Parlament

Rede anlässlich der Eröffnungsfeier „200 Jahre Ludwig Windthorst“ des Ludwig-Windthorst-Kreises am 9. Januar 2012 in Osnabrück

Herr Vorsitzender, lieber Herr Fritz Brickwedde,
sehr geehrter Herr Bischof,
liebe aktive und ehemalige Mitglieder des Europäischen Parlaments, des
Deutschen Bundestages, des niedersächsischen Landtages,
Herr Bürgermeister,
meine Damen und Herren,
liebe Schüler und Lehrer des Gymnasiums Carolinum,

ich möchte mich zunächst herzlich bedanken für die freundliche Einladung und die besonders liebenswürdige Begrüßung. Ich freue mich, dass ich in diesem Jahr, in dem wir aus gutem Grund an Ludwig Windthorst erinnern, gleich zu Beginn mit dabei sein kann. Und ich freue mich besonders, dass diese Veranstaltung nicht irgendwo, sondern in diesem ehrwürdigen Gymnasium stattfindet. Ich habe, um an die Bemerkung von Fritz Brickwedde anzuknüpfen, auch einmal eine Schulbank gedrückt, nachprüfbar nicht hier, damit habe ich mich auch den
subtilen Leistungsvergleichen kunstvoll entzogen, wie sie Fritz Brickwedde glaubte zu früheren Schülern und deren Leistungsfähigkeit oder -bereitschaft schon bei der Begrüßung anstellen zu müssen. Aber ich bin natürlich sehr beeindruckt, welche bemerkenswerten Persönlichkeiten auch und gerade in jüngerer Zeit aus diesem Gymnasium hervorgegangen sind.

Als ich mich auf diese Veranstaltung vorbereitet habe und dabei auch den Ort, an dem Sie stattfindet, in den Blick genommen habe, habe ich mich an meine eigene Gymnasialzeit erinnert. Sie war nämlich die Zeit, in der mein ernsthaftes Interesse an Politik begründet wurde. Und ich habe mich an zwei ganz unterschiedliche Bemerkungen erinnert, die mich damals in meinem Verhältnis zur Politik – und übrigens auch und nicht zuletzt in meinem Verhältnis zur Kirche und zu religiösen Überzeugungen auf der einen Seite und politischem Engagement auf der anderen Seite – sehr beeindruckt und auch ein Stück provoziert haben. Die eine Bemerkung, die mir aus dem Schulunterricht vertraut wurde, stammt von Dietrich Bonhoeffer, dem großen evangelischen Theologen und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Sie lautet: „Es gibt keinen Rückzugsort des Christen von der Welt (…). Jeder Versuch, der Welt auszuweichen, muss früher oder später mit einem sündigen Verfall an die Welt bezahlt werden.“ Den anderen Satz habe ich in einem der Kalenderblätter mit mal mehr, mal weniger intelligenten Sprüchen gefunden. Ich habe ihn damals in einer Mischung aus Faszination und Verärgerung abgerissen und bis heute verwahrt. Er stammt von einem französischen Publizisten, Charles Péguy, und lautet: „Solange man keine Politik betreibt, ist es nicht schwer, gleichzeitig ein guter Christ und guter Staatsbürger zu sein.“ Das ist ja mal eine Ansage, deren eigentliche Provokation in der logischen Umkehrung des gleichen Satzes besteht.

Sobald man Politik betreibt, ist es mindestens schwierig, wenn nicht ausgeschlossen, gleichzeitig ein guter Christ und ein guter Staatsbürger zu sein. Ob das die einzige Motivation für mich gewesen ist, mich trotzdem oder
deswegen auf dieses Glatteis zu begeben, weiß ich nicht, aber es hat mich immer wieder über die Jahre und Jahrzehnte hinweg als provozierende Mahnung begleitet. Und ich muss vermutlich nicht erläutern, warum mir diese beiden Sätze – insbesondere der zweite – spontan wieder eingefallen sind, als ich mich mit der Frage beschäftigt habe, was lässt sich wohl zu Ludwig Windthorst sagen. Die Kurzfassung lautet: Ludwig Windthorst ist der wandelnde Gegenbeweis zu der Vermutung, die in dem zuletzt vorgetragenen Zitat zum Ausdruck gekommen ist. Es mag schwierig sein, aber es ist möglich, gleichzeitig guter Christ und guter Staatsbürger zu sein.

