Parlament wählt vor 40 Jahren Karl Carstens zum Bundestagspräsidenten
Der Deutsche Bundestag hat vor 40 Jahren am 14. Dezember 1976 Prof. Dr. Karl Carstens zum Bundestagspräsidenten gewählt. Als der Bremer CDU-Politiker das Amt an seinem 62. Geburtstag antrat, war er nicht unumstritten. Entgegen der parlamentarischen Gepflogenheit hatten viele Abgeordnete dem Kandidaten der stärksten Fraktion die Zustimmung verweigert. Er erhielt lediglich 346 von 516 abgegeben Stimmen. Mit Nein stimmten 110 Abgeordnete. Es gab 24 Enthaltungen und 36 ungültige Stimmen.
Parteiübergreifende, ausgleichende Amtsführung
Nach dem knappen Wahlsieg der sozialliberalen Koalition bei den Bundestagswahlen hatte die Union als größte Bundestagsfraktion die Wahl ihres früheren Fraktionsvorsitzenden durchgesetzt. In seiner Antrittsrede verwies er deshalb auch auf diese parlamentarische Praxis. „Mit dieser Wahl hat der Bundestag eine langjährige deutsche parlamentarische Übung bestätigt: dass der jeweils stärksten Fraktion das Recht zusteht, den Vorschlag für die Wahl des Bundestagspräsidenten zu machen.“
Der frühere Staatssekretär und Kanzleramtsminister war 1972 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt worden und hatte bereits im Jahr darauf den Vorsitz der CDU/CSU-Fraktion übernommen. In dieser Zeit war er vor allem aufgrund seiner scharfen Angriffe auf die Ostpolitik der sozialliberalen Regierungskoalition bekannt geworden; als Bundestagspräsident bemühte er sich jedoch um eine parteiübergreifende, ausgleichende Amtsführung. In seiner Rede unterstrich der Staatsrechtsprofessor die zentrale Rolle des Bundestages in der deutschen Politik und als Garant einer freiheitlichen Ordnung.
„Freiheit – Frieden – Einheit“
„Ich denke, wir werden alle darin übereinstimmen, dass Freiheit und Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit die großen Leitmotive aller staatlichen und politischen Tätigkeit in Deutschland sein müssen. Der Deutsche Bundestag ist der sichtbarste Ausdruck des Freiheitswillens des deutschen Volkes. Seine Mitglieder werden in freien Wahlen gewählt, die Debatten hier sind frei, die Abgeordneten sind — so heißt es in Artikel 38 des Grundgesetzes — an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Ich meine, dass das die Magna Charta des deutschen Parlaments ist.“
„Es ist mein Wunsch, dass die Debatten, die in der 8. