Ungereimtheiten bei Ermittlungen zum Mord an Halit Yozgat
Der Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel ist der neunte und letzte Fall in der sogenannten Česká-Mordserie, die heute der rechten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) zugerechnet wird. Mit den offenen Fragen, die der Fall nach wie vor aufwirft, hat sich am Donnerstag, 15. Dezember 2016, der 3. Untersuchungsausschuss (NSU II) des Bundestages unter Vorsitz von Clemens Binninger (CDU/CSU) befasst.
Allen bisherigen Erkenntnissen nach betraten die NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am frühen Abend des 6. April 2006 das Internetcafé des damals 21-jährigen Halit Yozgat und schossen ihm zweimal aus kurzer Distanz in den Kopf. Obwohl sich zum Tatzeitpunkt insgesamt sechs weitere Personen in den Telefonkabinen und Computerräumen des Cafés aufhielten, gab es keine Augenzeugen und die Täter konnten unbemerkt flüchten. Einer dieser sechs Personen war kurioserweise ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, der damalige V-Mann-Führer Andreas Temme.
Erhebliche Zweifel an Aussagen Temmes
Was Temme genau am Tatort trieb, ist bis heute ungeklärt. Weil er sich als Zeuge nicht bei der Polizei meldete, geriet Temme zunächst unter Tatverdacht und wurde am 21. April 2006 vorläufig verhaftet. Die Ermittler stießen erst durch die Auswertung eines der Computer im Internetcafé auf ihn. An dem PC hatte sich Temme kurz vor dem Tatzeitpunkt privat in einem Chat eingeloggt.
In den zahlreichen Aussagen, die Temme seitdem bei der Polizei, vor Gericht und in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen gemacht hat, beteuerte er stets, von dem Mord nichts mitbekommen zu haben. Auch die Leiche habe er beim Verlassen des Cafés nicht gesehen. Daran bestehen weiterhin erhebliche Zweifel. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde trotzdem im Januar 2007 eingestellt. Auch die Richter am Münchner Oberlandesgerichts haben Temmes Aussagen trotz aller Zweifel als glaubwürdig anerkannt.
Umgang mit Andreas Temme scharf kritisiert
Zu den damaligen Ermittlungen befragte der Ausschuss unter anderem den Kasseler Staatsanwalt Götz Wied, der ab 2006 das Mordverfahren im Fall Yozgat leitete, bis es nach der Enttarnung des NSU im November 2011 vom Generalbundesanwalt übernommen wurde. Im Zentrum der Vernehmung stand die Frage, ob gegen Temme als Tatverdächtigen tatsächlich umfassend ermittelt worden ist und warum das entsprechende Ermittlungsverfahren so schnell eingestellt worden ist. Dies ist, so ließen die Abgeordneten immer wieder durchblicken, nicht der Fall. Insbesondere wollte der Ausschuss aufklären, ob Temme im Vorfeld der Tat relevante Informationen über den geplanten Mord hatte oder ob er sogar daran beteiligt war.
Die Abgeordneten kritisierten mitunter scharf, wie damals mit Temme als Tatverdächtigem umgegangen worden ist. Laut des Abgeordneten Thorsten Hoffmann (CDU/CSU) ist die Polizei am 21. April 2016 um 17 Uhr zu Temme nach Hause gefahren, um ihn als Tatverdächtigen vorläufig festzunehmen und seine Wohnung zu durchsuchen.
„Verzicht auf Hausdurchsuchung war ein Fehler“
Temme habe sich daraufhin den Beamten als Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen zu erkennen gegeben, worauf diese vorerst auf eine Hausdurchsuchung verzichteten. Das sei ein Fehler gewesen, gab Wied nun zu. Seiner Kenntnis nach habe es auch keine Maßnahmen von Seiten der Polizei gegeben, die Wohnung zu sichern, um einer möglichen Vernichtung von Beweisen vorzubeugen
Auch fragten die Abgeordneten nach der Aussage eines der im Café anwesenden Zeugen, der behauptet hatte, Temme habe eine Plastiktüte mit sich getragen, in der sich ein schwerer Gegenstand befunden habe. Wied sprach daraufhin von mehreren Unstimmigkeiten in den Aussagen des besagten Zeugen. So habe dieser in einer erster Vernehmung noch behauptet, mit dem Vater von Halit Yozgat gesprochen zu haben, später meinte er, es sei das Opfer selbst gewesen.
„Plastiktüte nur auf konkrete Nachfragen erwähnt“
Von Temme habe er überhaupt erst in der späteren Vernehmung berichtet. Die Plastiktüte habe er auch nur auf konkrete Nachfragen der Beamten erwähnt. Außerdem gab er an, im Café ein Computerspiel gespielt zu haben, was sich anhand der Computerdaten nicht bestätigte.
Warum Wied darauf verzichtete, einen Haftbefehl gegen Temme zu erlassen, konnte der Staatsanwalt dem Ausschuss nicht wirklich plausibel machen. „Das war eine der schwersten Entscheidungen, die ich bisher treffen musste“, gab er an. Gegen einen dringenden Tatverdacht Temmes habe unter anderem gesprochen, dass bei ihm die Tatwaffe nicht gefunden werden konnte und dass er als Verdächtiger „leicht zu ermitteln“ war. Wer einen Mord begehen wolle, setze sich nicht vorher an den Tatort und melde sich dort an einem PC an, stellte Wied fest. Das habe aus seiner Sicht dagegen gesprochen, dass Temme der Täter sei.