Meine Damen und Herren, als Ludwig Windthorst vor 200 Jahren geboren wurde, wurde er in ein Deutschland hineingeboren, das mit dem Land, in dem wir heute leben, von der Geografie mal abgesehen, nicht viele Ähnlichkeiten hatte. Das sogenannte Heilige Römische Reich deutscher Nation war kurze Zeit vorher sangund
klanglos, beinahe unauffällig, aufgelöst worden. Deutschland befand sich politisch in einer diffusen  Übergangsphase zwischen absoluter Monarchie und konstitutioneller Monarchie, feudaler Standesgesellschaft und bürgerlichen Aufbruchsbewegungen. Europa war geprägt von den Schlägen der napoleonischen Kriege, Deutschland ein Flickenteppich von Territorien mit mehr, meist aber weniger ausgeprägter Staatlichkeit. Und für diejenigen, die gelegentlich aus verständlichen Gründen darüber zu verzweifeln drohen, dass die Europäische Gemeinschaft, in der wir heute leben, beinahe und demnächst ganz sicher 30 Staaten als Mitglieder organisieren soll und will, lohnt gelegentlich der Hinweis darauf, dass das ein Zehntel der rund 300 Staaten ausmacht, die es
allein in Deutschland bis zum Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation einmal gegeben hat.

Ludwig Windthorst ist nach meiner festen Überzeugung aus vielen Gründen eine für uns nach wie vor nicht nur eindrucksvolle historische Persönlichkeit, sondern ein wichtiger Orientierungspunkt, nicht zuletzt auch deswegen, weil er in seinem beruflichen und politischen Wirken eine zwar unterschiedlich
ausgeprägte, aber jeweils intensive Befassung sowohl mit der Exekutive, Legislative und Judikative aufweist. Nach seinem Jurastudium in Göttingen und Heidelberg war seine erste berufliche Verwendung die eines Richters am höchsten Gerichtshof des Königreichs Hannover. Er hat dann, was auch nicht mehr viele wissen, erfolglos für die Frankfurter Nationalversammlung kandidiert, und es ist schon mehr als eine schöne Spekulation, ob und was es wohl hätte ändern können, wenn jemand von seinem Zuschnitt und seinem Kaliber tatsächlich Mitglied der Paulskirche geworden wäre, dieser ebenso ehrgeizigen wie erfolglosen ersten parlamentarischen Anstrengung, Deutschland demokratisch zu einen. Er wurde dann als Abgeordneter in die zweite Kammer der allgemeinen Ständeversammlung des Königreichs Hannover gewählt, dessen Präsident er von 1851 bis 1853 war, bis er zum Justizminister des Königreichs Hannover benannt wurde.

Meine Freude, heute mit dabei sein zu können, hängt also auch ein kleines bisschen damit zusammen, dass Ludwig Windthorst einer meiner zahlreichen Amtsvorgänger im Amt des Parlamentspräsidenten ist. Das ist inzwischen nicht mehr ganz so selten, wie das damals noch der Fall war. Aber wahr ist, und ich will das unterstreichen, was sowohl Fritz Brickwedde wie der Bischof in ihren Begrüßungsreden gesagt haben: Ludwig Windthorst ist eine große Gestalt des deutschen Parlamentarismus. Er ist zweifellos einer der ganz wichtigen
Wegbereiter des demokratischen Rechtsstaates. Er ist eine herausragende Persönlichkeit im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion, Begründer und Führer des Zentrums und ein Christdemokrat, wie er im Buche steht: Christ und Demokrat und der Beleg dafür, dass beides gleichzeitig möglich ist.

Ludwig Windthorst ist genau 100 Jahre nach Friedrich II. geboren, an dessen Geburtstag wir in diesem Jahr, wie ich vermute, noch auffälliger erinnern werden, als es für Ludwig Windthorst zu erwarten steht. Zweifellos unterscheidet die beiden Männer mehr als sie miteinander verbindet, mindestens teilen sie aber miteinander, dass sie beide ihre überschaubare Körpergröße durch ihre politische Bedeutung bei weitem überboten haben.

