Menschen, die während der nationalsozialistischen Diktatur als sogenannte „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt beziehungsweise in Konzentrationslagern inhaftiert wurden, sollen als NS-Opfer anerkannt werden. Mit Ausnahme der AfD-Fraktionen waren sich alle anderen Fraktionen und die vier geladenen Sachverständigen in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien unter Vorsitz von Katrin Budde (SPD) am Mittwoch, 6. November 2019, einig. Grundlage der Anhörung waren entsprechende Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD (19/14342), der FDP (19/8955), der Linken (19/14333) und von Bündnis 90/Die Grünen (19/7736).
In den vier inhaltlich sehr ähnlichen Anträgen sprechen sich die Fraktionen dafür aus, dem Schicksal der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ im öffentlichen Bewusstsein und dem staatlichen Gedenken mehr Raum einzuräumen und die wissenschaftliche Erforschung ihrer Verfolgung zu intensivieren. Zudem sollen die Möglichkeiten für Entschädigungen verbessert werden. Die AfD-Fraktion lehnt eine pauschale Rehabilitierung und Anerkennung als NS-Opfer ab und plädiert stattdessen für Einzelfallüberprüfungen.
„Bis heute nicht als NS-Opfer anerkannt“
Der stellvertretende Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Dr. Ulrich Baumann, die Historikerinnen Dr. Julia Hörath vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Dr. Dagmar Lieske von der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Frank Nonnenmacher begrüßten die parlamentarischen Initiativen der Fraktionen ausdrücklich. Nonnenmacher warb jedoch eindringlich dafür, dass sich die Fraktionen angesichts der Bedeutung des Themas auf einen fraktionsübergreifenden Antrag einigen sollten. „Alle aufgeklärten Demokraten“ müssten anerkennen, dass es sich bei allen KZ-Häftlingen um Opfer der Nationalsozialisten handelte, unabhängig von den Gründen, aus denen sie in den Konzentrationslagern inhaftiert waren, sagte Nonnenmacher.
Ulrich Baumann verwies darauf, dass die sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ bis heute in der Gesellschaft nicht als NS-Opfer anerkannt seien und schlichtweg das Wissen über ihr Schicksal fehle. Mitunter herrsche auch die Meinung, dass viele dieser Menschen „wohl irgendwie zu Recht“ im KZ gesessen hätten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ auch von anderen Opfergruppen keine Unterstützung erhalten, als NS-Opfer anerkannt zu werden.
„Nationalsozialistisches Unrecht“
Julia Hörath führte aus, dass die sogenannte Vorbeugungshaft von „Berufsverbrechern“ in jedem Fall gegen alle rechtsstaatlichen Grundsätze verstoßen habe und deswegen als „nationalsozialistisches Unrecht“ einzustufen sei. Als „Berufsverbrecher“ seien Menschen eingestuft worden, die mehrfach wegen Delikten verurteilt worden sind. Zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung in die Konzentrationslager hätten sie ihre Haftstrafen wegen der Straftaten jedoch längst abgeleistet gehabt.
Dagmar Lieske erläuterte, dass mehrere Zehntausend Menschen von den nationalsozialistischen Behörden als „Berufsverbrecher“ eingestuft worden seien. Darunter seien Männer wie Frauen, Alte und Junge, Deutsche und Nichtdeutsche, Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten gewesen. Allein im KZ Sachsenhausen seien etwa 9.000 der sogenannten „Berufsverbrecher“ inhaftiert gewesen.
AfD gegen pauschale Gleichstellung mit anderen NS-Opfern
Der AfD-Abgeordnete Marc Jongen wandte gegen den Befund der Sachverständigen ein, dass „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern von der SS als sogenannte „Kapos“ eingesetzt worden seien und diese Verbrechen gegen ihre Mithäftlinge verübt hätten. Als „Kapos“ werden KZ-Häftlinge bezeichnet, die von der SS bestimmte Ordnungs- und Überwachungsaufgaben übertragen bekamen und im Gegenzug Vergünstigungen erhielten. Deshalb könne es aus Sicht der AfD keine pauschale Gleichstellung der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ mit anderen NS-Opfern geben.
