Zeit:
Montag, 16. November 2020,
12.30
bis 14 Uhr
Ort: Berlin, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Sitzungssaal 3101
Die gesetzlichen Krankenkassen sehen die geplante Finanzierung der Gesundheitsausgaben für 2021 sehr kritisch. Der geplante zusätzliche Bundeszuschuss aus Steuergeldern falle zu niedrig aus, der zusätzliche Eingriff in die Rücklagen der Kassen sei inakzeptabel, monierten die Krankenversicherungen in einer Anhörung des Gesundheitsausschusses unter Vorsitz von Erwin Rüddel (CDU/CSU) am Montag, 16. November 2020, zum Entwurf für ein Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz. Die Sitzung wird am Montag, 16. November, ab 18.30 Uhr zeitversetzt im Parlamentsfernsehen und im Internet auf www.bundestag.de übertragen.
Neben dem Regierungsentwurf des sogenannten GPVG (19/23483, 19/24231) waren auch Anträge der AfD (19/23715, 19/23712), der Linken (19/23699) und der Grünen (19/19165, 19/21881) Gegenstand der Anhörung. Die Sachverständigen äußerten sich in schriftlichen Stellungnahmen.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Die gesetzliche Vorlage sieht ein ganzes Bündel an Regelungen vor. So soll die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 2021 einen einmaligen zusätzlichen Bundeszuschuss in Höhe von fünf Milliarden Euro auf dann insgesamt 19,5 Milliarden Euro erhalten. Zudem sollen aus den Finanzreserven der Krankenkassen einmalig acht Milliarden Euro in den Gesundheitsfonds überführt werden. Mit dem zusätzlichen Geld sollen die Beiträge stabil gehalten werden. Die Bundesregierung plant derzeit mit einem Anstieg der durchschnittlichen Zusatzbeiträge in der GKV um 0,2 Prozentpunkte.
Um den Pflegepersonalmangel zu verringern, sind außerdem 20.000 zusätzliche Stellen für Pflegehilfskräfte in der stationären Altenpflege vorgesehen. Die Stellen sollen durch einen Vergütungszuschlag komplett von der Pflegeversicherung finanziert werden, sich also nicht auf die Eigenanteile auswirken. Angestrebt wird ein verbindliches Personalbemessungsverfahren für vollstationäre Pflegeeinrichtungen.
Mehr Stellen für Hebammen
Die Reform sieht auch mehr Stellen für Hebammen in Krankenhäusern vor. Dazu wird für die Jahre 2021 bis 2023 ein Förderprogramm im Umfang von insgesamt rund 200 Millionen Euro aufgelegt. Damit sollen rund 600 neue Hebammenstellen und bis zu 700 weitere Stellen für Fachpersonal in Geburtshilfeabteilungen geschaffen werden.
Gestärkt werden außerdem Kinderkrankenhäuser und Fachabteilungen für Kinder- und Jugendmedizin in ländlichen Regionen. Die Krankenkassen erhalten überdies erweiterte Spielräume für sogenannte Selektivverträge, um innovative regionale Versorgungsformen zu fördern.
GKV-Finanzierungslücke von 16,6 Milliarden Euro
Der AOK-Bundesverband wies darauf hin, dass ohne Gegenmaßnahmen die Finanzierungslücke in der GKV 2021 bei 16,6 Milliarden Euro liegen würde und der Zusatzbeitrag auf 2,2 Prozent verdoppelt werden müsste. Die AOK lehnt den Rückgriff auf die Finanzreserven der Krankenkassen jedoch ab. Der Gesetzgeber müsse die Finanzierungsverantwortung vollständig übernehmen und die Sozialgarantie, wonach die Lohnnebenkosten nicht über 40 Prozent steigen sollen, durch einen entsprechenden Bundeszuschuss absichern.
Die Auflösung der Rücklagen sei ein Eingriff in die Haushaltsautonomie der Kassen und eine Entmündigung der Selbstverwaltung, kritisierte die AOK. Der Griff in die Reserven beschädige das Vertrauen in eine seriöse Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Die AOK rechnete vor, dass ein Großteil der Ausgabensteigerungen nicht durch die Pandemie, sondern durch Gesetze verursacht sei. Von den geschätzten Mehrkosten entfielen lediglich 3,4 Milliarden Euro auf die Folgen der Pandemie. Mit dem Eingriff in die Rücklagen würden insbesondere solche Krankenkassen bestraft, die mit einer soliden Finanzpolitik für schwierige Phasen vorgesorgt hätten.
„Dauerhaft erhöhter Bundeszuschuss zwingend erforderlich“
Ähnlich kritisch äußerte sich der Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK). Angesichts der absehbaren Einnahmeschwäche bei gleichzeitig stark steigenden Ausgaben sei ein dauerhaft erheblich erhöhter Bundeszuschuss zwingend erforderlich. Eine Vermögensabschmelzung der Kassen auf Basis der Ergebnisse von Ende Juni 2020 könnte zu einer Unterschreitung der Mindestrücklage von 20 Prozent einer durchschnittlichen Monatsausgabe zum Ende des Jahres 2020 oder im Laufe des kommenden Jahres führen, warnte der Dachverband.