Als Ludwig Windthorst 1853 zum Justizminister des Königreichs Hannover gewählt wurde, soll der damalige protestantische Oberbürgermeister von Osnabrück erklärt haben: „Der fähigste unter den neuen  Regierungsmitgliedern ist ohne Zweifel Windthorst, ein Katholik, ein echter Jesuit, dem Junkertum zugetan, schlau, unverschämt, wenn’s sein muss. Er wird die übrigen einsacken.“ Und ein zweiter, damals weitverbreiteter Kommentar zu seiner Tätigkeit als Justizminister lautete: „Im Ministerium riecht’s nach Weihrauch“. Ob das zutrifft, wird mit dem zeitlichen Abstand nur noch schwer verlässlich zu überprüfen sein. Immerhin, so denke ich, ist die Schlussfolgerung erlaubt, dass es üblere denkbare Gerüche in deutschen Ministerien gibt als Weihrauch.

Seine große Zeit begann mit seiner Wahl zum Abgeordneten des Reichstages, zunächst im Norddeutschen Bund und dann im Kaiserreich. Dem Reichstag hat er von 1871 bis zu seinem Tod 1891 zwanzig Jahre angehört. Hier hat er ganz sicher und unter vielerlei Gesichtspunkten die Rolle seines Lebens gefunden. Er war der unbestrittene Führer, wenn auch nie der Vorsitzende des Zentrums, und er hat diese Partei mit dem besonderen Selbstverständnis einer durch Glauben, durch religiöse Überzeugungen geprägten Orientierung als Grundlage für
politisches Handeln in einer ebenso beispiellosen wie beispielhaften Weise profiliert, wobei man, mit dem großen zeitlichen Abstand von inzwischen zwei Jahrhunderten, gelegentlich daran erinnern muss, dass das für ihn und andere keineswegs immer gemütlich gewesen ist. Nicht alle haben an ihm immer nur Freude gehabt. Und er vermutlich an manchen seiner Kombattanten und tatsächlichen wie vermeintlichen Konkurrenten auch nicht. Das hängt ganz wesentlich auch damit zusammen, dass er sich in all diesen Jahren nie die eigene Urteilsbildung von anderen hat abstreiten oder abnehmen lassen. Wenn ich Ludwig Windthorst ausdrücklich als eine der großen Gestalten des deutschen Parlamentarismus würdige, dann insbesondere wegen dieser souveränen Sturheit, die unter vielen nützlichen und notwendigen Qualifikationen für die Übernahme öffentlicher Ämter vielleicht die wichtigste einzelne Qualifikation darstellt, jedenfalls darstellen sollte.

Ludwig Windthorst hat im berühmt-berüchtigten preußischen Kulturkampf ganz selbstverständlich die Interessen der Kirche gegenüber dem Staat vertreten, aber zu glauben, er habe es in einem ununterbrochenen und unerschütterlichen Schulterschluss mit dem Vatikan getan, verkennt nicht nur die Kompliziertheit der damaligen Verhältnisse, sondern auch die gelegentlichen Winkelzüge des Vatikans. Von den Zeiten sind wir ja glücklicherweise inzwischen fast zwei Jahrhunderte entfernt, so dass es besonders schön ist, bei einer solchen
Veranstaltung neben den Aktualitäten auch die historischen Unterschiede festhalten zu können. Aber zu der von mir ausdrücklich gerühmten Unabhängigkeit von Ludwig Windthorst gehört eben auch, dass er sich die Freiheit der eigenen Meinung und des eigenen Urteils immer dann genommen hat, wenn er dazu Grund und Anlass sah. Er hat beispielsweise nicht gezögert, mit den Sozialdemokraten gegen das Sozialistengesetz zu stimmen, von dem das Zentrum unmittelbar ja nicht betroffen war, und das man bei einer kleingeistigen Betrachtung ja auch für eine Wettbewerbserleichterung anderer politischer Gruppierungen hätte halten können.