Frank Nonnenmacher und Dagmar Lieske wiesen diesen Einwand zurück. Als „Kapo“ habe man sich nicht beworben, sondern sei von der SS dazu gemacht worden, sagte Nonnenmacher. Dies sei ein besonders „perfides System“ gewesen. Den „Kapos“ habe bei Missachtung der Anordnungen der SS ebenso drakonische Strafen oder der Tod gedroht. Lieske wies ebenfalls darauf hin, dass auch Angehörige anderer Opfergruppen – beispielsweise Juden oder Kommunisten – zu „Kapos“ gemacht worden seien. Diesen Opfergruppen würde dies auch nicht vorgeworfen. Zudem sei der Prozentsatz der Häftlinge in der Kapo-Funktion extrem gering gewesen.
Antrag von CDU/CSU und SPD
CDU/CSU und SPD fordern die Bundesregierung in ihrem Antrag (19/14342) auf, die Opfergruppen, die von den Nationalsozialisten „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ genannt wurden, zukünftig stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und ihnen einen angemessenen Platz im staatlichen Erinnern zu verschaffen. Auch solle eine modulare Ausstellung in Auftrag gegeben und dann im Bundesgebiet gezeigt werden, die historische Information und gedenkendes Erinnern zum Schicksal der als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ Verfolgten verbindet.
Ferner solle ein Ausstellungskonzept durch die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in Zusammenarbeit mit der „Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland“ erarbeitet werden. Auch sollten Forschungsarbeiten finanziert werden, um das Schicksal der von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ Verfolgten weiter aufzuarbeiten.
Antrag der FDP
Menschen, die während des Nationalsozialismus als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden, sollen nach dem Willen der FDP-Fraktion als NS-Opfergruppe anerkannt werden. In ihrem Antrag (19/8955) fordern die Liberalen die Bundesregierung auf, zu prüfen, wie den noch lebenden Opfern eine angemessene und würdige Entschädigung für ihre Verfolgung gewährt werden kann. Zudem solle den beiden Opfergruppen in der Erinnerungskultur ein „würdiges und angemessenes Erbe und Gedenken“ bereitet werden.
Das Gedenkstättenkonzept des Bundes sei entsprechend zu überarbeiten. Während des NS-Regimes seien Zehntausende Menschen als sogenannte „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ entrechtet, zwangssterilisiert, ermordet und in Konzentrationslager verschleppt worden. Dieses Unrecht wirke wegen der bislang nicht erfolgten Anerkennung als NS-Opfergruppen bis heute fort.
Antrag der Linken
Die Linke fordert in ihrem Antrag ebenfalls die Anerkennung der als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgten Opfer des Nationalsozialismus (19/14333). Die Fraktion fordert die Bundesregierung unter anderem auf, die damals als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ vom NS-Staat verfolgten Menschen als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung anzuerkennen und durch entsprechende Aufklärung in der schulischen, kulturellen und politischen Bildung erinnerungs- und gedenkpolitisch zu würdigen.
Auch solle sie erklären, dass diese NS-Opfer von kriminalbiologischer und sozialbiologischer Generalprävention zu Unrecht in den deutschen Konzentrationslagern inhaftiert waren. Zudem solle die Regierung einen Gesetzentwurf vorlegen, um den heute noch lebenden NS-Opfern Zugang zu einer angemessenen, würdigen Entschädigung zu eröffnen.
Antrag der Grünen
Bündnis 90/Die Grünen fordern die Bundesregierung in ihrem Antrag (19/7736) dazu auf, sich für die Aufnahme der Opfergruppen der „Berufsverbrecher“ und „Asozialen“ in die offizielle Erinnerungskultur einzusetzen und eine Anerkennung dieser wenig beachteten Opfergruppen zu gewährleisten. Den heute noch lebenden Opfern solle Zugang zu einer angemessenen, würdigen Entschädigung geboten werden.
Forschungsarbeiten zu den Verfolgungsschicksalen und der noch wenig erforschten Rolle der beteiligten Verfolgungsinstanzen seien finanziell zu fördern und die benötigten Mittel für die Dokumentation der Forschungsergebnisse bereitzustellen. Darüber hinaus setzen sich die Grünen dafür ein, dass die Entwicklung spezifischer Bildungsprojekte mit Bezug auf die genannten Opfergruppen finanziell gefördert wird. (aw/06.11.2019)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Dr. Ulrich Baumann, Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas
- Dr. Julia Hörath, Hamburger Institut für Sozialforschung
- Dr. Dagmar Lieske, Goethe-Universität Frankfurt am Main
- Prof. Dr. Frank Nonnenmacher, Goethe-Universität Frankfurt am Main