1. Untersuchungsausschuss

Wie es zur Abschiebung des Tunesiers Bilel ben Ammar kam

Abbildung von Sicherheitssperre am Berliner Breitscheidplatz

In der Geschichte des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche spielt Ben Ammar eine geheimnisumwitterte Rolle. (© picture alliance/chromorange)

Ein Beamter aus dem Bundesinnenministerium hat dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) unter Vorsitz von Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU) die Entscheidungsfindung in seinem Haus geschildert, die der umstrittenen Abschiebung des Tunesiers Bilel ben Ammar Anfang 2017 voranging. „Wir haben uns das nicht leicht gemacht“, betonte Regierungsdirektor Dr. Günter Drange in seiner Vernehmung am Donnerstag, 17. Oktober 2019. Der heute 43-jährige Zeuge war von August 2016 bis März 2018 persönlicher Referent der damaligen Innenstaatssekretärin Dr. Emily Haber, die sich persönlich dafür eingesetzt hatte, Ben Ammar außer Landes zu schaffen.

Enger Vertrauter des Attentäters Anis Amri

Ben Ammar war ein enger Vertrauter des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri und stand eine Zeitlang im Verdacht, Mittäter des Anschlags gewesen zu sein. Er wurde am 4. und am 19. Januar 2017 in Untersuchungshaft von Beamten des Bundeskriminalamts (BKA) vernommen. Die Vermutung, er sei am Attentat seines Freundes Amri beteiligt gewesen, habe sich dabei allerdings nicht erhärten lassen, sagte der Zeuge. Das BKA habe signalisiert: „Aus dem kriegen wir nichts raus.“ In dieser Situation habe auch das im Ministerium zuständige Referat ÖSII/2 den „fachlichen Ratschlag“ erteilt, auf die Abschiebung Ben Ammars hinzuwirken.

Damit sei der Tunesier der erste Anwendungsfall einer Verabredung gewesen, die die damaligen Ressortschefs für Inneres und Justiz, Dr. Thomas de Maizière und Heiko Maas, Mitte Januar 2017 als Konsequenz aus dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz getroffen hätten. Demnach sollten islamistische Gefährder, wenn irgend möglich, künftig auch wegen minder schwerer Delikte in Untersuchungshaft kommen können. Darüber hinaus hätten die Minister vereinbart, in Fällen, in denen das Strafrecht an seine Grenzen stoße, „konsequent ausländerrechtliche Maßnahmen“ zu nutzen. Dies sei ein neuer Ansatz gewesen, sagte Drange.

„Strafanspruch geht vor“

Bei „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ für ein Hafturteil gehe weiterhin der „Strafanspruch“ vor, betonte der Zeuge.  Ansonsten gelte, „dass wir ausländerrechtliche Möglichkeiten konsequent nutzen, wenn wir nicht sicherstellen können, dass die Person, über die wir sprechen, in Haft einfahren kann. Wir versuchen, eine gefährliche Person, wenn wir sie nicht in Haft bringen können, außer Landes zu schaffen.“ Dieser neue Kurs habe mittlerweile auch Früchte getragen. Seien vor dem Anschlag im Jahr drei bis fünf als Gefährder identifizierte Islamisten abgeschoben worden, so seien es heute 40 bis 50, sagte Drange.

Ben Ammar sei den Behörden als radikaler Islamist mit „hohem kriminellem Potenzial“ bekannt gewesen. Auf seinem Mobiltelefon hätte sich zwei Fotos vom Schauplatz des Anschlages gefunden, die nach der Tat aufgenommen worden seien. Am Vorabend habe er mit Amri zusammengesessen. Ein Zeuge habe den Eindruck gewonnen, die beiden hätten sich hoch konspirativ verhalten und mit Sicherheit über das geplante Attentat geredet. Ben Ammar selbst habe angegeben, sie hätten Fragen des Ausländerrechts erörtert.

„Offensiv für die Abschiebung stark gemacht“

Ein Anfangsverdacht der Tatbeteiligung, meinte der Zeuge, sei also durchaus plausibel gewesen, habe sich aber nicht erhärten lassen. Im Ministerium habe der Eindruck geherrscht: „Wir haben ein schlechtes Bauchgefühl, aber wie kriegen keinen Knopf an ihn. Wir können es nicht nachweisen, und wir müssen es nachweisen, wenn wir ihn in Untersuchungshaft halten wollen.“

In dieser Lage habe sich seine Vorgesetzte, Staatssekretärin Haber, „offensiv“ und erfolgreich für die Abschiebung stark gemacht.