Rechtsextreme Szene von Kassel
Immer wieder ging es auch um den rechten V-Mann Benjamin Gärtner, den Temme damals als Quelle führte und mit dem er vor und unmittelbar nach dem Mord telefoniert hatte. Der Ausschuss wollte von Wied unter anderem erfahren, welche Kenntnisse er damals über Gärtner und die rechtsextreme Szene von Kassel hatte. Wied, der bereits im November 2015 als Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen ausgesagt hatte, konnte dazu keine neuen Informationen liefern.
Er bestätigte zwar, schon damals habe es die These von einem ausländerfeindlichen Hintergrund der Česká-Morde gegeben. Man sei dieser These auch gründlich nachgegangen, habe zum Beispiel die Funkzellendaten der unterschiedlichen Tatorte verglichen. Hinweise auf die Identität der Täter oder einen Bezug zu Rechtsextremen seien nicht gefunden worden.
Auch die Person Gärtner habe man überprüft, habe ihn aber nicht mit dem Mord in Verbindung bringen können. Eine Vernehmung von Gärtner und den anderen Quellen, die Temme als V-Mann-Führer betreute, sei damals nicht möglich gewesen. Eine entsprechende Aussagegenehmigung habe das hessische Landesamt für Verfassungsschutz verweigert.
E-Mail an die Mitarbeiter
Zu Temme befragte der Ausschuss im Anschluss dessen damalige Vorgesetzte Dr. Iris Pilling, heutige Abteilungsleiterin beim Landesamt für Verfassungsschutz Hessen. Der Vorsitzende Binninger wollte wissen, ob der damalige V-Mann-Führer Temme im Vorfeld des Kasseler Mordanschlags mit der sogenannten Česká-Mordserie befasst gewesen sei. Die Česká-Mordserie wird seit 2011 dem NSU zugerechnet und ist nach der Waffe benannt, mit der Böhnhardt und Mundlos Halit Yozgat und zuvor acht weitere türkisch- und griechischstämmige Kleinunternehmer umgebracht haben.
Temme hatte im September 2012 als Zeuge vor dem ersten NSU-Ausschuss des Bundestages ausgesagt, ihm seien die Česká-Morde damals nicht bekannt gewesen. Erst später kam heraus, dass das offenbar gelogen war. Das legt zumindest eine E-Mail von Iris Pilling nahe. Am 24. März 2006, also knapp zwei Wochen vor dem Mord an Yozgat, schrieb die damalige Referatsleiterin eine E-Mail an ihre Mitarbeiter, in der sie Informationen des Bundeskriminalamts über die Česká-Morde weitergab und nachfragte, ob womöglich V-Leute in Hessen etwas darüber wüssten.
Unstimmigkeiten in Temmes Aussagen
Ob Temme diese E-Mail tatsächlich bekommen und gelesen hat, konnte Pilling nicht mit Sicherheit sagen, gab aber an, dass das sehr wahrscheinlich sei. Im weiteren Verlauf der Befragung wiesen die Abgeordneten auf eine Reihe weiterer Unstimmigkeiten in Temmes Aussagen hin. So hatte er beispielsweise angegeben, für insgesamt fünf V-Leute zuständig gewesen zu sein, vier im islamistischen Milieu sowie den V-Mann Benjamin Gärtner in der Kasseler Neonazi-Szene.
Obfrau Petra Pau (Die Linke) äußerte Zweifel an dieser Angabe: Aufgrund von Erkenntnissen, die sie öffentlich nicht zitieren dürfe, gehe sie davon aus, dass Temme noch mindestens eine weitere Quelle im Bereich Rechtsextremismus geführt habe. Hierzu wollte Pilling öffentlich keine Angaben machen.
„Umtriebiger, gewaltbereiter Rechtsextremist“
Widersprüche offenbarten sich auch in Bezug auf die Rolle des V-Manns Benjamin Gärtner. Laut Pilling war Gärtner zum Zeitpunkt seiner Anwerbung bereits im Begriff, aus der rechten Szene auszusteigen, und generell eher ein Mitläufer. Als V-Mann habe er über die rechtsradikale Deutsche Partei (DP) berichtet. Gärtner wiederum hat im Februar 2016 als Zeuge vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss ausgesagt, die DP überhaupt nicht zu kennen. Stattdessen sei er von Temme auf die Partei „Die Republikaner“ angesetzt worden.
Pau legte der Zeugin ein Foto aus dem Jahr 2005 vor, das Gärtner auf einer Neonazi-Demonstration in Göttingen zeigt. 2006 soll Gärtner laut Pau in eine Kneipenschlägerei involviert gewesen sein, an der auch weitere im NSU-Komplex bekannte Neonazis sowie ein führendes Mitglied der Rockerbande „Bandidos“ beteiligt gewesen sein sollen. Im Gegensatz zu Pilling beschrieb Pau Gärtner als umtriebigen, gewaltbereiten Rechtsextremisten, der gleich in mehreren militanten Gruppierungen mitgemischt hat. Konkrete Hinweise auf eine Verbindung von Gärtner zum NSU sind bisher jedoch nicht aufgetaucht.
Zentrale Punkte nicht beantwortet
Zentrale Punkte konnte Pilling nicht beantworten. So blieb etwa offen, was Temme und Gärtner am Tag des Mordes an Yozgat am Telefon besprachen und warum Gärtner weit oben auf einer Liste möglicher Unterstützer des NSU auftaucht, die der Generalbundesanwalt (GBA) an die Sicherheitsbehörden verschickt hat.
Der 3. Untersuchungsausschuss soll offene Fragen zur Arbeit der staatlichen Behörden bei den Ermittlungen im Umfeld der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) klären und Handlungsempfehlungen erarbeiten. (fza/16.12.2016)
Liste der geladenen Zeugen
- Dr. Götz Wied
- Dr. Iris Pilling
- Michael Stahl
- Dr. Axel Riehl
- Joachim Seeger