Gesundheitsexperten sehen die teilweise stark steigenden Eigenanteile in der Heimpflege mit Sorge. Sie schlugen anlässlich einer öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses unter Vorsitz von Erwin Rüddel (CDU/CSU) am Montag, 4. Juni 2018, in Berlin über einen Antrag der Linksfraktion (19/960) , auch in ihren schriftlichen Stellungnahmen, unterschiedliche Lösungen vor.
Offener Brief von Seniorenheim-Bewohnern
Vor Beginn der Expertenanhörung überreichten Bewohner von Seniorenheimen einen offenen Brief an den Ausschuss, in dem sie steigende Kosten beklagten. Sie forderten, höhere Tarifabschlüsse für Pfleger dürften nicht allein zulasten der Heimbewohner gehen, weil sonst viele Betroffene Sozialhilfe beantragen müssten, da ihre Renten nicht ausreichten.
Einig sind sich die Experten darin, dass die Pflegekosten in den nächsten Jahren deutlich steigen werden, unter anderem durch höhere Löhne und mehr Personal, was zu höheren Beiträgen führen könnte und auch zu höheren Eigenanteilen. Während einige Experten empfehlen, aus der Teilkostendeckung auszusteigen und eine Pflegevollversicherung zu entwickeln, sehen andere Fachleute darin ein zusätzliches Kostenrisiko sowie einen systematischen Fehlanreiz.
„Spätere Beitragssatzsprünge verhindern“
Auch die Idee einer Teilkostenversicherung mit fixem Eigenanteil der Versicherten wurde in der Anhörung vorgeschlagen. Einige Sachverständige sprachen sich zudem dafür aus, den umstrittenen Pflegevorsorgefonds nicht umzuwidmen, sondern im Gegenteil auszubauen, um so spätere Beitragssatzsprünge besser zu verhindern.
Die Linke fordert in ihrem Antrag, die Eigenanteile in Pflegeheimen zu begrenzen und die Teilkostendeckung zu einer Pflegevollversicherung umzugestalten. Die angestrebte flächendeckende tarifliche Bezahlung der Pflegekräfte dürfe sich nicht zulasten der Pflegefälle und Versicherten auswirken. Der Pflegevorsorgefonds solle umgewidmet und die medizinische Behandlungspflege in stationären Pflegeeinrichtungen wieder durch die Krankenversicherung finanziert werden.
„Finanzielles Risiko wird oft unterschätzt“
Nach Angaben der Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA-Pflegeschutzbund) wird das finanzielle Risiko eines Pflegefalls oft unterschätzt. Der Versicherungszuschuss decke nur bis zu 75 Prozent der reinen Pflegekosten. Bei stationärer Pflege kämen Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie Investitionskosten hinzu, die von den Betroffenen selbst zu tragen seien. Eine bessere Bezahlung und Aufstockung der Pflegekräfte werde zu weiteren Kosten führen.
Der Verband schlug vor, die medizinische Behandlungspflege wieder auf die gesetzlichen Krankenkassen zu übertragen, den Pflegevorsorgefonds aufzulösen, die aufwendigen Parallelstrukturen bei den zahlreichen Pflegekassen zu verändern, Eigenanteile zu deckeln und langfristig eine Vollversicherung einzuführen. Nach Berechnungen des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) würde die Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege die GKV rund drei Milliarden Euro jährlich kosten.
„Eigenverantwortung könnte an Bedeutung verlieren“
Der Bonner Arbeitsrechtler Prof. Dr. Gregor Thüsing warnte, mit einer Vollversicherung könnte die Bereitschaft zurückgehen, ältere Menschen zu Hause zu pflegen. Der Pflegeversicherung liege jedoch der Gedanke der Eigenverantwortung zugrunde. Wenn der Sozialstaat die Pflegebedürftigkeit komplett absichere, könnte dadurch die Eigenverantwortung an Bedeutung verlieren und die Pflegeversicherung belastet werden. Vor allem bei einer Steuerfinanzierung ginge der Zusammenhang zwischen Beitrag und Leistungsanspruch und damit das Kostenbewusstsein verloren.
