Einige Debatten in der Geschichte des Deutschen Bundestages waren besonders kontrovers, wie etwa die über die Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands 1952 oder die der Ostverträge 1972. Ein Streifzug durch die bedeutendsten Entscheidungen und Dispute der vergangenen Wahlperioden.
Es war eines der ethisch heikelsten und umstrittensten Themen, für das der Bundestag in der 18. Wahlperiode (2013 bis 2017) eine neue gesetzliche Regelung zu finden hatte: die Sterbehilfe. Gesellschaftlich kontrovers wurde die Frage diskutiert, ob der Staat Beihilfe zum Suizid verbieten – oder aktive Sterbehilfe sogar erlauben soll. Ähnlich gespalten zeigte sich auch das Parlament, als es am 13. November 2014 zu einer ersten, rund vierstündigen Orientierungsdebatte zum Thema Sterbehilfe zusammentrat, für die die Fraktionsdisziplin aufgehoben worden war. Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert sprach zum Auftakt der Beratung vom vermutlich „anspruchsvollsten Gesetzgebungsprojekt“ der Legislaturperiode.
Gesetzeslücke schließen
Nicht ohne Grund: 2012 war ein erster Versuch, zu einer umfassenden gesetzlichen Regelung zu kommen, gescheitert. So klaffte weiterhin eine Gesetzeslücke. Zwar war in Deutschland die aktive Sterbehilfe – im Gegensatz zur passiven Sterbehilfe, bei der auf Patientenwunsch auf lebensverlängernde medizinische Maßnahmen verzichtet wird – verboten.
Eine Beihilfe zur Selbsttötung – und damit auch eine gewerbliche und organisatorische Vermittlung von Sterbehilfe – war hingegen nicht strafbar. Diese Regelung hatte dazu geführt, dass Organisationen und Vereine wie etwa „Sterbehilfe Deutschland“ oder „Dignitas Deutschland“ den assistierten Suizid anbieten konnten, einige sogar gegen Bezahlung.
Ablehnung der geschäftsmäßigen Sterbehilfe
Ein Umstand, der den meisten Parlamentariern ein Dorn im Auge war: Weitgehend einig zeigte sich der Bundestag so in der sehr emotionalen und von persönlichen Erlebnissen geprägten Vereinbarten Debatte im November 2014 in der Ablehnung der kommerziell organisierten Sterbehilfe. Abgeordnete aller Fraktionen forderten zudem, die Versorgung mit Hospizen und Palliativstationen auszubauen und zu verbessern.
Aber auch deutliche Differenzen traten in der gleichwohl sachlich geführten Debatte deutlich zutage. Befürworter und Gegner der ärztlichen Beihilfe zum Suizid gab es quer über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Während sich Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) beispielsweise gegen eine Verklärung der Selbsttötung wandte, sprach sich der inzwischen verstorbene Bundestagsvizepräsident Peter Hintze (CDU/CSU) für Möglichkeiten der Sterbehilfe aus. Auch die Palliativmedizin stoße manchmal an ihre Grenzen. Es dürfe keinen „Zwang zum Qualtod“ geben. Ärzte müssten dem Wunsch des Patienten folgen dürfen, friedlich zu entschlafen.
Vier fraktionsübergreifende Gruppenanträge
Die Frage nach dem assistierten Suizid – wer also Sterbewilligen unter welchen Umständen helfen darf – stand dann auch ein gutes halbes Jahr später, am 2. Juli 2015, im Zentrum der zweiten Debatte zur Sterbehilfe im Bundestag. Vier Gesetzentwürfe, die von fraktionsübergreifenden Gruppen vorgelegt worden waren, lagen der Diskussion im Plenum zugrunde. Die Bandbreite reichte von einem strafbewehrten Komplettverbot der Anstiftung und Beihilfe zur Selbsttötung für Ärzte, Selbsthilfevereine und auch Angehörige bis hin zu einer positivrechtlichen Liberalisierung der Hilfe zum Suizid.
