands“. Sie trügen zum Wohlstand und guten Zusammenleben bei, innertürkische Konflikte sollten nicht in dieses Zusammenleben hineingetragen werden.
Kauder fordert Wahrung der Grundfreiheiten
Unionsfraktionschef Volker Kauder forderte angesichts des Streits um die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland die Wahrung der Grundfreiheiten in der Türkei ein. Nach Deutschland kommen zu wollen, aber Bundestagsabgeordneten Reisen zu den in der Türkei stationierten Bundeswehrsoldaten zu verbieten, gehe überhaupt nicht, sagte der CDU-Politiker.
Ein Land, dessen Repräsentanten sich so verhalten wie Erdoğan, brauche sich nicht wundern, „wenn der Tourismus zurückgeht. In einem solchen Land wollte ich auch nicht Urlaub machen“, betonte Kauder.
Oppermann gegen allgemeine Einreise- oder Redeverbote
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann warnte davor, den Streit mit der Türkei eskalieren zu lassen. Darunter würden die türkischstämmigen Menschen in Deutschland am meisten leiden. Erdoğan suche mit seinen „schrillen Provokationen“ die Auseinandersetzung mit Deutschland und ein Feindbild. „Ich finde, dabei sollten wir ihm nicht helfen.“
Allgemeine Einreise- oder Redeverbote für türkische Politiker lehnte Oppermann ab. Deutschland müsse sich jedoch weiter für die Freilassung der in der Türkei inhaftieren Journalisten einsetzen. „Die Türkei muss wieder zurückkehren auf einen demokratischen Weg, sonst kann sie kein enger Partner von Deutschland und Europa bleiben.“
Bartsch: Bundesregierung muss klare Worte finden
Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Dietmar Bartsch, forderte die Bundesregierung auf, die Türkei deutlicher zu kritisieren. NS-Vergleiche seien „völlig inakzeptabel“, genauso wie die massenhafte Verhaftung von unliebsamen Journalisten und Oppositionspolitikern. Bartsch erinnerte daran, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) 1992 wegen Verstößen gegen den Nato-Vertrag ein Waffenembargo gegen die Türkei erlassen habe, während die Große Koalition heute weiter Waffen in das Land exportiere. Als eine andere Möglichkeit, die Entwicklungen in der Türkei zu sanktionieren, nannte Bartsch das Einfrieren der EU-Vorbeitrittshilfen.
Bartschs Fraktionskollegin Sevim Dağdelen warnte davor, dass mit dem öffentlichen Aufruf des türkische Innenministers „zum politischen Mord an Andersdenkenden in Deutschland“ auch deutsche Abgeordnete zur Zielscheibe würden. Erdoğan warf sie einen „Werbefeldzug für die Diktatur“ vor, weshalb unbedingt verhindert werden müsse, dass Deutschland sich als „Wahlkampfarena“ für die Türkei missbrauchen lasse. „Meinungsfreiheit beinhaltet nicht das Recht, hier Werbung zu machen für die Einführung der Todesstrafe und eine Ein-Mann-Diktatur“, betonte Dağdelen.
Grüne demonstrieren für Freilassung Deniz Yücels
Drei Abgeordnete der Grünen demonstrierten im Plenum für die Freilassung des in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel. Sie standen nach der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin von ihren Plätzen auf und trugen weiße T-Shirts mit der Forderung „#Free Deniz“.
Nachdem Bundestagspräsident Lammert sie auf die Hausordnung verwiesen hatte, verließen sie den Saal.
Özdemir ruft Deutschtürken zu Nein zur Verfassungsreform auf
Grünen-Parteichef Cem Özdemir rief die in Deutschland lebenden Türken auf, beim türkischen Verfassungsreferendum mit Nein zu stimmen. „Unsere Demokratie ist nicht dazu da, in der Türkei eine Diktatur zu errichten“, sagte der türkischstämmige Politiker. „Nehmt den Menschen in der Türkei nicht die Freiheit, die ihr hier in unserem Land gemeinsam mit uns genießt.“ Darüber hinaus warb er für die Schaffung eines deutschtürkischen Fernsehsenders, „eine Art deutsch-türkisches Arte“, um Deutsch-Türken auch medial und kulturell zu integrieren.
Auftrittsverbote für türkische Politiker in Deutschland lehnte Özdemir ab. „Zu einer Türkei-Strategie muss auch gehören, dass wir sagen: Ihr könnt hier auftreten, weil das unseren demokratischen Grundsätzen entspricht“, sagte er. „Aber wir erwarten von der Türkei im Gegenzug eine Geste des guten Willens.“ Konkret forderte Özdemir die Freilassung des in Untersuchungshaft sitzenden deutschen Journalisten Deniz Yücel sowie des inhaftierten Vorsitzenden der kurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtaş.
Entschließungsanträge der Linken abgelehnt
Die Linke hatte zur Regierungserklärung zwei Entschließungsanträge vorgelegt. Mit 455 Nein-Stimmen gegen 110 Ja-Stimmen scheiterte ihr Entschließungsantrag (18/11429), in dem die Fraktion verlangte, dass der Bundestag sich gegen die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts bis 2024 ausspricht. Diese Erhöhung sei auf den Nato-Gipfeln in Wales und Warschau beschlossen, beim Europäischen Rat am 15. Dezember 2016 debattiert und im „Bericht über die europäische Verteidigungsunion“ des Europaparlaments gefordert worden.
Im zweiten Entschließungsantrag (18/11430) fordert Die Linke, eine militärische Planungs- und Führungsfähigkeit (MPCC) abzulehnen. Am 6. März habe der Rat für Auswärtige Angelegenheiten der EU die Absicht bekundet, eine solche „Vorstufe für ein militärisches Hauptquartier“ einzurichten. Die Linke will, dass die Bundesregierung die Umsetzung dieses Vorhabens in den EU-Gremien verhindert. Ebenso fordert die Fraktion die Regierung auf, dem Europäischen Rat vorzuschlagen, die Operationen „EUNAVFOR Atalanta“ und „EUTM Somalia“ umgehend einzustellen und die dadurch freiwerdenden Mittel für die Bekämpfung der aktuellen Dürrefolgen in Ostafrika zur Verfügung zu stellen. Alle übrigen Fraktionen lehnten diesen Entschließungsantrag ab. (joh/09.03.2017)