Der Bundestag hat am Donnerstag, 7. November 2019, zwei Tage nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, einen Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Hartz IV überwinden – Für gute Arbeit und soziale Garantien“ (19/14788) mit dem Votum von CDU/CSU, SPD, FDP, AfD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Von der Tagesordnung abgesetzt wurde die Beratung eines von der AfD-Fraktion angekündigten Antrags mit dem Titel „Jobcenter effizienter machen – Rückforderungen von ALG II verrechnen“ (ALG steht für Arbeitslosengeld). Darüber hinaus wurden weitere Anträge der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Linke: Sanktionen gefährden das Kindeswohl
Katja Kipping (Die Linke) verwies auf Statistiken, nach denen jeder Dritte von Sanktionen Betroffene mit Kindern zusammenlebe. „Sanktionen gefährden das Kindeswohl“, sagte sie und kritisierte ferner, dass auch die Arbeitsvermittlung in der Grundsicherung nicht nachhaltig sei.
Jedes Dritte dieser Arbeitsverhältnisse würde nur sechs Monate dauern, beim Arbeitslosengeld I würde deutlich mehr Geld für Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen. „Hartz IV bedeutet also eine Spaltung der Gesellschaft und deshalb werden wir nie unseren Frieden damit machen“, sagte Kipping.
CDU/CSU: Sanktionen grundsätzlich verfassungskonform
Prof. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) zeigte sich zufrieden, dass das Bundesverfassungsgericht Sanktionen grundsätzlich für verfassungskonform hält. Sie müssten aber in einem geeigneten Verhältnis zum Ziel stehen und könnten nicht unabhängig von ihrer Wirksamkeit betrachtet werden, so die Deutung der Richter.
Wenn sich die Wirksamkeit von Sanktionen in Zukunft erhöhen würde, müsste über dieses Thema neu verhandelt werden, glaubte Zimmer. Zunächst gehe er jedoch davon aus, dass sich viele Debatten darüber, ob Hartz IV die Menschenwürde verletze, erübrigen werden, ergänzte er.
AfD: Sozialabgaben sind zu hoch
Jörg Schneider (AfD) kritisierte von den Linken-Forderungen unter anderem jene nach Abschaffung der Sperrfrist. „Soll ein Arbeitnehmer, der von sich aus seinen Job kündigt, wirklich gleich behandelt werden mit jemandem, dessen Betrieb geschlossen worden ist?“, fragte Schneider.
Auch eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro lehnte er ab, da dies seiner Ansicht nach in größerem Umfang Industriearbeitsplätze vernichten würde. Die Ursache, dass Beschäftigte im Niedriglohnsektor zu wenig Geld hätten, liege nicht an der Höhe der Löhne, sondern an den hohen Sozialabgaben, sagte Schneider.
SPD: Sanktionen sind derzeit zu hart
Dagmar Schmidt (SPD) betonte, seit Inkrafttreten der Hartz-IV-Reformen vor 15 Jahren seien viele Korrekturen vorgenommen worden, die die Situation der Betroffenen verbessert hätten. „Aber wir brauchen eine umfassende Sozialstaatsreform. Wir wollen gesellschaftlich sinnvolle Arbeit schaffen und finanzieren lieber diese als die Arbeitslosigkeit“, sagte sie mit Bezug zum Sozialstaatskonzept ihrer Partei.
Schmidt betonte, ihre Partei fühle sich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt, denn so, wie die Sanktionen derzeit ausgestaltet seien, seien sie viel zu hart.
FDP fordert höhere Hinzuverdienstgrenzen
Pascal Kober (FDP) mahnte: „Wir dürfen eins nicht vergessen: Nur zehn Prozent der ALG-II-Leistungsempfänger sind von Sanktionen betroffen. Das heißt, 90 Prozent haben mit diesem System des Forderns und Förderns kein Problem.“
Die Politik soll nach dem Urteil nun die Chance nutzen, für diese 90 Prozent mehr zu erreichen, nämlich den Einstieg in den Arbeitsmarkt und den Aufstieg innerhalb des Arbeitsmarktes zu erleichtern. Kober forderte unter anderem höhere Hinzuverdienstgrenzen und eine Entbürokratisierung bei Hartz IV.