Ein besonderer Anwendungsfall dieser gelegentlichen Reibungen war der sogenannte „Septennatsstreit“, der im Jahr 1887 ausgetragen wurde und mit Bismarcks Forderungen zusammenhing, den Heeresetat gleich für sieben Jahre festzulegen. Diese für jeden Parlamentarier und parlamentarische Budgetrechtsvorstellungen einigermaßen kuriose Vorstellung fand – wie ich nicht weiter erläutern muss – Bismarck aus anderen Gründen außerordentlich naheliegend. Und aus nicht ganz so offensichtlichen Gründen fand sie die Unterstützung des Vatikans, nicht aber die von Ludwig Windthorst, dem das parlamentarische Budgetrecht um Längen wichtiger war als die taktischen Interessen, die der Vatikan – aus zugegeben natürlich wieder verständlichen Gründen – zur Befriedung von Auseinandersetzungen mit dem preußischem Staat durch Zugeständnisse an dieser Stelle glaubte befördern zu können. Deswegen ist es sicher kein Zufall, dass eine der großen Reden von Ludwig
Windthorst, die genau diese Unabhängigkeit nach der einen wie der anderen Seite zum Gegenstand hatte, in genau diesem Jahr 1887, am 6. Februar in Köln, gehalten wurde. In ihr unterstrich Ludwig Windthorst die Unabhängigkeit des Zentrums vom Papst und die Unterscheidung zwischen kirchlichen Belangen auf
der einen Seite und politischen Sachfragen auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung ist uns bis heute erhalten geblieben – und der Streit darüber, was auf die eine und die andere Seite gehört, auch.

Es kann nach diesen wenigen Hinweisen auf seine Biografie nur noch begrenzt überraschen, dass sein heftigster, erbittertster Gegner, nämlich Otto von Bismarck, zugleich sein größter Bewunderer war. Von Otto von Bismarck gibt es eine Serie von Zitaten über Ludwig Windthorst, die der Reihe nach vorzutragen, den heutigen Abend alleine füllen würde. Ich will mich auf zwei beschränken, die auf zwei jeweils charakteristische Aspekte aufmerksam machen, die zur Beschreibung von Rolle und Selbstverständnis von Ludwig Windthorst besonders
gut geeignet sind. Schon 1872, also ein Jahr nach Gründung des Deutschen Reiches und dem Einzug von Ludwig Windthorst in den Deutschen Reichstag, erklärt Otto von Bismarck zur Rolle Windthorsts im politischen Katholizismus: „Es bestand, ehe die Zentrumsfraktion sich bildete, eine Fraktion, die man als ‚Fraktion Meppen’ bezeichnete; sie bestand, soviel ich mich erinnere, aus einem einzigen Abgeordneten, einem großen General ohne Armee. Indessen, wie Wallenstein, ist es ihm gelungen, eine Armee aus der Erde zu stampfen.“ Und das zweite Zitat, bei denen Ihnen die Unterschiede zu den heutigen Verhältnissen auch sofort auffallen werden, stammt aus dem Jahre 1890, also kurz vor Ende des politischen Wirkens von Ludwig Windthorst: „Es gibt nicht
zwei Seelen in der Zentrumspartei, sondern sieben Geistesrichtungen, die in allen Farben des politischen Regenbogens schillern, von der äußersten Rechten bis zur radikalen Linken. Ich für meinen Teil bewundere die Kunstfertigkeit, mit welchen der Kutscher des Zentrums all diese auseinanderstrebenden Geister so elegant zu lenken versteht.“

Meine Damen und Herren, Ludwig Windthorst war, so klein von Gestalt er auch gewesen ist, ein großer Taktiker und gewiefter politischer Stratege. Er hat mit einem unbändigen Elan und der bereits hervorgehobenen souveränen Sturheit die Wahrung von Menschenrechten, insbesondere von Minderheitenrechten, um welche Minderheiten auch immer es sich handelte, gegen preußische Machtansprüche verteidigt, ganz besonders, aber keineswegs ausschließlich die Religionsfreiheit der Katholiken während des sogenannten Kulturkampfes. Er war
als Repräsentant der Zentrumspartei zugleich die eindrucksvollste Verkörperung der Eigenständigkeit der Politik auch und gerade gegen kirchliche Bevormundungsversuche. Und er war, was man auch nicht unterschätzen darf,
weil dies wiederum zu den scheinbaren Selbstverständlichkeiten unseres heutigen politischen Lebens gehört, einer der ersten Berufsparlamentarier, der ausschließlich von seiner jährlichen Pension lebte, nämlich der Pension, die er nach der Entlassung aus dem Amt des Justizministers des Königreiches Hannover bezog. Aus dieser jährlichen Pension bestritt er brav alle Auslagen, einschließlich der Reisekosten und des Briefportos.

