Kinderkommission

Pandemie erschwert Le­bens­umstände von fremd untergebrachten Kindern

Die Corona-Pandemie hat die Lebensumstände der etwa 250.000 Kinder und Jugendlichen, die in Heimen oder bei Pflegeeltern untergebracht sind, deutlich erschwert, so die Experten aus den Bereichen der Sozialpädagogik und Bildungswissenschaft im öffentlichen Fachgespräch der Kinderkommission des Bundestages zum Thema „Fremdunterbringung“ am Mittwoch, 16. Dezember 2020 unter Leitung von Norbert Müller (Die Linke).

„Freiheitsentziehende Unterbringung abschaffen“

Um das Hilfe-System für Kinder und Jugendliche zu verbessern, die nicht bei ihren Eltern wohnen können, brauche es in der Heimbetreuung mehr und besser qualifiziertes Personal, sagte Prof. Dr. Nicole Rosenbauer vom Bundesweiten Aktionsbündnis gegen Freiheitsentzug und geschlossene Unterbringung. Man verfüge in der Sozialpädagogik mittlerweile über ein ausgereiftes fachliches Instrumentarium, um zu einem differenzierten Fallverständnis zu kommen und Kindern die für sie passende Hilfe zukommen zu lassen.

Rosenbauer unterstrich außerdem die Forderung des Aktionsbündnisses nach einer Abschaffung der freiheitsentziehenden Unterbringung. Die Kinder würden dort entwürdigende und angstauslösende Maßnahmen erfahren und über ihre Aufenthaltsdauer im Heim hinaus unter den Spätfolgen leiden. Außerdem: Geschlossene Systeme seien anfällig für Machtmissbrauch. Die freiheitsentziehende Unterbringung sei „ein Irrweg“, lasse sich nicht humanisieren oder reformieren, sondern nur abschaffen. Das Versorgungssystem biete viele andere Möglichkeiten, Kinder und Jugendliche in offenen Strukturen, in Freiheit, zu betreuen und zu versorgen.

„Corona-Pandemie hat uns sehr stark eingeschränkt“

Aus dem Heimalltag berichtete der 16-jährige Alain Lukianoff, Vorsitzender des Landesheimrates Hessen. „Die Corona-Pandemie hat uns sehr stark eingeschränkt“ und die Betreuer häufig ratlos erscheinen lassen.

Zu den bereits vor Corona bestehenden Problemen in Wohngruppen, die sich nun durch die Pandemie zugespitzt hätten, gehöre die sehr restriktive Nutzungsmöglichkeit von Mobiltelefonen, beispielsweise um die Eltern anzurufen und andere soziale Kontakte zu pflegen. WLAN stehe häufig nicht zur Verfügung, und Jugendliche seien dann gezwungen, von ihrem Taschengeld Datenvolumen zu kaufen.

„Mangelhafte technische Ausstattung beim Home Schooling

Das Problem mangelhafter technischer Ausstattung betreffe auch das durch den Lockdown verordnete „Home Schooling“. Auch um Lernmaterialien herunterzuladen, müssten sich die Kinder allzu häufig ihr eigenes Datenvolumen zukaufen. Und wenn sich sieben Leute einen Laptop teilen müssten, gebe es einfach Stress. Unterstützung seitens der Schule sei „meist nie da“. Seinen Lehrer habe er dieses Jahr nur zweimal per Video gesehen und in seinem Umfeld von lediglich einem Besuch eines Lehrers gehört. Viele Schüler hätten so Stoff verpasst und im Sommer nachholen müssen.

Zu seinen Forderungen nach einer besseren technischen Ausstattung und mehr Kontakten mit den Lehrern verlangte Lukianoff, dass Schüler, die den Anschluss zu verlieren drohten, Nachhilfestunden in Anspruch nehmen dürfen. Auch unterstrich er das Recht der Heimkinder, ihre Eltern jederzeit sehen und sprechen zu dürfen.

„Wegnahme von Handys in Heimen kein Einzelfall“

Adolis Asmerom, erste Vorsitzende des Vereins „Berater Kinder- und Jugendvertretung Hessen, ergänzte, die Wegnahme von Handys in Heimen sei kein Einzelfall. Das sei Machtmissbrauch und zeige, ebenso wie die Aussetzung der Beteiligungsrechte der Eltern in vielen Einrichtungen unter Verweis auf die Pandemie-Lage, die Hilflosigkeit der Mitarbeiter. Dagegen müsse man jetzt alles in Bewegung setzen, damit junge Menschen in der stationären Betreuung nicht abgehängt würden.

Prof. Dr. Nicole Knuth von der Fachhochschule Dortmund, zugleich Vorstand der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen, verwies auf den dringenden Reformbedarf der Heimerziehung. „Ziel sollte sein, dass die Heime in der Öffentlichkeit entstigmatisiert werden.“ Dazu brauche man dringend Fortschritte bei der Digitalisierung, von der technischen Ausstattung bis zur Vermittlung von Medienkompetenz. Der Zugang zu sozialen Medien sei „zentral für die soziale und kulturelle Teilhabe“ der jungen Leute – werde diesen jedoch in der Heimerziehung zu häufig verwehrt.

„Unzureichende Beteiligung der Eltern“

Auch die Beteiligung der Eltern, für die meisten Kinder und Jugendlichen die wichtigste Bezugspersonen, sei weiterhin unzureichend. Hier wie bei Freunden müssten die Kontaktmöglichkeiten dringend verbessert werden. Die Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten der Eltern bei der Heimerziehung seien im Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) nun ergänzt worden. Und schließlich gelte es in die Bildung der betreuten Kinder und Jugendlichen zu investieren und den höchstmöglichen Abschluss anzustreben. Das sei der Schlüssel für deren berufliche Chancen und weiteren Lebensverlauf.

„Es geht jetzt zwingend darum, die Öffnung der Heimerziehung voranzubringen“ und die Heime mit ausreichender finanzieller und Personalausstattung zu einem Lebensort zu machen, forderte Knuth. Dazu gelte es, wie in dieser Sitzung der Kinderkommission, immer wieder die Stimme der Adressaten, also der jungen Leute, zu höre:. „Wir brauchen deren subjektives Wahrnehmen.“ Man werde die Forderungen und Vorschläge der jungen Menschen aufgreifen und umsetzen. (ll/16.12.2020)

Liste der geladenen Sachverständigen

  • Adolis Asmerom, 1. Vorsitzende des Vereins „Berater Kinder- und Jugendvertretung Hessen“
  • Alain Lukianoff, Vorsitzender des Landesheimrates Hessen
  • Prof. Dr. Nicole Rosenbauer, Bundesweites Aktionsbündnis gegen Freiheitsentzug und geschlossene Unterbringung
  • Prof. Dr. Nicole Knuth, Fachhochschule Dortmund, Vorstand Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen