Vor 100 Jahren: Nationalversammlung ratifiziert Versailler Vertrag
Vor 100 Jahren, am Mittwoch, 9. Juli 1919, hat die Weimarer Nationalversammlung den Versailler Vertrag ratifiziert. Nur notgedrungen hatte Deutschland, vertreten durch Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Spiegelsaal von Versailles am 28. Juni den Bedingungen der Siegermächte des Ersten Weltkriegs zugestimmt. Unannehmbar, demütigend und vernichtend, für das deutsche Volk unerträglich und bei Aufbietung aller Kräfte unerfüllbar, so lautete der einstimmige Tenor zu den Friedensbedingungen quer durch alle Parteien. Nicht nur unter den Abgeordneten, auch in der Bevölkerung, löste das alliierte Vertragswerk Proteste und Empörung aus.
Scheidemann: Rücktritt wegen „unannehmbarer Bedingungen“
Regierungschef Philipp Scheidemann (SPD) hatte am 19. Juni sein Amt (offizielle Amtsbezeichnung: Reichsministerpräsident) niedergelegt, weil er diese Bedingungen, an deren Aushandlung Deutschland und seine Verbündeten nicht hatten teilnehmen dürfen und deren Einwände und Vorschläge wenig bis gar nicht berücksichtigt worden waren, für unannehmbar hielt. In seiner Regierungserklärung zu den Friedensbedingungen am 12. Mai hatte er erklärt: „Dieser schauerlichste und mörderische Hexenhammer, mit dem einem großen Volk das Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit, die Zustimmung zur erbarmungslosen Zerstücklung, das Einverständnis mit Versklavung und Helotentum abgepresst und erpresst werden soll — dies Buch darf nicht zum Gesetzbuch der Zukunft werden!“
Für Empörung sorgten vor allem die Bestimmung des sogenannten Kriegsschuldartikels (Artikel 231), nach dem Deutschland und seine Verbündeten die alleinige Kriegsschuld übernehmen sollten, und die Gebietsabtretungen.
Bauer: Einen neuen Krieg können wir nicht verantworten
Auch die Minister der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) lehnten die alliierten Friedensbedingungen ab. Die SPD-Fraktion war sich uneins. Das Zentrum war bereit, unter Protest zuzustimmen. Das nachfolgende Regierungskabinett unter Reichsministerpräsident Gustav Bauer sah sich angesichts der Drohung einer militärischen Intervention durch die Alliierten gezwungen die Friedensbedingungen anzunehmen.
Am 23. Juni erklärte Bauer vor der Nationalversammlung deshalb: „Unterschreiben wir! Das ist der Vorschlag, den ich Ihnen im Namen des gesamten Kabinetts machen muss. Bedingungslos unterzeichnen! Ich will nichts beschönigen. Die Gründe, die uns zu diesem Vorschlag zwingen, sind dieselben wie gestern. Nur trennt uns jetzt eine Frist von knappen vier Stunden von der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten. Einen neuen Krieg könnten wir nicht verantworten, selbst wenn wir Waffen hätten. Wir sind wehrlos. Wehrlos ist aber nicht ehrlos!“
Müller: Trotz Vorbehalten „Vertragserfüllung bis zum Äußersten“
Nicht ohne ihren Protest „gegen diese vertraggewordene Vergewaltigung“ aufrecht zu erhalten, legte die Reichsregierung ihr Ratifikationsgesetz vor. Trotz aller Vorbehalte versicherte als Vertreter der Reichsregierung Außenminister Hermann Müller (SPD) die „Vertragserfüllung bis zum Äußersten“.
Müller machte deutlich: „Wir müssen ohne Vorbehalt, ohne Hinterhältigkeit in die neuen Pflichten hineingehen. Inwieweit wir sie für unerfüllbar halten, haben wir ausgeführt, ehe unsere Unterschrift erzwungen wurde. Aber in den Grenzen der Erfüllbarkeit darf uns keine Schuld und kein Vorwurf treffen. Wir alle, unser ganzes Volk, steht heute vor dem Aufbruch zum 40-jährigen Marsch durch die Wüste. Anders kann ich die kommende Zeit nicht nennen. Der erste Schritt auf diesem Leidenswege ist die Ratifikation.“
„Der Hunger war unser schlimmster Feind“
Das die Ratifikation trotz des allgemeinen Unmuts und der Empörung so zügig folgte, lag vor allem daran, dass für den Fall der Ratifikation des Vertrages die Alliierten die Aufhebung der Blockade zugesagt hatten, die offiziell auch über den Waffenstillstand vom 11. November 1918 hinaus weiter bestanden hatte und das Reich von der Zufuhr dringend benötigter Lebensmittellieferungen abschnitt. „Nicht einen Tag länger als nötig durfte diese Hand an der Kehle unseres Volkes sitzen. Wir haben Jahr für Jahr und Tag für Tag durch diese Abschnürung unseres Volkskörpers von der Weltproduktion an Nahrungsmitteln genug Frauen, Kinder und Greise dahinsiechen sehen“, führte Müller deshalb zur Begründung aus.