Otto von Bismarck wusste vermutlich sehr genau, warum er gegen hauptberufliche Parlamentarier war, und warum die einzige für ihn vorstellbare – und deswegen zu seinen Lebzeiten auch einzig realisierbare – Lösung die von Freizeitparlamentariern sein sollte, die für die Bestreitung ihrer Aufwendungen Diäten als Tagespauschalen bekamen, aber natürlich kein Gehalt. Damit wollte er sicherstellen, dass nur Leute in Parlamenten tätig werden konnten, die sich wegen anderer Einkommensquellen ein solches Engagement erlauben konnten. Und bei dem ausgeprägt herzlichen Dauerverhältnis zwischen Otto von Bismarck und Ludwig Windthorst würde es mich nicht völlig verblüffen, wenn er für ihn geradezu das lebende abschreckende Beispiel für die Aussichten gewesen sein sollte, die von einem – von ihm ohnehin nicht gewünschten – deutschen
Parlamentarismus drohten, wenn dort selbstbewusste Abgeordnete versammelt wären, die dieses Mandat gleichzeitig als bezahlten Beruf ausüben können würden.

Dass Ludwig Windthorst nebenbei nicht nur ein besonders fleißiger, sondern ein mehr als rekordverdächtiger Parlamentarier war, wird in der geradezu unglaublichen Zahl deutlich, dass er in deutschen Parlamenten über 2.200 mal das Wort ergriffen haben soll. Ich habe jetzt nicht mehr die Zeit gehabt nachzuprüfen, ob er – was sicher verdient wäre – damit im Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet ist, jedenfalls kann ich mir kaum vorstellen, dass es in der deutschen Parlamentsgeschichte, aber möglicherweise auch anderswo, irgendjemanden gegeben hat, der an diese Zahl heranreichte oder sie gar überböte.

Nun war – quantitativ betrachtet – Ludwig Windthorst offenkundig ein Vielredner, aber es gibt zwei Aspekte, unter denen ich ihn wiederum geradezu vorbildlich finde – und nach wie vor aktuell. Erstens: Ludwig Windthorst hat oft geredet, aber fast immer kurz. Er hat damit nicht wirklich stilbildend gewirkt, was ich sehr bedauere, aber er hätte vermutlich die parlamentarische Wirkung, die er zweifellos hatte, gar nicht entfalten können, wenn er seine Kollegen und die Öffentlichkeit durch endlose Ansprachen strapaziert hätte. Nein! Ludwig Windthorst war der Debattenredner, der durch kurze präzise Reden und noch präzisere Zwischenrufe die Aufmerksamkeit des Plenums und der Öffentlichkeit erreichte. Und auch, wenn historisch verbürgt ist, dass es einen relativ banalen
praktischen Grund dafür gab, will ich eine zweite damit verbundene Eigenschaft ausdrücklich als beachtlich und vorbildlich hervorheben, nämlich die, dass er grundsätzlich nicht vom Rednerpult, sondern von seinem Platz aus gesprochen hat. Der praktische Grund war sehr einfach. Er hatte die Sorge, dass ihn hinter dem Rednerpult niemand mehr sehen könnte und zog es deswegen vor, vom Platz aus zu reden. Bedauerlicherweise haben die meisten heutigen Parlamentarier diese Sorge nicht und laufen mit Fleiß zum Podium und müssen – jedenfalls nach meiner Erfahrung – spätestens auf der Strecke von ihrem Platz zum Pult von dem missionarischen Eifer erwischt werden, nun eine bedeutende Rede halten zu müssen. Darunter leidet der deutsche Parlamentarismus bis heute in einem erheblichen Umfang. Denn in Parlamenten sollen nicht möglichst oft bedeutende Reden gehalten werden, es soll debattiert werden. Und deswegen würde mir eigentlich eine Debattenkultur, wo es kurze präzise Diskussionsbeiträge vom Platz aus gibt, wesentlich besser gefallen, als die Art, wie wir das nun seit vielen Jahrzehnten praktizieren. Ich weiß, lieber Hans-Gert Pöttering, dass das Europäische Parlament – aus wiederum anderen Gründen – dem Bundestag und anderen nationalen Parlamenten in dieser Hinsicht voraus
ist, es wird wohl weniger mit der Großwüchsig- oder Kleinwüchsigkeit der Abgeordneten, sondern mit der Sprachenvielfalt zusammenhängen. Gleichwohl ist dies schon ein Punkt, dessen Bedeutung man für das Klima der Auseinandersetzungen keineswegs unterschätzen sollte.