Für ein Verbot setzte sich der Gesetzentwurf (18/5376) von Prof. Dr. Patrick Sensburg, Thomas Dörflinger (beide CDU/CSU) sowie 33 weiteren Unterzeichnern ein. Dem gegenüber stand ein Entwurf (18/5374) von Peter Hintze (CDU/CSU), Dr. Carola Reimann (SPD) sowie 105 weiteren Abgeordneten, der forderte, durch eine Änderung im Bürgerlichen Gesetzbuch die Suizidbeihilfe für Ärzte zu ermöglichen und zu regeln. Voraussetzung dafür sollte jedoch eine irreversible, tödliche Krankheit sein, deren voraussehbare Leiden ein Patient durch einen Suizid abwenden möchte.
Zwischen Verbot und Liberalisierung
Ein Vorschlag (18/5375) von Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen), Dr. Petra Sitte (Die Linke) sowie 51 weiteren Unterzeichnern zielte wiederum darauf, die seit 1871 geltende Straffreiheit von Beihilfe zum Suizid positivrechtlich festzuschreiben. Davon umfasst sein sollte auch die Beihilfe sowohl durch Ärzte, die in vielen Ärztekammern durch Standesrecht untersagt ist, als auch durch Organisationen und Vereine, sofern sie keine kommerziellen Absichten verfolgen. Auf bestimmte Krankheitskriterien verzichtete der Entwurf.
Der nach der Anzahl der Unterzeichner am stärksten unterstützte Vorschlag (18/5373) stammte von Michael Brand (CDU/CSU), Kerstin Griese (SPD) sowie 208 weiteren Abgeordneten. Dieser sprach sich dafür aus, die geschäftsmäßige Suizidassistenz durch Ärzte, Einzelpersonen oder Organisationen unter Strafe zu stellen – ganz gleich ob mit kommerzieller oder nichtkommerzieller Absicht. Nur in Einzelfällen beziehungsweise durch Angehörige oder dem Sterbewilligen nahestehende Personen sollte die Hilfe zur Selbsttötung wie zuvor erlaubt bleiben.
Fast drei Stunden intensive Debatte im Plenum
Die Entscheidung über den künftigen Umgang mit der Sterbebegleitung fällte der Bundestag schließlich knapp ein Jahr nach der ersten Orientierungsdebatte, am 6. November 2015. In der fast dreistündigen intensiven Diskussion, die Beobachter als sehr ernsthaft und respektvoll würdigten, prallten die Argumente der Sterbehilfe-Gegner und -Befürworter noch einmal aufeinander.
Die Unterstützer des Künast-Entwurfs und des Hintze-Entwurfs distanzierten sich dabei deutlich von den Initiativen der Abgeordnetengruppen um Sensburg und Brand. Erstere verhindere selbstbestimmtes Handeln, letztere kriminalisiere die Suizidhilfe von Ärzten, so der Vorwurf. Während die Befürworter des Sensburg-Entwurfes unterstrichen, sie seien für ein Verbot der Hilfe zur Selbsttötung, weil diese keine Alternative zur Pflege und Sterbebegleitung sein dürfe, wehrten sich die Anhänger des Brand-Entwurfs gegen die Anschuldigung der Kriminalisierung.
„Angebot schafft Nachfrage“
So betonte Michael Brand, in dem Entwurf werde eine klare Trennung gezogen zwischen Ärzten, „die in schweren Situationen nach ihrem Gewissen handeln“ und anderen, die es darauf anlegten, geschäftsmäßig die Suizidbeihilfe zu fördern. Der CDU-Abgeordnete wies darauf hin, dass sich in Deutschland immer mehr kommerzielle Vereine ansiedelten, die für Suizidbegleitung werben würden. Die Erfahrungen aus den Nachbarländern Schweiz oder Holland aber zeigten: „Auch bei der Sterbehilfe schafft das Angebot eine Nachfrage.“
Peter Hintze jedoch hielt dagegen: „Ein Schmerzmediziner, der Patienten zweimal hilft, steht schon im Widerholungsverdacht.“ Die Staatsanwaltschaft würde so geradezu aufgefordert zu ermitteln, mit der Folge, dass Ärzte sich zurückziehen und ihre Patienten in dieser existenziellen Not allein lassen würden. Es sei daher ein „Gebot der Nächstenliebe, den Sterbenden beim friedlichen Entschlafen zu helfen“, sagte der Unionsabgeordnete.