Er machte deutlich: „Was immer die Ratifikation sonst bedeutet und mit sich bringt: Politik darf im neuen Deutschland nicht mehr auf Kosten von Menschenleben gemacht werden. Der Hunger war unser schlimmster Feind.“ Gleichzeitig knüpfte er an die Ratifikation des Vertrags und die Gewissheit vom Ende der Blockade die Hoffnung: „Dass damit das Zeichen zur Rückkehr unserer Brüder aus der Kriegsgefangenschaft gegeben werde! Wenn das Wort Frieden nicht jeden Sinn verlieren soll, muss jetzt und sofort die Rücksendung einsetzen.“
SPD: Zustimmung „unter Protest gegen den Gewaltfrieden“
Nicht ohne auch ihrerseits Protest gegen den Gewaltfrieden zu erheben, „der die Versöhnung der Völker hintertreibt und Europa zum Explosionsherd für neue blutige Kriege zu machen droht“, stimmte die sozialdemokratische Fraktion für die Ratifizierung des Friedens.
Für die Fraktion erklärte Hermann Krätzig: „Wir stimmen ihr zu aus denselben Gründen, die uns nötigten, der Regierung die Vollmacht zu erteilen, den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Noch immer schmachten die vielen Hunderttausende unserer Söhne und Brüder unter der Folter der Gefangenschaft. Mit der Ratifizierung des Friedens reißen wir die Schranken nieder und öffnen jenen Opfern des Weltkrieges den Weg in die Heimat, in das Elternhaus und in den Kreis der schwergeprüften Familien. Wir reißen auch die Schranken jener grausamen Hungerblockade nieder, die Millionen unserer Volksgenossen und -genossinnen um Kraft und Leben gebracht hat. Wir wissen, dass das Verbrechen, welches durch diese Hungerblockade an unseren unschuldigen Frauen, Kindern und Greisen begangen wurde, der allgemeinen Verurteilung der Kulturmenschheit sicher ist. Trotzdem müssen wir alles tun, um unser armes, gequältes Volk so schnell wie nur möglich dem Fortwirken dieses Verbrechens zu entziehen.“
„Wir werden nie aufhören, dagegen zu protestieren, dass Elsass-Lothringen unter Nichtachtung des Selbstbestimmungsrechts seiner Bevölkerung an Frankreich abgetreten werden musste und dass seinen Bewohnern nicht einmal das Optionsrecht gewährt wird. Nie werden wir uns damit abfinden, dass man unser Vaterland in Stücke reißt und eine große Zahl unserer Volksgenossen unter die Fremdherrschaft zwingt.“
Zentrum: Zustimmung trotz „Kränkung deutscher Ehre“
Auch die Zentrumsfraktion beugte sich „dem harten Zwang der Tatsache, dass es keinen anderen Weg gibt, das Reich vor Anarchie und Zerfall zu retten und Volk und Vaterland vor dem sicheren Untergang zu bewahren“ und stimmte der Ratifikation des Friedensschlusses zu. „Es geschieht nicht aus freiem Willen und innerer Überzeugung“, erklärte für seine Fraktion der Jurist Dr. Peter Spahn.
„Der uns zur Ratifikation vorgelegte Friedensvertrag entspricht nicht den Grundsätzen des die Völker verbindenden christlichen Geistes. Er ist das Ergebnis einer uns über den Friedensschluss verfolgenden Unversöhnlichkeit. Er mutet dem deutschen Volke ein wahrheitswidriges Schuldbekenntnis zu, er fordert eine Auslieferung deutscher Männer, die mit Ehrgefühl und deutschem Rechte unvereinbar ist. Er nimmt uns deutsches Land in West und Ost, er raubt uns alle unsere mit deutschem Gut und Blut entwickelten Kolonien und fügt diesem Raube noch den Vorwand und Schimpf kolonisatorischer Unfähigkeit zu. Mit tiefstem Schmerz erfüllt uns diese Kränkung deutscher Ehre und diese Zerstörung deutscher Kultur.“
USPD: Zustimmung unter dem Zwang der Gewalt
Ebenfalls ihre Zustimmung erklärte, wie schon zur Unterzeichnungsermächtigung der Reichsregierung am 22. und 23. Juni, die Fraktion der Unabhängigen sozialdemokratischen Partei (USPD). Namens seiner Fraktion erklärte der Abgeordnete Alfred Henke: „Wir tun es unter dem Zwange der Gewalt, deren wir uns nicht erwehren können, gegen die wir eine Abwehr aber auch nicht versuchen wollen, um nicht neue und noch größere Leiden über die gequälten Völker heraufzubeschwören.“
Alles komme jetzt darauf an, die Völker von dem ungeheuren Druck des Krieges zu befreien, ihnen die Neugestaltung der Gesellschaft im Geiste des Sozialismus zu ermöglichen. Nach der Ratifizierung erwarte man die sofortige Aufhebung der Blockade, die die Zufuhr von Nahrungsmitteln und Rohstoffen noch immer sperrt, und die schleunige Rückbeförderung der Gefangenen, deren Empfang und Pflege die erste Sorge der Regierung sein müsse.