Ich will, wenn Sie dafür noch einen Augenblick Geduld haben, über die Schilderung der Biografie und der Bedeutung Ludwig Windthorst in seiner Zeit hinaus ein paar, soweit das möglich ist, verallgemeinernde Bemerkungen machen, zu dem Verhältnis von Staat und Kirche, Politik und Religion, das sich mit Ludwig Windthorst mehr als vermutlich mit irgendeiner zweiten einzelnen Persönlichkeit in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus verbindet.

Religion ist natürlich zunächst einmal und in erster Linie Privatsache. Am Anfang wie am Ende eines Menschenlebens ist das ganz offensichtlich. Aber dass Religion mehr ist als eine private Angelegenheit, davon war Ludwig Windthorst Zeit seines Lebens nicht nur überzeugt, sondern er war ein überzeugender
Verkünder dieser Überzeugung. Inzwischen haben wir auch jenseits der Lebenszeit von Ludwig Windthorst manche historischen Erfahrungen mit Gesellschaften gemacht, die geglaubt haben, dass ihnen die ultimative
Distanzierung von jeder Art religiöser Orientierung einen Zuwachs von Humanität, mindestens aber von Modernität sichern könnte; übrigens auch in der deutschen Geschichte nach Ludwig Windthorst. Die jeweiligen Gesellschaften sind durch eine solche zum Prinzip erhobene Distanz gegenüber Religion und
religiösen Überzeugungen nicht moderner geworden – und schon gar nicht humaner.

Ludwig Windthorst hat damals in der doppelten Rolle als überzeugter Christ und als engagierter Staatsbürger für eine Verbindung und zugleich konsequente Trennung von Politik und Religion geworben, von Glauben und Handeln, von der ich persönlich glaube, dass sie heute am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht weniger wichtig und nicht weniger aktuell ist als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dass die moderne Politik, dass die Welt von heute, in der wir leben, auch und gerade der vielbeschworene „Westen“, ohne den Beitrag der Religionen weder zu erklären noch zu verstehen ist, dafür gibt es hinreichend viele und häufig zitierte Belege. Das, was in einer konkreten Gesellschaft an Orientierungen, an Werten, an möglichen Verbindlichkeiten vorhanden ist, die über individuelle Interessen hinausgehen, speist sich ganz wesentlich aus religiösen Überzeugungen. Zu dieser Einsicht kann und muss man übrigens völlig unabhängig von eigenen religiösen Überzeugungen kommen. Eine der spektakulärsten Belege für diesen offenkundigen Zusammenhang hat Jürgen
Habermas in seinem denkwürdigen Dialog mit dem damaligen Präfekten der Römischen Glaubenskongregation Kardinal Ratzinger geliefert. Beide haben sicher bei ihrer inzwischen berühmten ersten persönlichen Begegnung in der Katholischen Akademie in München zu nachhaltigen Irritationen in den jeweiligen Fanclubs gesorgt. Jürgen Habermas, der ja gelegentlich mit dem Hinweis kokettiert, dass er ein religiös unmusikalischer Mensch sei, weist mit umso größerem Nachdruck, aber gleichzeitig auch umso größerer Unbefangenheit darauf hin, dass die Zivilisation des Westens ohne die Quellen religiöser Überzeugungen und Tradition weder zu verstehen noch zu bewahren sei, so dass auch und gerade der säkulare Staat nicht nur legitimiert, sondern verpflichtet sei,
die Lebendigkeit dieser Traditionen und dieser geistigen Quellen des eigenen Staatsverständnisses zu sichern.

