Keine neuen Hinweise auf weitere NSU-Verbrechen
Vernichtete Geheimdienstakten standen am Donnerstag, 24. November 2016, im Zentrum einer Zeugenbefragung des 3. Untersuchungsausschusses (NSU II) des Bundestages unter Vorsitz von Clemens Binninger (CDU(/CSU). Als Zeugen befragte der Ausschuss diesmal unter anderem einen ehemaligen ranghohen Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungschutz (BfV), der unter dem Decknamen Gerd Egevist auftrat. Mittlerweile ist Egevist pensioniert. Er war von 1996 bis 2003 Referatsgruppenleiter im Bereich Rechtsextremismus/-terrorismus – genau in der Zeit, als sich die rechte Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) formierte, untertauchte und ihre ersten Anschläge beging.
Fragen zur Operation „Rennsteig“
Die Abgeordneten fragten Egevist unter anderem zur sogenannten Operation „Rennsteig“, in deren Rahmen das BfV zwischen 1996 und 2003 mehrere Neonazis aus Thüringen als V-Männer anwarb. Ein Ziel der Operation war es, die rechtsextreme Kameradschaft „Thüringer Heimatschutz“ auszuspähen, in der auch die späteren NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe Mitglied waren.
Über die damalige Werbungsaktion ist ansonsten nicht viel bekannt, auch deshalb, weil die entsprechenden Akten im Jahr 2011 von einem Mitarbeiter des BfV geschreddert wurden, kurz nachdem der NSU enttarnt worden war. Der brisante Vorgang wurde als „Aktion Konfetti“ in den Medien bekannt und führte unter anderem dazu, dass der damalige BfV-Präsident Heinz Fromm zurücktreten musste.
„Nur sehr oberflächlich mit der Operation Rennsteig befasst“
Ein Teil der vernichteten Akten konnte mittlerweile rekonstruiert werden. Jedoch ist weitgehend unklar geblieben, ob die rekrutierten Spitzel vom NSU wussten und entsprechende Informationen an den Verfassungsschutz weitergaben. Das BfV beteuert, von seinen V-Leuten nicht über den NSU und seine Taten unterrichtet worden zu sein.
Egevist gab an, „nur sehr oberflächlich“ mit der Operation Rennsteig befasst gewesen zu sein. Für die Quellenforschung und -werbung sei er nicht zuständig gewesen. Sein Bereich habe sich unter anderem um die Führung der V-Leute gekümmert. Detailliert fragten die Ausschussmitglieder nach den enttarnten V-Männern „Corelli“, „Primus“ und „Tarif“, die alle im Umfeld des NSU aktiv waren.
„Marschner war eine sehr ergiebige Quelle“
Die Abgeordnete konfrontierten Egevist mit dem Verdacht, dass der V-Mann Primus alias Ralf Marschner das NSU-Trio im Untergrund aktiv unterstützt und sowohl Beate Zschäpe als auch Uwe Mundlos zeitweise als Mitarbeiter beschäftigt haben soll. Egevist hielt dagegen: Er glaube nicht, dass Marschner die drei gekannt habe. Marschner sei eine sehr ergiebige Quelle gewesen, die sogar „seine Großmutter verraten“ hätte, so das Urteil des Verfassungsschützers.
Aufsehen erregte der Zeuge auch mit einer anderen Aussage: Von der Akte des V-Manns „Tarif“, die 2011 ebenfalls geschreddert worden war, seien nur „zehn bis zwanzig Prozent“ rekonstruiert worden. Das ist deutlich weniger als bisher angenommen. An dieser Stelle griff ein Mitarbeiter der Bundesregierung ein: Es seien tatsächlich mehr als zwanzig Prozent. Genaue Zahlen konnte er nicht nennen, versprach aber, diese nachzuliefern. Egevists Urteil, dass die Akte aufgrund ihrer Lückenhaftigkeit kaum mehr lesbar sei, widersprach die Bundesregierung nicht.
„Wichtige Dokumente fehlen“
Die Obfrauen Petra Pau (Die Linke) und Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) bemängelten, dass auch zur sogenannten Operation „Drilling“ noch immer wichtige Dokumente fehlen würden. Im Rahmen dieser Operation hatte der Verfassungsschutz bis 2003 erfolglos nach dem flüchtigen Trio gefahndet. Wie das BfV gegenüber dem Bundeskriminalamt eingestanden hat, sind Teile dieser fehlenden Akten möglicherweise ebenfalls vernichtet worden.
Die umfassenden Ermittlungen des Bundeskriminalamts (BKA) zum NSU haben bisher keine neuen Hinweise auf weitere Verbrechen und mögliche Hintermänner des NSU zu Tage gefördert, wie zuvor die Befragung des Kriminalbeamten Axel Kühn ergab.
1.500 neue Hinweise bearbeitet
Kühn war noch bis vor einem Jahr einer der leitenden Ermittler des BKA in dem Fall. Er gehörte dem Führungsstab der sogenannten Besonderen Aufbauorganisation „BAO Trio“ an, die im Zuge der Enttarnung des NSU im November 2011 gegründet worden war. Für die BAO arbeiteten zwischenzeitlich rund 400 Beamte. Im September 2012 wurde die BAO zur sogenannten Ermittlungsgruppe „EG Trio“ umstrukturiert und deutlich verkleinert. Dieser stand Kühn bis vor einem Jahr als kommissarischer Leiter vor.
