Behindertenfachverbände sehen die geplante Neuregelung der Intensivpflege grundsätzlich positiv, sorgen sich aber um das Selbstbestimmungsrecht der Patienten. Die Verbände machten am Mittwoch, 17. Juni 2020, in einer Anhörung des Gesundheitsausschusses unter Vorsitz von Erwin Rüddel (CDU/CSU) zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung von intensivpflegerischer Versorgung und medizinischer Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung (Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz, 19/19368) deutlich, dass die Patienten selbst darüber befinden müssten, wo sie versorgt werden. Ausdrücklich begrüßt wird die finanzielle Entlastung durch die Reduzierung des Selbstkostenanteils. Die Sachverständigen äußerten sich in schriftlichen Stellungnahmen.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Die Reform soll eine bessere Versorgung ermöglichen und zugleich Fehlanreize beseitigen und Missbrauch verhindern. Der Gesetzentwurf sieht einen neuen Leistungsanspruch auf außerklinische Intensivpflege vor, die nur von besonders qualifizierten Ärzten verordnet werden darf. Die außerklinische Intensivpflege kann in Pflege- und Behinderteneinrichtungen, in Intensivpflege-Wohneinheiten, zu Hause oder auch in Schulen, Kindergärten oder Werkstätten erbracht werden. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) soll jährlich prüfen, ob die Versorgung sichergestellt werden kann.
Damit eine Unterbringung nicht aus finanziellen Gründen scheitert, sollen Intensivpatienten in stationären Pflegeeinrichtungen weitgehend von Eigenanteilen entlastet werden. Die Krankenkassen können die Kostenübernahme als Satzungsleistung auch für den Fall anbieten, dass sich der Gesundheitszustand des Versicherten bessert und eine außerklinische Intensivpflege nicht mehr nötig ist.
„Ohne Entwöhnungsversuch drohen Vergütungsabschläge“
Wenn bei Beatmungspatienten eine Entwöhnung von der Beatmung möglich erscheint, soll dies vor der Entlassung aus dem Krankenhaus versucht werden. Dazu werden Anreize gegeben und eine zusätzliche Vergütung gezahlt. Ohne einen Entwöhnungsversuch drohen Vergütungsabschläge. Nur geprüfte Pflegedienste sollen eine außerklinische Intensivpflege erbringen dürfen.
Der Gesetzentwurf sieht auch neue Regelungen für die medizinische Rehabilitation vor. So soll der Zugang dazu erleichtert werden. Wenn Ärzte die medizinische Notwendigkeit einer geriatrischen Rehabilitation feststellen, sind die Krankenkassen daran gebunden. Die Regeldauer der geriatrischen Rehabilitation wird auf 20 Behandlungstage (ambulant) beziehungsweise drei Wochen (stationär) festgelegt.
Der Mehrkostenanteil, den Versicherte tragen müssen, wenn sie eine andere als die von der Krankenkasse zugewiesene Einrichtung zur Reha wählen, soll halbiert werden. Die Mindestwartezeit für eine erneute Reha von Kindern und Jugendlichen wird gestrichen. Um Pflegekräfte in Reha-Einrichtungen besser bezahlen zu können, wird die Grundlohnsummenbindung für Vergütungsverhandlungen aufgehoben. Auf Bundesebene sollen Rahmenempfehlungen geschlossen werden, um einheitliche Vorgaben für Versorgungs- und Vergütungsverträge zu schaffen.
Verbände für Menschen mit Behinderung besorgt
Die fünf Fachverbände für Menschen mit Behinderung äußerten sich besorgt. Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege bleibe für Menschen mit Intensivpflegebedarf nicht uneingeschränkt erhalten. Dem Wunsch nach Betreuung im eigenen Haushalt werde nur entsprochen, wenn die häusliche Versorgung tatsächlich und dauerhaft sichergestellt werden könne. Sei dies aufgrund des Pflegekräftemangels nicht der Fall, sei der Anspruch von Versicherten mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege faktisch wertlos.
Der Mangel an Pflegekräften dürfe nicht zulasten der Patienten gehen. Vielmehr müsste die Krankenkasse in die Pflicht genommen werden, die tatsächliche und dauerhafte intensivmedizinische Versorgung zu gewährleisten, erklärten die Fachverbände. Zudem dürften Versicherte, die eine intensivmedizinische häusliche Versorgung wünschen, bei der Zuzahlung nicht benachteiligt werden.
„Kontrollierte Versorgung sichergestellt“
Der Bundesverband Schädel-Hirnpatienten in Not erklärte hingegen, die anhaltende Kritik, wonach das Wahlrecht der Versicherten beim Ort der Versorgung aufgehoben werde, sei unberechtigt. Ausdrücklich lasse der Entwurf eine häusliche Intensivpflege unter Beachtung der individuellen Zumutbarkeit und Möglichkeiten zu.