Religion ist nicht die einzige, aber sie ist ganz sicher eine unverzichtbare Quelle von Werten in einer Gesellschaft, von Überzeugungen, die über die eigene Person hinaus Geltung beanspruchen. Ich will in diesem Zusammenhang auf eine Gemeinsamkeit und eine Besonderheit zwischen Politik und Religion aufmerksam machen, weil sie fast alleine erklärt, warum uns das Spannungsverhältnis, in dem schon Ludwig Windthorst gelebt hat, zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion, nicht nur bis heute erhalten geblieben ist,
sondern nach menschlichem Ermessen auch erhalten bleiben wird. Religion ist – ebenso wie Politik – der Versuch der Domestizierung von Gewalt, entweder durch Sinngebung, durch Vermittlung zeitlos gültiger verbindlicher Werte oder durch Strukturen, durch Institutionen, durch Verfahrensregeln, die die Anwendung von Gewalt bei der Austragung von Interessen entweder ausschließen oder soweit wie eben möglich eingrenzen. Der erste Versuch der Domestizierung von Gewalt ist der Versuch der Domestizierung durch Religion, der zweite durch Politik. Historisch betrachtet sind beide Versuche nur begrenzt erfolgreich gewesen und werden gleichwohl für nicht aufgebbare Errungenschaften gehalten, ohne die eine Gesellschaft mit ihren Konflikten, die es sicher immer geben wird, ganz offenkundig nicht zurande käme.

Und damit bin ich bei dem zweiten Punkt, auf den ich kurz hinweisen möchte, der neben der Gemeinsamkeit von Politik und Religion in dem Bemühen um Eingrenzung von Gewalt den wesentlichen fundamentalen Unterschied
beschreibt. Religion handelt von Wahrheiten, Politik handelt von Interessen. Das ist erkennbar nicht dasselbe. Und es ist auch nicht austauschbar. Religionen handeln von Wahrheiten. Indem sie das tun, integrieren sie und desintegrieren sie zugleich Gesellschaften. Es ist bestenfalls gut gemeint, aber nicht wirklichkeitsnah, Kulturen im Allgemeinen und Religionen im Besonderen als prinzipiell integrationsstiftend oder integrationsfördernd beschreiben zu wollen. Sie sind bei genauem Hinsehen das eine wie das andere. Sie tragen zur Entstehung von Konflikten bei und können bei intelligenter Wahrnehmung und Handhabung bei deren friedlicher Austragung helfen. Für beides gibt es zahlreiche historische Beispiele, man kann im Kontext des Windthorst-Jahres auf
den preußischen Kulturkampf als das eine, vergleichsweise übersichtliche Beispiel hinweisen, oder auf die Erfahrung von Multikulturalität in Zeiten der Globalisierung mit all den Verirrungen fundamentalistischer Glaubensverständnisse, die das 21. Jahrhundert prägen.

Wenn ich auf diese Gemeinsamkeiten und die damit zugleich auch verbundenen Unterschiede aufmerksam mache, dann deswegen, weil es mir vor allen Dingen auf folgende Einsicht ankommt: Der Anspruch auf Wahrheit schließt Abstimmungen aus. Mehrheiten können über Wahrheiten nicht entscheiden. Wahrheiten sind nicht abstimmungsfähig und Mehrheiten sind nicht wahrheitsfähig. Die zweite Einsicht ist fast noch schmerzlicher als die erste, zumal wiederum ein nüchterner Blick in die politische Kultur unseres Landes schwerlich übersehen lässt, dass es zu den Großzügigkeiten gehört, dass sich bei uns Mehrheiten besonders gerne einreden, das Vorhandensein dieser Mehrheit sei der Nachweis der Richtigkeit der eigenen Meinung. Tatsächlich ist logisch das
Gegenteil wahr. Hätte man die Richtigkeit der eigenen Überzeugung belegen können, wäre die Abstimmung unnötig gewesen. Sie hat stattgefunden, weil überhaupt niemand mit Schlüssigkeit für alle die offensichtliche Richtigkeit dieses statt jenes Interesses hat belegen oder beweisen können, so dass man sich vernünftigerweise auf die allgemeine Verfahrensregel verständigt hat, dass das gelten soll, was die Mehrheit beschließt, ohne das es damit wahr würde. Es gilt deswegen folgerichtig auch nur solange, bis neue Mehrheiten anderes beschließen, die sich dann meistens wiederum einbilden, jetzt sei ihre Meinung wahr und nicht nur gültig.

