Parlament

Helin Evrim Sommer fordert Abzug der Bundes­wehr aus Konya

Porträt einer Frau mit rötlichen Haaren

Helin Evrim Sommer (Die Linke) (© dpa)

Die Abgeordnete Helin Evrim Sommer (Die Linke) fordert angesichts der türkischen Offensive gegen kurdische Milizen in Nordsyrien einen sofortigen Stopp aller Rüstungsexporte in die Türkei sowie einen Abzug der Bundeswehr vom Nato-Stützpunkt in Konya. „Waffen und Panzer, auch aus Deutschland, werden vom türkischen Staat immer wieder gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt, ganz besonders gegen die kurdische. (…) Wer das unterstützt, macht knallharte Geschäfte auf dem Rücken der Kurden und der türkischen Opposition“, erklärt Sommer in einem am Montag, 5. Februar 2018, erschienenen Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Mit Blick auf die deutschen Soldaten, die sich von Konya aus an Aufklärungsflügen über Syrien beteiligen, um Lagebilder an die internationale Anti-IS-Koalition zu liefern, betont sie: „Wir sollten nicht das Risiko eingehen, Teil dieses Krieges gegen die Kurden zu werden.“ Sommer, die selbst kurdischer Abstammung ist und deren Eltern 1980 aus der Türkei nach Deutschland geflohen sind, spricht sich außerdem für ein Rüstungsexportgesetz aus. Das Interview im Wortlaut:


Frau Sommer, im Kampf gegen die Kurden im Norden Syriens setzt die Türkei Kampfpanzer ein, die Deutschland ihr in den 1990er-Jahren ohne größere Auflagen geliefert hat. Muss die Bundesregierung nun tatenlos zusehen, wie mit Hilfe ihrer Waffen der Syrien-Konflikt weiter eskaliert?

Nein, sie darf nur nicht länger die Zuschauerrolle einnehmen. Das Vorgehen gegen die Kurden in der Provinz Afrin ist ein klarer Völkerrechtsbruch, ein Angriffskrieg auf die Bevölkerung eines anderen Staates. Die Bundesregierung muss das endlich offen sagen und klar verurteilen. Außerdem sollte sie ab sofort alle Rüstungsexporte in die Türkei stoppen. Waffen und Panzer, auch aus Deutschland, werden vom türkischen Staat immer wieder gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt, ganz besonders gegen die kurdische. Da werden Dörfer plattgewalzt und Proteste blutig niedergeschlagen. Wer das unterstützt, macht knallharte Geschäfte auf dem Rücken der Kurden und der türkischen Opposition.

Nun ist die Türkei aber Nato-Mitglied. In aller Regel genehmigt die Bundesregierung Lieferungen an Bündnispartner, sonst macht eine solche Partnerschaft doch wenig Sinn.

Als Linken-Politikerin bin ich ohnehin keine Befürworterin der Nato, die gehört aufgelöst. Aber ungeachtet dessen ist es doch so, dass die Türkei die Regeln und Standards der Nato mit Füßen tritt. Deshalb sollte ihre Mitgliedschaft suspendiert werden.

Grundlage für die Waffenausfuhr in Deutschland sind seit dem Jahr 2000 die sogenannten Rüstungsexportrichtlinien. Viele Parteien, auch ihre, fordern jetzt eine gesetzliche Regelung. Was soll das ändern?

Ein gesetzliches Verbot wäre verbindlicher. Wir sollten ausschließen, dass Rüstungsgüter in Länder geliefert werden, in denen bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen und die demokratische Opposition niedergeschlagen wird. Das wäre ein klares Signal an Länder wie Saudi-Arabien, Jemen und die Türkei. Am besten wäre natürlich ein grundsätzliches Verbot, das sämtliche Waffen- und Rüstungsexporte untersagt. Die aktuellen Richtlinien haben zu viele Schlupflöcher, sie ermöglichen immer wieder Waffengeschäfte mit solchen Ländern, ohne dass die Bundesregierung mit Konsequenzen rechnen muss – auch weil die Öffentlichkeit kaum davon erfährt. Das muss sich ändern.


Stichwort Bundeswehreinsätze: Beobachter fürchten, dass die Lagebilder, die auch deutsche Soldaten bei Aufklärungsflügen über Syrien für die internationale Anti-IS-Koalition erstellen, von der Türkei für ihre Offensive gegen die Kurden missbraucht werden könnten. Die Flüge starten vom türkischen Nato-Stützpunkt Konya aus. Teilen Sie diese Sorge?

Ausdrücklich ja. Deshalb sollte die Bundeswehr sofort alle Soldaten aus der Türkei abziehen. Wir sollten nicht das Risiko eingehen, Teil dieses Krieges gegen die Kurden zu werden.

Die türkische Armee hat ihre Offensive praktisch im Alleingang ausgerechnet gegen jene Kurdenmilizen in Nordsyrien gestartet, die den „Islamischen Staat“ (IS) erfolgreich mit bekämpft haben. Warum werden gerade sie jetzt zur Zielscheibe?