Der Arbeitgeberverband BDA gab zu bedenken, eine Vollversicherung würde neue Ungerechtigkeiten schaffen. Es wäre nicht vermittelbar, warum über die Pflege hinaus eine Unterstützung für Verpflegung und Unterkunft geleistet werde, die andere Menschen nicht erhielten. Insbesondere wohlhabende Pflegebedürftige würden durch die Finanzierung ihrer Wohn- und Verpflegungskosten bessergestellt. Der Verband plädierte alternativ für eine ergänzende kapitalgedeckte Risikovorsorge, um die Finanzierbarkeit der Pflege langfristig zu sichern. Denkbar wäre aus seiner Sicht ein Prämienmodell, ein einkommensunabhängiger Zusatzbeitrag für Versicherte.
„Beiträge müssen auf jeden Fall steigen“
Für ein solches Konzept plädierte auch die Sozialökonomin Dr. Susanna Kochskämper vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Es sollte über eine ergänzende, kapitalgedeckte zweite Säule für die Pflegeversicherung nachgedacht werden. Da Pflege meist erst im hohen Alter nötig werde, bleibe ein langer Zeitraum für die Vorsorge. Und selbst ältere Leute könnten mit einer geringen Prämie einen Teil des Eigenanteils in der Pflege decken.
Sie warnte, auf keinen Fall sollte die Erwartung geschürt werden, die Pflegeversicherung könnte die steigenden Pflegekosten bei gleichbleibenden Leistungszusagen allein und ohne signifikant steigende Beiträge bewältigen. Ob Voll- oder Teilkostenversicherung, die Beiträge müssten auf jeden Fall steigen, sagte Kochskämper in der Anhörung voraus und verwies auf eigene Berechnungen.
Pflegerat für bundeseinheitliche Regelung
Nach Angaben des Deutschen Pflegerates (DPR) steigt der Eigenanteil in den stationären Pflegeeinrichtungen seit Jahren. Mit der Pflegereform 2017 sei zwar der Übergang in einen höheren Pflegegrad durch den einrichtungseinheitlichen Eigenanteil (EEE) nicht mehr mit Mehrkosten für die Pflegefälle verbunden, jedoch sei der Kostenanstieg ungebremst. Ferner seien die Kosten in den Bundesländern sehr unterschiedlich.
Die mit dem steigenden Eigenanteil verbundenen Schwierigkeiten zeigten sich auch an den Zahlen der „Hilfe zur Pflege“ durch die Sozialhilfeträger. 2016 seien rund 3,3 Milliarden Euro für die „Hilfe zur Pflege“ in stationären Pflegeeinrichtungen ausgegeben worden. Aus Sicht des DPR sollte der Eigenanteil für die reinen Pflegekosten „finanzierbar“ und bundeseinheitlich geregelt sein.
„Handlungsbedarf wegen steigender Belastungen“
Der Sozialverband VdK sieht wegen der „drastisch steigenden Belastungen“ für die Betroffenen akuten Handlungsbedarf. Pflegebedürftige in stationären Einrichtungen zahlten im Schnitt 587 Euro monatlich aus eigener Tasche für die Pflegekosten. Zusammen mit den Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Investitionskosten ergebe sich eine monatliche Gesamtbelastung von 2.278 Euro im Schnitt.
Der Verband forderte einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss, um Kosten zu begleichen, die entweder die Infrastruktur betreffen oder gesamtgesellschaftliche Aufgaben, etwa die Investitions- oder Ausbildungskosten. Auch ein Vertreter des GKV-Spitzenverbandes brachte in der Anhörung einen Bundeszuschuss zur Pflegeversicherung ins Spiel. (pk/04.06.2018)
Liste der geladenen Sachverständigen
Verbände/Institutionen:
- AWO-Bundesverband e. V.
- Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS)
- Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen e. V. (BIVA)
- Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e. V. (bpa)
- Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e. V. (BDA)
- Deutscher Caritasverband e. V. (DCV)
- Deutscher Pflegerat e. V. (DPR)
- Deutscher Evangelischer Verband für Altenarbeit und Pflege e. V. (DEVAP)
- Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
- Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (SOCIUM), Universität Bremen
- Sozialverband VdK Deutschland e. V.
- Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)
Einzelsachverständige:
- Lewe Bahnsen, Institut für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik, Universität Freiburg
- Dr. Susanna Kochskämper, Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V.
- Dr. Jochen Pimpertz, Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V.
- Hans-Joachim Schneider, Betreiber von Pflegeeinrichtungen
- Prof. Dr. Gregor Thüsing, Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit, Universität Bonn