Der Gesetzentwurf stelle eine kontrollierte, qualitätsgesicherte Versorgung insbesondere im außerklinischen Bereich sicher. Für Betroffene in stationären Einrichtungen müsse eine dauerhafte Kostenübernahme garantiert werden, damit der Anspruch auf außerklinische Intensivpflege nicht mehr durch erhöhte Eigenanteile zu einem verheerenden Absturz in die Sozialhilfe führe.
„Umzug in stationäre Einrichtung nur letztes Mittel“
Auch die Bundespflegekammer verwies auf die seit dem Referentenentwurf vorgelegten Änderungen hinsichtlich des Wahlrechts. Es solle nun nicht mehr geprüft werden, ob der Wunsch nach häuslicher Versorgung angemessen sei. Allerdings sei in strittigen und unklaren Situationen nicht der Wunsch des Betroffenen ausschlaggebend, sondern es seien die Ergebnisse aus der Begutachtung des MDK.
Wenn der Versicherte die Versorgung zu Hause wünsche, dürfe der Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung nur das letzte Mittel sein, sofern die Pflege auf andere Weise nicht gewährleistet werden könne. Auch sollte hier die Gelegenheit zur Nachbesserung gesetzlich eingeräumt werden. Abgelehnt werde von der Pflegekammer die Satzungsregelung für die Krankenkassen bei Patienten mit weiterhin hohem Versorgungsbedarf. Da es sich um erhebliche Kosten handele, müsse diese Versorgung als Pflichtleistung ausgestaltet werden, gegebenenfalls befristet.
„Überprüfungszeitpunkt problematisch“
Der MDK sieht den Zeitpunkt für die vorgesehene Überprüfung als problematisch an. Der MDK könne keine Feststellung über die medizinische und pflegerische Versorgung treffen, wenn diese noch gar nicht erbracht werde. Dieser Ansatz einer prospektiven Prüfung sei mit großen Unsicherheiten behaftet und sollte nicht als Grundlage dafür herangezogen werden, die Wahl des Versicherten bezüglich des Ortes der Versorgung im Sinne einer override option außer Kraft zu setzen.
Sinnvoll wäre es nach Ansicht des MDK, zunächst festzustellen, ob die medizinischen Voraussetzungen für eine außerklinische Intensivpflege vorliegen und später die Versorgung am Leistungsort zu prüfen.
„Informations- und Datenbasis schaffen“
Der AOK-Bundesverband verwies auf eine kleine Patientengruppe, die von Krankenhäusern nicht zur Entlassung oder Verlegung vorgesehen sei und unter Umständen bis zu ihrem Tod, langzeitbeatmet in der Klinik bleibe. Mit den Neuregelungen würden diese Patienten nicht erfasst. Es werde daher empfohlen, eine Meldepflicht der Krankenhäuser für Patienten einzuführen, die länger als zehn Tage beatmet werden.
Zudem sollte eine Informations- und Datenbasis zur Intensivpflege geschaffen werden. Beim Medizinischen Dienst Bund könnte ein Beatmungsregister eingerichtet werden. (pk/17.06.2020)
Liste der Sachverständigen
Verbände/Institutionen:
- Arbeitgeberverband Pflege e. V. (AGVP)
- Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW)
- Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e. V. (BAG Selbsthilfe)
- Bundesärztekammer (BÄK)
- Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände – Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. (vzbv)
- Bundesverband Deutscher Privatkliniken e. V. (BDPK)
- Bundesverband Geriatrie e. V. (BV-Geriatrie)
- Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e. V. (bpa)
- Bundesverband Rehabilitation (BDH)
- Bundesverband Schädel-Hirnpatienten in Not e. V.
- Deutsche Wachkomagesellschaft
- Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V.
- Deutsche Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation e. V. (DEGEMED)
- Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V. (DGP)
- Deutsche Interdisziplinäre Gesellschaft für außerklinische Beatmung e. V. (DIGAB)
- Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (DIVI)
- Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG)
- Deutsche Stiftung Patientenschutz
- Deutscher Gewerkschaftsbund – Bundesvorstand (DGB)
- Deutscher Kinderhospizverein e. V.
- Deutscher Pflegerat (DPR)
- Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA)
- Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. (ISL)
- Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV)
- Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS)
- Sozialverband Deutschland e. V. (SoVD)
- Sozialverband VdK Deutschland e. V.
- Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
Einzelsachverständige:
- Horst Frehe, Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland - ISL e. V.
- Sebastian Lemme, SelbstHilfeVerband - Forum Gehirn e. V., Bundesverband für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und deren Angehörige
- Prof. Dr. Thomas Mokrusch, Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation e. V. (DGNR))
- Dr. Wilhelm Rehorn, Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Nordrhein (MDK Nordrhein)