Krankenkassen sehen keinen Bedarf für Long-Covid-Zentren
Zeit:
Donnerstag, 24. Juni 2021,
15.30
bis 17 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 300
Ende April gab es 82.522 Fälle mit Covid-19, die von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung als Berufskrankheiten anerkannt wurden. 6.956 Fälle wurden als Arbeitsunfälle anerkannt. Diese Zahlen legte Prof. Dr. Stephan Brandenburg als Vertreter der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung während einer öffentlichen Anhörung des vom Gesundheitsausschuss eingerichteten „Parlamentarischen Begleitgremiums Covid-19-Pandemie“ unter Vorsitz von Rudolf Henke (CDU/CSU) am Donnerstag, 24. Juni 2021, vor.
Die dominierenden Berufe fänden sich in der Pflege, sagte Brandenburg. Betroffen seien aber auch ärztliches Personal, Kitapersonal sowie Hilfskräfte aus dem Reinigungsbereich. In der Rehabilitation gebe es für diese Personen interdisziplinäre Angebote, die auch genutzt würden. Von der ersten Patientenansprache über die ambulante Betreuung sowie spezielle diagnostische Maßnahmen bis hin zu speziellen Reha-Maßnahmen reiche die Vernetzung, sagte er. „Interdisziplinarität ist dabei ganz entscheidend“, betonte Brandenburg. Zuvor brauche es aber auch eine hervorragende diagnostische Abklärung, „damit man die Reha auch in die richtige Richtung bringen kann“.
Probleme bei Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit
Auf Probleme bei der Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall, wies Karin Wüst, Leiterin der Beratungsstelle Berufskrankheiten Berlin, hin. Als Berufskrankheit werde Covid-19 nur bei Tätigkeiten im Gesundheitsbereich, der Wohlfahrtspflege oder im Labor anerkannt. Infizieren sich Beschäftigte anderer Branchen am Arbeitsplatz liege ein Arbeitsunfall vor.
Während es bei der Berufskrankheit Beweislasterleichterungen zugunsten der Betroffenen gebe, müsse zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls nachgewiesen werden, wann sich die Betroffenen wo bei wem angesteckt haben. Gelinge der Nachweis nicht, erfolge die Ablehnung, sagte Wüst und forderte Beweislasterleichterungen wie bei der Berufskrankheit.
Reha-Zentren der DRV Bund mit Angeboten bei Long-Covid
Die Rehabilitation der Rentenversicherung sei hervorragend aufgestellt, um gesundheitliche Probleme in Folge von Covid-19 zu therapieren und die Teilhabe der Menschen zu ermöglichen, sagte Dr. Susanne Weinbrenner von der Deutschen Rentenversicherung (DRV Bund).
Mittlerweile machten fünf Reha-Zentren der DRV Bund spezifische Angebote bei Long-Covid. Auch zahlreiche Vertragseinrichtungen würden Long-Covid-Konzepte vorhalten, die die DRV Bund bei entsprechendem Bedarf in Anspruch nimmt. Zwar gebe es Wartezeiten auf einen Reha-Platz, so Weinbrenner. Diese lägen aber in einem akzeptablen Zeitrahmen.
Wartezeiten im Bereich von drei bis sechs Monaten
Dirk Schöning von der Betroffeneninitiative „Long Covid Deutschland“ sprach hingegen von Wartezeiten im Bereich von drei bis sechs Monaten – teils auch darüber. Schöning machte deutlich, dass die mit Long-Covid verbundene post-virale Fatigue und die einhergehende Belastungsintoleranz aktuell nicht therapierbar seien. Viele Menschen im Gesundheits- und Erziehungsbereich würden so langfristig arbeitsunfähig.
Auszugehen sei von einem bis drei Prozent schwer chronisch kranker Menschen – vor allem junger Menschen nach einem milden und moderaten Krankheitsverlauf, die keiner Hospitalisierung bedurft hätten. „Die chronische Fatigue muss jetzt in den Fokus kommen“, forderte er.
Interdisziplinäre Strukturen dringend benötigt
Für die Schaffung von speziellen Long-Covid-Zentren sprach sich Prof. Dr. Uta Behrends von der Poliklinik für Kinder und Jugendmedizin des Klinikums rechts der Isar in München aus. Derartige interdisziplinäre Strukturen würden auch für andere Patienten mit einem post-viralen Fatigue-Syndrom dringend benötigt.
Die Erfahrungen hätten gezeigt, dass es bei Long-Covid eine sehr sorgfältige Differenzialdiagnostik brauche. Diese koste Zeit, schaffe aber die Möglichkeit, den Verdacht auf eine Long-Covid-Erkrankung einzugrenzen und zugleich von anderen Erkrankungen abzugrenzen, sagte Behrends.
Definition von psychologischen und von körperlichen Fällen
Mittels Diagnostik müsse klargestellt werden, wer wirklich Long-Covid als Folge einer Infektion hat, oder wer Folgeschäden hat, die nicht von einer Infektion kommen, sagte Prof. Dr. Christine Falk, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Nur so könnten die verschiedenen Ausprägungsformen auseinanderdividiert „und die psychologischen von den körperlichen Fällen definiert werden“.
Da es aktuell noch keine zugeschnittene Therapiemöglichkeiten gebe, werde symptomatisch therapiert, sagte Falk. Künftig brauche es aber zugeschnittene Therapiemöglichkeiten, „um besser das Problem anzugehen, aus welcher pathophysiologischen Seite es kommt“. Dazu brauche es mehr Forschung, sagte sie.
Kein wissenschaftlicher Konsenses zur Definition
Die Vertreter der Krankenkassen zeigten sich zurückhaltend, was die Forderung nach speziellen Long-Covid-Zentren angeht. Dr. Bernhard Egger, Leitung der Abteilung Medizin beim Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV), sprach sich dafür aus, die Forschung zu längerfristigen Folgen der Covid-19-Erkrankung im Rahmen der öffentlichen Forschungsförderung zu unterstützen und gegebenenfalls auch diese Forschungen zu intensivieren.
Ob hierzu bundeseinheitlich spezielle für Long-Covid zu schaffende Koordinierungs-, Daten- oder Forschungsinfrastrukturen erforderlich und zweckmäßig sind, scheine gegenwärtig schwer beurteilbar, auch vor dem Hintergrund eines nicht etablierten wissenschaftlichen Konsenses zur Definition und Abgrenzung eines Long-Covid-Syndroms, sagte Egger.
Spezialisierte Ambulanzen „im Augenblick“ verfrüht
Auch Nurettin Fenercioğlu vom Verband der Privaten Krankenversicherung zeigte sich skeptisch bei der Frage, „ob tatsächlich spezielle Ambulanzen benötigt werden“. Man habe es mit einer „Multiorgan-Krankheit“ zu tun. Bis zu acht verschiedene medizinische Bereiche seien betroffen. „Sie bräuchten wahrscheinlich ein Medizinisches Versorgungszentrum mit 15 verschiedenen Facharztdisziplinen, die dort zusammenlaufen müssten“, sagte Fenercioğlu.
„Aufgrund der sehr diffusen, sehr variablen und sehr individuellen Behandlungslage scheinen mir im Augenblick spezialisierte Ambulanzen verfrüht zu sein“, so der der Vertreter des Verbandes der Privaten Krankenversicherung. (hau/24.06.2021)