Grüne: Etappensieg für die sozialen Grundrechte
Sven Lehmann (Bündnis 90/Die Grünen) bezeichnete das Verfassungsgerichtsurteil als „wichtigen Etappensieg“ für die sozialen Grundrechte. Hartz-IV-Leistungsbezieher würden noch immer nicht auf Augenhöhe behandelt, der Liste der Pflichten stehe nur eine kurze Liste der Rechte gegenüber.
„Das System des Forderns und Förderns ist schon lange in einer Schieflage. Wir sollten endlich zu einem Schützen und Unterstützen kommen“, sagte er. Nötig seien eine sanktionsfreie Mindestsicherung und höhere Löhne. Beschäftigte und Arbeitslose dürften nicht länger gegeneinander ausgespielt werden, forderte Lehmann.
Antrag der Linken
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu erleichtern und dazu das Vetorecht der Arbeitgeber im Tarifausschuss abzuschaffen. Prekäre Beschäftigungsformen sollten zugunsten unbefristeter, regulärer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zurückdrängt werden. Dafür sollten Mini- und Midijobs der vollen Sozialversicherungspflicht unterstellt, Werkverträge umfassend reguliert, sachgrundlose Befristungen abgeschafft, Kettenbefristungen unterbunden sowie Leiharbeitsverhältnisse begrenzt und langfristig verboten werden.
Den gesetzlichen Mindestlohn will die Fraktion auf zwölf Euro pro Stunde erhöhen und Ausnahmen vom gesetzlichen Mindestlohn streichen. Weiterbildung sei für alle Erwerbslosen und Erwerbstätigen zu sichern, indem Erwerbslose im Bereich des Zweiten und Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II und SGB III) sowie Erwerbstätige einen Rechtsanspruch auf regelmäßige Weiterbildung erhalten. Bei Personen ohne anerkannten Berufsabschluss solle zunächst eine Weiterbildung mit dem Ziel Berufsabschluss Vorrang haben. Erwerbsfähige Bezieher von Hartz-IV-Leistungen, die sich in der Weiterbildung befinden, sollen zum Arbeitslosengeld II einen Zuschuss erhalten, der nicht auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts angerechnet werden soll.
Abstimmung über Oppositionsanträge
Ein von der FDP-Fraktion vorgelegter Antrag mit dem Titel „Rechtssicherheit für die Kommunen und Jobcenter – Berechnung der Kosten der Unterkunft in der Grundsicherung vereinfachen“ (19/7030) wurde mit breiter Mehrheit der übrigen Fraktionen zurückgewiesen. Der Antrag der Fraktion Die Linke „Wohnkostenlücke schließen – Kosten der Unterkunft existenzsichernd gestalten“ (19/6526) fand bei Unterstützung durch Bündnis 90/Die Grünen keine Mehrheit gegen CDU/CSU, SPD, FDP und AfD. Beiden Entscheidungen lag eine gemeinsame Beschlussvorlage des Ausschusses für Arbeit und Soziales (19/9324) zugrunde.
Ebenfalls Ablehnung fand Antrag der Linksfraktion mit dem Titel „Sozialstaat stärken – Hartz IV sofort auf 582 Euro erhöhen“ (19/10621) mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, AfD und FDP bei Stimmenthaltung der Grünen. Der Entscheidung lag eine Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales (19/14217) zugrunde. Auch bei einem weiteren Antrag der Fraktion Die Linke „Verwaltungskosten der Jobcenter senken – Bagatellgrenze für Rückforderungen anheben“ (19/11097) reichte die Unterstützung der Grünen gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen nicht aus. Auch in diesem Fall lag eine Beschlussvorlage des Ausschusses für Arbeit und Soziales (19/14202) vor. Darüber hinaus lehnten CDU/CSU, SPD und AfD gegen die Stimmen der FDP und Grünen bei Enthaltung der Linksfraktion einen Antrag der Liberalen mit dem Titel „Hartz IV entbürokratisieren – Bagatellgrenze einführen“ (19/14064) ab. Dem Votum lag ein Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales (19/14469) zugrunde.