Emily Haber: Islamistische Gesinnung stand außer Frage

Die damalige Staatssekretärin im Bundesinnenministerin verteidigte im weiteren Verlauf der Sitzung als Zeugin vor dem Ausschuss die Entscheidung, knapp sechs Wochen nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche einen engen Vertrauten des Attentäters  Anis Amri abzuschieben.

„Für uns war der ausländerrechtliche Umgang mit dem Fall Amri eine dramatische Warnung, wie dringlich die Durchsetzung der Ausreisepflicht bei Gefährdern ist“, sagte Emily Haber. Die islamistische Gesinnung des Tunesiers Bilel ben Ammar habe außer Frage gestanden.

Haftprüfungstermin im Januar 2017

Ben Ammar saß im Januar 2017 hinter Gittern, weil das Amtsgericht Tiergarten einen Haftbefehl wegen mittelbarer Falschbeurkundung und Leistungserschleichung ausgestellt hatte. Angesichts der Geringfügigkeit dieser Delikte sei aber absehbar gewesen, dass sich die Untersuchungshaft nicht werde aufrechterhalten lassen.

Bei einem Haftprüfungstermin am 23. Januar 2017 habe sich das Gericht lediglich eine Verlängerung bis zum 3. Februar abringen lassen. „Wir wollten alles in unserer Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass Ben Ammar in Deutschland wieder auf freien Fuß kommt“, betonte Haber, die seit dem Sommer 2018 als Botschafterin in Washington amtiert.

„Vollziehbar ausreisepflichtig“

In Zusammenwirken mit dem ausländerrechtlich zuständigen Freistaat Sachsen habe das Innenministerium daher seit der ersten Januarhälfte die Abschiebung vorbereitet. Am 5. Januar sei ben Ammars Asylantrag abgelehnt worden, seit dem 14. Januar sei er vollziehbar ausreisepflichtig gewesen.

Die endgültige Entscheidung sei aber erst am 20. Januar gefallen, nachdem das Bundeskriminalamt auch in einer zweiten Vernehmung Ben Ammars keinen gerichtsfesten Beleg für eine Mithilfe am Anschlag habe ermitteln können.

„Der lügt wie gedruckt“

Zuvor hatte sich ein Referatsleiter aus dem Bundesinnenministerium selbstkritisch zur Abschiebung  Ben Ammars geäußert. „Wenn Sie mich fragen, ob wir ihn doch nicht noch hätten behalten können, würde ich Ihnen aus der heutigen Sicht recht geben“, sagte Ministerialrat Jens Koch. Der heute 47-jährige Zeuge führt das für internationalen Terrorismus zuständige Referat ÖS II/2 und hatte damals die Abschiebung Ben Ammars energisch befürwortet.

Auch Koch betonte, dass sich der Verdacht, dieser sei am Attentat seines Freundes Amri beteiligt gewesen, trotz intensiver Ermittlungen nicht habe erhärten lassen: „Der lügt wie gedruckt, wir werden aus dem keine brauchbare Aussage herauskriegen“, habe er aus dem Bundeskriminalamt gehört.

„Ich bin nicht der Oberermittler“

Er habe daher keinen Grund gesehen, Ben Ammar im Land zu behalten: „Wenn die mir sagen, das wird nix – ich bin nicht der Oberermittler.“ Auf Ben Ammar sei damit erstmals eine Grundsatzentscheidung des Innen- und des Justizministeriums angewandt worden, in Fällen, in denen einem ausländischen islamistischen Gefährder mit Mitteln des Strafrechts nicht beizukommen war, vorrangig dessen Abschiebung zu betreiben: „Aus der damaligen Sicht war nicht meine Hauptsorge, einen wichtigen Zeugen abzuschieben“, sagte Koch.

Sein Albtraumszenario sei ein anderes gewesen: „Der geht beim Haftprüfungstermin zur Tür hinaus, und wenn der dann noch eine Tat begeht, weiß ich nicht, wie ich das erklären soll. Deshalb habe ich mich dafür eingesetzt, dass wir das machen, und dass wir das mit Bravour machen – das mag mein Fehler gewesen sein. Die Idee, dass es Sinn machen könnte, den Menschen noch länger  im Land zu halten, die hatte ich einfach nicht.“ (wid/17.10.2019)

Liste der geladenen Zeugen

  • Dr. Günter Drange, Regierungsdirektor, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat
  • Jens Koch, Ministerialrat, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat
  • Dr. Emily Haber, deutsche Botschafterin in den USA, ehemals Bundesministerium des Innern

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