Wie Kühn in seinem Eingangsstatement ausführlich berichtete, seien im Rahmen der BAO und EG rund 1.500 neue Hinweise bearbeitet, 7.000 Asservate noch einmal neu ausgewertet und mehr als einhundert Zeugen noch einmal neu vernommen worden. „Es wurde umfassend in alle Richtungen ermittelt“, versicherte Kühn. Neue Ermittlungsansätze hätten sich trotz des immensen Aufwands aber nicht ergeben.
Suche nach geheimen Depots
Ein Ermittlungskomplex, dem man besondere Aufmerksamkeit gewidmet habe, sei unter anderem die Suche nach weiteren geheimen Depots oder konspirativen Wohnungen des Trios gewesen, berichtete Kühn. Anlass dafür sei gewesen, dass sich in dem Kartenmaterial, dass das Trio zum Ausspähen seiner Anschlagsziele benutzt hat, viele Markierungen und Notizen finden, die sich bis heute nicht erklären ließen.
Diese Frage ist zentral, weil nach wie vor nicht rekonstruierbar ist, wo sich die NSU-Mitglieder Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die meiste Zeit aufhielten und ob sie tatsächlich über die gesamte Dauer ihrer Verbrechensserie zusammengelebt haben. Der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU/CSU) führte aus, dass die NSU-Mitglieder rund 4.700 Tage im Untergrund gelebt haben. Über ihre Aktivitäten an rund 4.500 dieser Tage wisse man praktisch nichts.
Unstimmigkeiten und Ermittlungsansätze
Daran änderte sich auch in den kommenden viereinhalb Stunden der Befragung des Zeugen nichts, obwohl Kühn sich bemüht zeigte, die Fragen des Ausschusses nach bestem Wissen zu beantworten. Die Abgeordneten konfrontierten Kühn mit einer Vielzahl unterschiedlicher Unstimmigkeiten und Ermittlungsansätze im NSU-Komplex. Der CDU-Abgeordnete Armin Schuster fragte Kühn etwa nach Erkenntnissen zum Intimverhältnis der drei Terroristen.
Kühn antwortete: Nach allem, was er wisse, seien Mundlos und Zschäpe in den neunziger Jahren ein Paar gewesen, danach soll Zschäpe mit Böhnhardt zusammen gewesen sein. Womöglich habe es auch eine wechselnde Beziehungskonstellation zwischen den dreien gegeben. Inwieweit das Trio während seiner Zeit im Untergrund noch weitere Liebesbeziehungen zu anderen Personen pflegte, sei nicht bekannt. Ob ihm denn die womöglich pädophile Neigung Uwe Böhnhardts vor dem jüngsten DNA-Fund im Mordfall Peggy Knobloch bekannt gewesen sei, hakte Schuster nach. Das verneinte Kühn.
„Es ging um die Waffen der Beamten“
Intensiv diskutierten die Abgeordneten mit Kühn die Hypothese, dass der NSU seine Morde womöglich im Auftrag anderer ausgeführt habe. Insbesondere ging es hierbei um den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Dieser Mord fällt, wie Kühn selbst bemerkte, nach wie vor aus der Reihe der neun weiteren Morde des NSU an türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern. Über die Hintergründe dieser Tat konnte Kühn nur mutmaßen.
Seiner Meinung nach ist es um die Waffen der Beamten gegangen, der NSU habe sich vermutlich „höherwertig bewaffnen“ wollen. Die Auswahl des Tatorts und der Opfer sei allen Erkenntnissen nach zufällig geschehen. An dieser These, die im Übrigen auch im Münchner NSU-Prozess von der Bundesanwaltschaft vertreten wird, äußerten die Abgeordneten in der Vergangenheit mehrfach Zweifel. Auch scheint fraglich, ob tatsächlich, wie bisher angenommen, Böhnhardt und Mundlos die Tat alleine ausführten oder ob es nicht weitere Mittäter gab, wie mehrere Zeugenaussagen nahelegen.
Ermittlungsgruppe Trio personell wieder aufgestockt
Die Ermittlungen etwa zu möglichen Unterstützern des Trios würden andauern, versicherte Kühn. Die EG Trio arbeite weiterhin kontinuierlich an dem Fall und sei wegen der jüngsten Verquickung mit dem Mordfall Peggy zuletzt personell wieder aufgestockt worden. Obwohl Kühn also wenig Neues berichten konnte, nahm er mehrere Hinweise des Ausschusses mit und versprach, diese an die zuständigen Kollegen zu übermitteln.
Der 3. Untersuchungsausschuss soll offene Fragen zur Arbeit der staatlichen Behörden bei den Ermittlungen im Umfeld der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) klären und Handlungsempfehlungen erarbeiten. (fza/25.11.2016)
Liste der geladenen Zeugen
- Axel Kühn
- G. B., Bundesamt für Verfassungsschutz
- Gerd Egevist
- Artur Hertwig