Meine Damen und Herren, unsere Kultur, die ja über Jahrhunderte gewachsen ist und die so, wie sie gewachsen ist, ohne den überragenden Beitrag der christlichen Religion und der christlichen Kirchen ganz sicher nicht hätte
wachsen können, zeichnet sich im Kern durch eine einzigartige Verbindung von Glaube und Vernunft aus, mit dem für unser Staatsverständnis konstitutiven Aspekt des Verzichts auf absolute Wahrheitsansprüche, die jedenfalls eine politische Entscheidung nie legitimieren können. Der Anspruch, recht zu haben, reicht als politische Legitimation in keinem Fall aus. Das ist ebenso bitter wie hilfreich, wenn man es denn nur einmal begriffen hat. Es ist bitter dann, wenn man sich in einer Mehrheitsposition befindet, und der gleiche Gedanke ist eine unersetzbare Quelle des Trostes, wenn man sich vorübergehend und unverdientermaßen in Minderheits-, sogar in Oppositionsverhältnissen wiederfindet, dass die Mehrheit zwar legitimerweise tut, was sie tut, aber damit noch lange nicht recht hat, und dass andere Mehrheiten auch zu anderen Entscheidungen kommen können.

Ich persönlich zögere keinen Augenblick – nicht nur, aber ganz besonders auch unter dem Eindruck der überragenden Lebensleistung von Ludwig Windthorst – zu sagen, dass Politik ohne ein festes Fundament von Überzeugungen, aus denen heraus sich überhaupt ein plausibler Geltungsanspruch herleiten lässt, ohne
verbindliche Orientierung also, zu einer reinen Selbstinszenierung von Macht verkommt. Politisches Handeln darf nicht allein auf Zweckmäßigkeitsfragen reduziert werden, auf das virtuose Abarbeiten von wechselnden Fallkonstellationen. Aber dass Politik etwas anderes ist und auch etwas anderes sein muss als Religion, auch nicht die Verlängerung von Religion mit anderen Mitteln, das ist jedenfalls eine gefestigte Überzeugung der westlichen Zivilisation.

Deswegen, meine Damen und Herren, ist das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Politik, zwischen Glauben und Handeln nicht auflösbar. Es wäre nur auflösbar um den Preis der wechselseitigen Banalisierung. Religion ist aber nicht banal und Politik auch nicht. Dies erfordert immer wieder die Besinnung sowohl auf das Gemeinsame als auch auf das jeweils Besondere.

Papst Benedikt hat in seiner denkwürdigen Rede vor dem Deutschen Bundestag vor wenigen Wochen auf einen dieser zentralen Aspekte noch einmal ausdrücklich aufmerksam gemacht. Letzter Maßstab und Grund für seine Arbeit als Politiker dürfen nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein.
„Die Politik“, so Papst Benedikt vor dem Deutschen Bundestag, „die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen. Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, der ihm überhaupt die Möglichkeit politischer Gestaltung eröffnet. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet.“ Das hätte, so wie ich ihn einschätze, Ludwig Windthorst sofort gegengezeichnet, ohne dass sich damit alle gelegentlichen mehr oder weniger kleinen Auseinandersetzungen in Wohlgefallen aufgelöst hätten. Und vielleicht hätte ihm – wie im Übrigen mir – dieser Satz aus der Papstrede, die er leider nicht mehr hören konnte, besonders gut gefallen, den ich zum Schluss zitieren möchte. „Wir können doch nicht verbergen, dass wir in dieser selbstgemachten Welt im Stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.“ Das hätte Ludwig Windthorst gefallen. Mir gefällt es außergewöhnlich gut, und es ist eine herrliche, aber keineswegs einfache Orientierung für den Umgang mit Herausforderungen und Wertüberzeugungen – auch und gerade im 21. Jahrhundert.