Nur gewerbsmäßige Sterbehilfe verbieten
Für das Recht auf Selbstbestimmung beim eigenen Sterben plädierte auch Renate Künast. Die deutliche Mehrheit der Bevölkerung sei der Ansicht, „dass der Staat sich in der Frage, wie ich gehe, raushalten soll“, gab sie zu bedenken. Über dem Arzt dürfe nicht das Damoklesschwert einer Gefängnisstrafe hängen. Der von ihr mitinitiierte Entwurf sehe daher vor, lediglich das gewerbsmäßige Anbieten der Sterbehilfe zu verbieten.
Patrick Sensburg betonte, er sei für den Ausbau von Hospizen und der Palliativmedizin statt Hilfe bei der Selbsttötung: „Nicht durch die Hand eines anderen, sondern an der Hand eines anderen sollen die Menschen sterben“, so der CDU-Abgeordnete. Er verlieh seiner Sorge Ausdruck, der Druck auf alte, schwache und depressive Menschen würde zunehmen, wenn es kein Verbot gebe. Den Anhängern der Entwürfe von Hintze und Künast warf er vor, Angst zu verbreiten mit dem Szenario eines Qualtodes, dem sie die Hilfe zur Selbsttötung als humane Tat gegenüberstellten.
Für Beibehaltung des Status quo
Für die Beibehaltung des Status quo sprach sich Katja Keul (Bündnis 90/Die Grünen) aus. Sie hatte mit einem kurzfristig eingebrachten Antrag (18/6546), der von Brigitte Zypries (SPD), Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) sowie von 33 anderen Abgeordneten unterstützt wurde, gefordert, keine Neuregelung zu verabschieden. Keul argumentierte, es gebe keinerlei Anhaltspunkte, dass die bisherige Rechtslage in Deutschland zu einem Anstieg assistierter Suizide geführt hätte. „Es geht um derart geringe Fallzahlen, dass ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht erkennbar ist“, so die Grünen-Abgeordnete.
Am Ende jedoch wurde über diesen Antrag gar nicht mehr abgestimmt – überraschenderweise hatte sich die absolute Mehrheit der Abgeordneten bereits im ersten Wahlgang für den Gesetzentwurf von Brand und Griese entschieden. In der Abstimmung im Stimmzettelverfahren ohne Fraktionsdisziplin votierten 360 Abgeordnete für den Entwurf, 233 dagegen, neun enthielten sich. Zuvor war mit bis zu drei Wahlgängen und der Möglichkeit gerechnet worden, dass sich keiner der Entwürfe würde durchsetzen können.
Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht
Fast zwei Jahre sind vergangen, seit der Bundestag die geschäftsmäßige Sterbehilfe verboten hat. Doch noch immer ist die Debatte nicht beendet. Das neue Sterbehilfegesetz, das am 10. Dezember 2015 in Kraft trat, ist umstritten. Mehr als ein Dutzend Klagen sind seitdem beim Bundesverfassungsgericht dagegen eingegangen.
Darunter nicht nur eine Klage des Vereins „Sterbehilfe Deutschland“, sondern auch Schriftsätze von Ärzten, die um die Betreuung Schwerstkranker und Sterbender fürchten und das Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit prüfen lassen wollen. Das Urteil der Karlsruher Richter steht bislang noch aus. (sas/23.10.2017)