Linke: Kosten der Unterkunft „existenzsichernd gestalten“
Die Linke fordert in einem Antrag (19/6526), die Kosten der Unterkunft im Arbeitslosengeld-II-Bezug existenzsichernd zu gestalten. Der massive Mietanstieg der vergangenen Jahre belaste arme Haushalte bis hin zu Haushalten mit mittlerem Einkommen.
Die Übernahme der Wohnkosten sei derzeit unzureichend gesetzlich geregelt, obwohl Wohnen zum verfassungsrechtlich geschützten Existenzminimum gehöre, schreibt die Fraktion. Sie verlangt deshalb, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt, der die Wohnkostenlücke im Zweiten und Zwölften Sozialgesetzbuch schließt.
FDP: Pauschalierung von für Unterkunft und Heizung
Die FDP-Fraktion tritt in ihrem Antrag (19/7030) dafür ein, den Ländern und Kommunen eine stärkere Pauschalierung von Leistungen für Unterkunft und Heizung zu ermöglichen.
Sie fordert ferner mehr Rechtssicherheit für die Kommunen bei der Berechnung der Pauschalbeträge oder der Kostenobergrenzen für Unterkunft und Heizung sowie konkrete Vorgaben zum Berechnungsverfahren, zur Methodik und zu den Quellen für die Datenanalyse bei der Bestimmung der Pauschalbeträge oder Kostenobergrenzen
Linke: Hartz-IV-Regelsatz auf 582 Euro erhöhen
In einem weiteren Antrag der Linksfraktion (19/10621) wird gefordert, den Hartz-IV-Regelsatz sofort auf 582 Euro zu erhöhen. Die Fraktion kritisiert, dass die aktuelle Armutsquote der Bevölkerung mit 16,1 Prozent deutlich höher liege als vor den Agenda-2010-Reformen und der damit verbundenen Einführung des Arbeitslosengelds II (ALG II).
Das soziokulturelle Existenzminimum dürfe nicht länger politisch motiviert kleingerechnet werden, es müsse sich an der Armutsgrenze orientieren, schreiben die Abgeordneten.
FDP und Linke für Bagatellgrenzen
Die Senkung der Verwaltungskosten der Jobcenter und die Einführung einer Bagatellgrenze für Rückforderungen fordern die Linken in einem weiteren Antrag (19/11097). Um die Verwaltungskosten der Jobcenter zu senken und die Mitarbeiter in ihrer Arbeit zu entlasten, sei es nötig, ineffiziente Verwaltungstätigkeiten zu minimieren, heißt es in der Vorlage. Hierzu gehörten Rückforderungen, die die Jobcenter bei Übernahme von Leistungen stellen, die sich im Bagatellbereich bewegen. Im Jahr 2018 seien knapp 1,1 Millionen Rückforderungsbescheide mit einem Kleinbetrag von bis zu 50 Euro ergangen, wie die Abgeordneten erläutern. Sie verlangen deshalb, auf Rückforderungen zu verzichten, wenn diese einen Betrag von 50 Euro nicht übersteigen, da andernfalls die Kosten der Einziehung dieses Betrages in keinem Verhältnis zur Höhe des Anspruchs stünden.
Die FDP-Fraktion fordert weniger Bürokratie im Hartz-IV-System durch die Einführung einer Bagatellgrenze. In ihrem Antrag (19/14064) verlangt sie konkret, eine Bagatellgrenze von 25 Euro für Aufhebungs-und Erstattungsverfahren von Jobcentern einzuführen. Sie begründet die Initiative mit dem schwerfälligen System in der Grundsicherung für Arbeitssuchende, das dazu führe, dass Jobcenter-Mitarbeiter in Bürokratie ersticken und überproportional viel Zeit mit der Bearbeitung von Anträgen anstatt mit der Vermittlung der Arbeitslosen verbringen. (che/07.11.2019)