Auch der GKV-Spitzenverband sieht die dringende Notwendigkeit, die Finanzierungsregelungen in wesentlichen Punkten nachzubessern.
„Auch Weiterbildungskosten finanzieren“
Der Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (VDAB) begrüßte die Aufstockung der Pflegehilfskräfte, forderte aber zugleich eine Finanzierung auch der Weiterbildungskosten. Das zusätzlich eingestellte Personal müsse zeitnah weitergebildet und die dafür notwendigen Aufwendungen müssten über den Vergütungszuschlag geltend gemacht werden können.
Nur so sei gewährleistet, dass der Pflegepersonalschlüssel in den stationären Einrichtungen tatsächlich dauerhaft erhöht werde und eine verbesserte Versorgung stattfinde.
„Arbeitsbedingungen und Bezahlung von Hebammen unzureichend“
Kritisch äußerten sich trotz des Förderprogramms auch die Hebammen, die eine grundlegende Reform der Geburtshilfe anmahnten. Der Deutsche Hebammenverband (DHV) erklärte, nötig sei eine Eins-zu-eins-Betreuung schwangerer Frauen. Der vorgeschlagene Umfang von 0,5 Stellen je Krankenhaus auf 500 Geburten sei viel zu niedrig bemessen. Die strukturellen Probleme würden weiter ignoriert.
Nach Ansicht des Verbandes sind Arbeitsbedingungen und Bezahlung von Hebammen unzureichend. Die Reform sei nicht geeignet, die Geburtshilfe nachhaltig zu stärken.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Mehr Personal in der Altenpflege, eine stabile Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung im kommenden Jahr und mehr Stellen in der Geburtshilfe sind laut Bundesregierung die Ziele des Gesetzentwurfs (19/23483). In der vollstationären Altenpflege sollen den Angaben zufolge 20.000 zusätzliche Stellen für Pflegehilfskräfte finanziert werden. Der Eigenanteil der Pflegebedürftigen soll dadurch nicht steigen, weil die Stellen vollständig durch die Pflegeversicherung finanziert werden sollen.
Um nach der von der Covid-19-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu gewährleisten und die Beiträge weitestgehend stabil zu halten, soll die GKV im Jahr 2021 einen ergänzenden Bundeszuschuss aus Steuermitteln in Höhe von fünf Milliarden Euro erhalten, teilt die Regierung mit. Außerdem sollen aus den Finanzreserven der Krankenkassen einmalig acht Milliarden Euro in die Einnahmen des Gesundheitsfonds überführt werden. Zur Stabilisierung der Zusatzbeitragssätze ist geplant, das Anhebungsverbot für Zusatzbeiträge und die Verpflichtung zum stufenweisen Abbau überschüssiger Finanzreserven auszuweiten.
Regierung antwortet Bundesrat
Die Bundesregierung lehnt in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates (19/24231) den Vorschlag einer Erhöhung des ergänzenden Bundeszuschusses auf elf Milliarden Euro ab. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Kombination aus einem ergänzenden Bundeszuschuss in Höhe von fünf Milliarden Euro an den Gesundheitsfonds, einer Zuführung von Mitteln aus den Finanzreserven der Krankenkassen in Höhe von rund acht Milliarden Euro zu den Einnahmen des Gesundheitsfonds und der Absenkung der Obergrenze für die Finanzreserven der Krankenkassen auf 0,8 Monatsausgaben sei sachgerecht, um die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in der von der Covid-19-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise zu gewährleisten. In Verbindung mit der moderaten Anhebung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes um 0,2 Prozentpunkte auf 1,3 Prozent könne durch dieses Maßnahmenpaket der ergänzende Finanzbedarf der GKV von 16 Milliarden Euro gedeckt werden.
Der Bund habe die GKV 2020 mit einem ergänzenden Bundeszuschuss von 3,5 Milliarden Euro unterstützt, schreibt die Regierung. Der Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2021 sehe weitere Mittel des Bundes in Höhe von fünf Milliarden Euro zur Unterstützung der GKV vor. Darüber hinaus habe der Bund bis zu 11,5 Milliarden Euro im Jahr 2020 für die Freihaltung von Bettenkapazitäten in Krankenhäusern während der Covid-19- Pandemie zur Verfügung gestellt. Hiervon seien bis Ende Oktober 2020 über das Bundesamt für Soziale Sicherung knapp neun Milliarden Euro ausgezahlt worden. Im Jahr 2021 werde der Bund zusätzlich drei Milliarden Euro für den Krankenhauszukunftsfonds aufbringen, um notwendige Investitionen in Krankenhäusern, unter anderem in die digitale Infrastruktur und Informationssicherheit, zu fördern.