„Der Friede der Gewalt und der Ausbeutung“
Die förmliche Zustimmung zum Friedensschluss ändere jedoch in keinem Punkt die Meinung seiner Fraktion über Wesen und Bedeutung dieses Friedens. „Es ist der Friede der Gewalt und der Ausbeutung, es ist der Friede des durch das Schwert siegreichen Kapitalismus. Auch in dieser Stunde erheben wir Protest dagegen, dass Millionen deutscher Staatsangehöriger ungefragt und mit völliger Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in willkürlich umschriebene Grenzen hineingezwungen und Gebiete zusammenhängender Wirtschaft zerrissen werden.“
Der Friede verspreche zwar einen Bund der Völker, stifte aber in Wahrheit eine Allianz der imperialistischen Regierungen gegen die zum Sozialismus aufstrebenden Völker, kritisierte Henke.
DDP: Erfüllung ja, Zustimmung nein
Die Fraktion der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) konnte in ihrer überwiegenden Mehrheit diesem Friedensvertrag nicht zustimmen und überließ diese Zustimmung der Mehrheit des Hauses, die bereits am 22. und 23. Juni die Regierung ermächtigt hatte, diesen Frieden zu unterzeichnen. Die Fraktion lasse sich „heute wie damals“ von der Erwägung leiten, dass aus der Annahme dieses Friedens dem deutschen Volk noch schwerere Nachteile drohen würden als aus der Ablehnung, begründete der Völkerrechtler und Pazifist Dr. Walther Schücking die ablehnende Haltung seiner Partei zur Ratifizierung des Vertrages.
„Wenn der Friede nunmehr trotz des Widerspruchs unserer Fraktion zustande kommt, so wissen wir uns doch einig mit dem ganzen Hause in seiner moralischen Verurteilung. Wir wollen ihn getreulich erfüllen, soweit er sich erfüllen lässt; aber unerfüllbar bleibt für uns der innere Verzicht auf den staatlichen Zusammenhang mit Millionen unserer Volksgenossen, die gegen ihren Willen von uns losgerissen oder am Zusammenschluss mit uns gewaltsam verhindert werden.“
DNVP lehnt Verantwortung für den Friedensvertrag ab
Anders als die DDP, die den Vertrag zwar ablehnte, sich aber bereit erklärte, ihn zu erfüllen, lehnten die Deutschnationalen jegliche Verantwortung für den Friedensvertrag ab.
Im Namen der DNVP erklärte der Theologe D. Dr. Gottfried Traub: „Unser Volk steht vor der letzten Entscheidung über die Besiegelung des deutschen Elends. Einmütig hat die deutschnationale Fraktion beschlossen, der Ratifizierung des vorliegenden Friedensvertrags zu widersprechen. Wir sind uns der Folgen einer Ablehnung voll bewusst. Gerade darum lehnen wir die Verantwortung für diesen Friedensvertrag ab. Wehrlos geben wir uns in die Hände der Feinde.“
DVP: Ablehnung im vollen Bewusstsein der Verantwortlichkeit
Und auch die Deutsche Volkspartei erklärte in Übereinstimmung mit ihrer Haltung in den Sitzungen der Nationalversammlung vom 22. und 23. Juni, dass sie einmütig nach bestem Wissen und Gewissen ihre Zustimmung zur Ratifikation dieses Friedensvertrages nicht zu geben vermag. Die Haltung seiner Partei erklärte ihr Ehrenvorsitzender D. Dr. Wilhelm Kahl. Die DVP wiederhole ihre Ablehnung im vollen Bewusstsein der Verantwortlichkeit, die sie damit vor der Weltgeschichte und dem deutschen Volk übernehme.
Nicht einen Augenblick gebe man sich einer Täuschung darüber hin, dass neue ungeheure Leiden dem schwergeprüften Volk, zumal der Grenzgebiete, aus der endgültigen Ablehnung des Friedens auf unbestimmbare Zeit erwachsen würden. Zu Gerechtigkeit und Ritterlichkeit erbarmungsloser Feinde habe die DVP jedes Vertrauen verloren. Dennoch könne man nicht den Entschluss fassen, das deutsche Reich und Volk unter Verleugnung seiner ganzen ruhmvollen Geschichte einem sicheren Untergang oder endloser Knechtschaft auszuliefern.
209 Ja-Stimmen, 116 Nein-Stimmen
In namentlicher Abstimmung votierte die Nationalversammlung mit großer Mehrheit für die Ratifizierung: Insgesamt gaben 325 Abgeordnete ihre Stimme ab. Davon stimmten 209 mit Ja, 116 mit Nein. (klz/04.07.2019)