Mit der Offensive will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan von den großen innenpolitischen und wirtschaftlichen Problemen im Land ablenken. Vor allem aber will er damit die Stimmen der Nationalisten gewinnen, ohne die er 2019 die Präsidentschaftswahlen nicht für sich entscheiden kann. Er hat die YPG-Milizen im Norden Syriens deshalb zu externen Feinden und Terroristen erklärt. Insgesamt sind ihm die demokratischen Entwicklungen in der Region ein Dorn im Auge. Er fürchtet, dass die mehr als 15 Millionen Kurden in der Türkei sich daran ein Beispiel nehmen könnten. Um das zu verhindern, hat Erdoğan sich mit syrischen islamistischen Terrormilizen verbündet, die als seine Bodentruppen die Kurden bekämpfen. Er exportiert damit den islamistischen Terror, anstatt ihn zu bekämpfen.

Was macht die Gegend um Afrin aus Sicht Erdoğans so bedrohlich?

Direkt an der türkischen Grenze ist dort im Zuge des Syrienkriegs ein de facto autonomes Kurdengebiet entstanden, in dem Werte wie Demokratie und Geschlechtergerechtigkeit gelebt werden. Diese sozial fortschrittlichen Bestrebungen sind exakt das Gegenteil von dem, was Erdoğan in der Türkei durchsetzen will.


Fakt ist aber auch, dass nicht nur die Türkei, sondern auch der deutsche Verfassungsschutz die YPG-Milizen in Syrien als Schwesterorganisation der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK einstuft. Splittergruppen der PKK haben in den vergangenen Jahren in türkischen Städten blutige Anschläge verübt. Was entgegnen Sie Türken in Ankara oder Istanbul, die sich vor weiteren Attentaten fürchten und die Offensive Erdoğans deshalb unterstützen?

Um es klar zu sagen: Gewalt ist immer zu verurteilen, egal von welcher Seite sie kommt. Aber die Türkei war nie ein befriedetes Land. Es hat drei Militärputsche gegeben, seit 35 Jahren herrschen im Land bürgerkriegsähnliche Situationen. Ursache für den Kurdenkonflikt ist die strukturelle Gewalt des türkischen Staates. Meine Eltern sind 1980 aus der Türkei geflohen, weil sie auf der Todesliste der türkischen Militärjunta standen – nur weil mein Vater Gewerkschafter war und Kurde. Noch nie hat es eine türkische Regierung geschafft, die Kurdenfrage politisch zu lösen. Die Menschen haben es satt! Die Mehrheit der türkischen Kurden will keinen Terror, keine Gewalt, sie will endlich Frieden und Demokratie. Anstatt das türkische Regime mit Waffen zu stützen, sollte die Bundesregierung sich endlich für diesen demokratischen und progressiven Teil der Opposition einsetzen.


Die USA sind mit dem YPG-Milizen im Kampf gegen den IS verbündet und betreiben eine Ausbildungsbasis in der syrischen Stadt Manbidsch  in die Erdoğan seine Offensive nun ausweiten will. Droht eine direkte Konfrontation der Nato-Partner USA und Türkei auf syrischem Boden?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Türkei sich ernsthaft in einen Konflikt mit den USA begibt. Das ist für Erdoğan eine Nummer zu groß. Verlierer werden bei alldem – wie schon so oft in der Geschichte – die Kurden sein. Schließlich geht es jetzt in Syrien darum, eine Nachkriegsordnung aufzubauen. Die Großmächte – Russland auf der einen und die USA auf der anderen Seite – kämpfen um ihren künftigen Einfluss in der Region, die Kurden geraten zwischen die Fronten. So haben die Russen den türkischen Angriff mit ermöglicht, indem sie ihre Militärbeobachter von der Grenze zurückgezogen und den syrischen Luftraum für türkische Kampfflugzeuge freigegeben haben.


Und das syrische Regime? Ist es vorstellbar, dass die Türkei dort derart massive Angriffe durchführt, ohne Zustimmung oder wenigstens Billigung des Regimes in Damaskus?

Diktator Baschar al-Assad war noch nie ein Kurdenfreund, ihm kommt sicher sehr gelegen, dass die Türkei im Norden für ihn die Kurden bekämpft. Umso dringlicher ist es, dass die internationale Gemeinschaft endlich eine Lösung für die Kurdenfrage findet. Andernfalls wird es dort keinen Frieden geben. Das heißt nicht unbedingt, dass die Kurden einen eigenen Staat beanspruchen. Aber das Mindeste ist, dass man ihre kulturelle Identität, das Recht auf die eigene Sprache, anerkennt und ihnen politische Selbstverwaltungsrechte einräumt im Rahmen eines föderalen Staatsaufbaus.

(joh/05.02.2018)