Es sei nicht nachvollziehbar, heißt es weiter, dass der Bundeshaushalt zum jetzigen Zeitpunkt noch stärker zusätzlich belastet werden solle, obwohl viele Krankenkassen noch über hohe Finanzreserven verfügten. Gerade in Krisenzeiten, in denen die Beitragseinnahmen konjunkturell deutlich zurückgehen und die Ausgaben steigen, seien zuerst die im System angesparten Finanzmittel heranzuziehen. Auch in anderen Sozialversicherungszweigen würden zunächst die Finanzreserven zur Finanzierung der pandemiebedingten Belastungen eingesetzt.
Anträge AfD
Die AfD fordert in ihrem ersten Antrag, die „elektronische Dokumentationspflicht nach der Richtlinie für organisierte Krebsfrüherkennungsprogramme aussetzen“ (19/23715). Sie verlangt von der Bundesregierung einen Gesetzentwurf, mit dem sichergestellt wird, dass die elektronische Dokumentationspflicht nach der G-BA-Richtlinie für organisierte Krebsfrüherkennungsprogramme (oKFE-RL) ausgesetzt wird, bis die technischen Voraussetzungen dafür sicher gegeben sind.
Im zweiten AfD-Antrag zu „Testzentren und Kostenübernahme des Bundes bei Corona-Testungen von Reiserückkehrern“ (19/23712) verlangt die Fraktion unter anderem, die Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums dahingehend anzupassen, dass der Bund die Kosten der Corona-Testungen von Reiserückkehrern im vollen Umfang trägt und sie nicht aus den Reserven der gesetzlichen Krankenversicherung bestritten werden. Zudem sollten Testungen auf Corona auch zukünftig ausschließlich in den dafür vorgesehenen Testzentren stattfinden.
Antrag der Linken
Die Finanzprognose der Gesetzlichen Krankenversicherung für 2021 seien schlecht, schreibt die Linksfraktion ihrem Antrag mit dem Titel „Kapitaleinkünfte bei der Ermittlung der Krankenversicherungsbeiträge berücksichtigen“ (19/23699). Zwar habe der Bund eine Finanzspritze von fünf Milliarden Euro zugesichert, dem Gesundheitsfonds fehlten aber 16,6 Milliarden Euro. Da der Bund zu mehr Geld nicht bereit sei, müssten nun andere Finanzierungswege gefunden werden, fordern die Abgeordneten.
So solle neben Arbeitseinkommen und Renten künftig die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zur Berechnung der Beiträge herangezogen werden. Das schließe vor allem Einkünfte aus Kapitalvermögen sowie Vermietung und Verpachtung ein, heißt es in dem Antrag.
Erster Antrag der Grünen
Die Grünen-Fraktion in ihrem ersten Antrag mit dem Titel „Für einen Kulturwandel in der Geburtshilfe – Frauen und Kinder in den Mittelpunkt“ (19/19165) für einen Kulturwandel in der Geburtshilfe. Die Unterstützung von Schwangeren, Gebärenden, Kindern und Eltern in dieser Lebensphase sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Abgeordneten fordern unter anderem, ein Personalbemessungsinstrument für die Hebammenversorgung in Kreißsälen einzuführen, das von einer Eins-zu-eins-Betreuung der Schwangeren durch eine Hebamme in wesentlichen Phasen der Geburt ausgeht.
Zudem müsse eine sektorübergreifende Qualitätssicherung in der Geburtshilfe gewährleistet sein, einschließlich der einheitlichen Dokumentation klinischer und außerklinischer Geburten und Geburtsverläufe. In unterversorgten Regionen sollte den Hebammen ein Sicherstellungszuschlag gezahlt werden.
Zweiter Antrag der Grünen
Des Weiteren verlangen die Grünen in ihrem zweiten Antrag mit dem Titel „Gesundheitsregionen – Aufbruch für mehr Verlässlichkeit, Kooperation und regionale Verankerung in unserer Gesundheitsversorgung“ (19/21881) eine auf Gesundheitsregionen ausgerichtete Reform. Die Corona-Pandemie zeige, welch große Bedeutung ein handlungsfähiger öffentlicher Gesundheitsdienst, verlässliche Versorgungsangebote und eine gute Koordination und Integration der Gesundheitsversorgung insbesondere auf der regionalen Ebene hätten.
Die Abgeordneten sprechen sich dafür aus, dass bis 2025 zehn Prozent der Bevölkerung in „Gesundheitsregionen“ versorgt werden. Eine gesetzliche Regelung für Gesundheitsregionen sollte eine integrierte Versorgung mit regionalen Ärztenetzen oder anderen regionalen Akteuren ermöglichen. Regionale Akteure müssten zusammen mit den Ländern beim Aufbau von Gesundheitsregionen unterstützt werden. Kurzfristig sollte die Übertragung von heilkundlichen Tätigkeiten für hochschulisch ausgebildete Pflegefachpersonen mit einem Masterabschluss in Community Health Nursing nach internationalem Vorbild umgesetzt werden. Zur Weiterentwicklung der Berufe und Berufsbilder im Gesundheitswesen sollte ein Gesundheitsberufe-Rat eingerichtet werden. (pk/09.11.2020)