Geschichte

Vor 50 Jahren: De­batte über den ers­ten Be­richt zur Lage der Nation

Ein Mann mit silbernem Haar steht am Rednerpult im alten Bundestag in Bonn.

Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger spricht 1968 im Deutschen Bundestag in Bonn. (© Bundespresseamt/Engelbert Reineke)

Vor 50 Jahren, am Montag, dem 11. März 1968, hat Bundeskanzler Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU) dem Bundestag den ersten Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland erstattet. Er kam damit einer Forderung des Parlaments vom 28. Juni 1967 zu einer entsprechenden jährlichen Berichterstattung durch die Bundesregierung (Drucksache 5/1898) nach.

„Selbstbestimmungsrecht auch für die Deutschen“

„Herr Präsident, meine Damen und Herren! Dreiundzwanzig Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges muss dieser erste Bericht über die Lage der Nation immer noch die Überschrift ,Bericht über die Lage der Nation im geteilten Deutschland' tragen“, sagte Kiesinger.

Und weiter: „Nicht durch den Willen der Deutschen ist dies so. Hätten sie zu irgendeinem Zeitpunkt selber entscheiden können – oder könnten sie es heute –, dann wäre die friedliche Einigung der Nation gewiss. Dies weiß alle Welt im Westen wie im Osten. Das Selbstbestimmungsrecht, auf das sich die Völker der Erde berufen und welches in der Charta der Vereinten Nationen feierlich verbürgt ist, wird auch dem deutschen Volke nicht auf die Dauer verweigert werden können.“

„Not der Spaltung mildern“

Ziel dieses Berichtes, wie es der der SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt in der am 14. März 1968 folgenden Aussprache zusammenfasste, sollte es sein, „die Kenntnis nüchterner Tatsachen über das Leben in beiden Teilen Deutschlands zu vermitteln und uns in den Stand zu setzen, alle Möglichkeiten mit Geduld und Sachkunde auszuschöpfen, den Menschen im anderen Teil Deutschlands wirtschaftlich, politisch und kulturell zu helfen und nach neuen Verbindungen oder Gemeinsamkeiten zu suchen, um auch dadurch die Wirkungen der Maßnahmen des Systems dort drüben auf das unvermeidliche Maß zu reduzieren, um auch dadurch die Not der Spaltung zu mildern, um auch dadurch die weitere Teilung des Landes zu bremsen und die Lebensfähigkeit als Nation zu erhalten.“

Bereits 1965 hatte die SPD angeregt, die Bundesrepublik solle ähnlich wie die USA jedes Jahr einen „Bericht über die Lage der Nation“ vorlegen, um ihr Festhalten am Selbstbestimmungsrecht der Deutschen zu dokumentieren. Am 28. Juni 1967 schließlich verabschiedeten die Abgeordneten einen entsprechenden Antrag aller Bundestagsfraktionen.

„Wir wollen entkrampfen und nicht verhärten“

Seit Dezember 1966 regierte, nach einem Einbruch der Konjunktur, steigender Arbeitslosigkeit, einer Haushaltskrise und dem Auseinanderbrechen der christlich-liberalen Regierungskoalition im Oktober 1966, zum ersten Mal eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD die Bundesrepublik Deutschland.

Als wichtigste Aufgaben hatte der Bundeskanzler deshalb in seiner Regierungserklärung im Dezember 1966 die Konsolidierung der Staatsfinanzen, die Finanzreform, die Stabilisierung der Wirtschaft, die Verabschiedung der Notstandsverfassung, die Einführung eines Mehrheitswahlrechts und die Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Pakts genannt sowie einen Kurswechsel in der Gestaltung des Verhältnisses zur DDR angekündigt: „Wir wollen entkrampfen und nicht verhärten, Gräben überwinden und nicht vertiefen. Deshalb wollen wir die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen mit unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern.“

„Eine europäische Friedensordnung anbahnen“

Als er am 11. März 1968 mit dem ersten „Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland“ vor das Parlament trat, erklärte er infolgedessen: „Die machtpolitischen und ideologischen Gegensätze bestehen weiter, aber die Fronten sind mitten in unserem Lande erstarrt. Wer diesen unerträglichen und gefährlichen Zustand ändern will – und wir müssen und wollen ihn ändern –, kann es nur mit den Mitteln des Friedens tun. Deshalb hat die Bundesregierung ihre Politik der Entspannung gegenüber Osteuropa eingeleitet. Ohne das unzerstörbare Recht unserer Nation, in einem Staate zu leben, preiszugeben, versuchen wir, eine europäische Friedensordnung anzubahnen, die auch die Teilung Deutschlands überwindet.“

In seiner Rede informierte er jedoch nicht nur über die DDR, Probleme der Teilung oder die wirtschaftliche Lage in beiden Teilen Deutschlands. Darüber hinaus behandelte seine deutschlandpolitische Regierungserklärung vom Nichtverbreitungsvertrag für Atomwaffen über das nordatlantische Bündnis und die europäische Einigung bis hin zum deutsch-französischen Verhältnis alle aktuellen politischen Themen. Kiesinger ging auch auf die Proteste der Studentenbewegung, den Vietnamkrieg und die umstrittene Notstandsverfassung ein.

Generalabrechnung der FDP

Die Abgeordneten der FDP, als einziger Oppositionspartei, nutzten die zehnstündige Aussprache über den Bericht zu einer Generalabrechnung mit der Politik der Großen Koalition und warfen ihr vor, lediglich eine beschönigende Bilanz ihrer Arbeit vorzulegen und wichtige Fragen, wie beispielsweise die der zukünftigen Rente, der europäischen Sicherheitspolitik oder der deutsch-amerikanischen Beziehungen in der Frage des Vietnamkrieges unbeantwortet zu lassen. 

Ihr Fraktionsvorsitzender Wolfgang Mischnick regte für die Zukunft an, den Bericht als bessere Diskussionsgrundlage aufzuteilen – in einen schriftlichen Teil, in dem wie in einem statistischen Jahrbuch alle Zahlen enthalten und wertungsmäßig zusammengefasst sind, und einen zweiten Teil, der sogenannten Einbringungsrede.

Kohl letzter Lagebericht

In der Zukunft zogen alle Bundeskanzler jährlich eine deutschlandpolitische Bilanz. Den letzten Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland gab Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl in der 173. Sitzung des elften Deutschen Bundestages am 8. November 1989 ab – einen Tag vor der Öffnung der Mauer.

Darin betonte Kohl: „Freie Selbstbestimmung für alle Deutschen, das war, ist und bleibt das Herzstück unserer Deutschlandpolitik. Freie Selbstbestimmung, das war, ist und bleibt auch der Wunsch, ja die Sehnsucht unserer Landsleute in der DDR.“ (klz/07.03.2018)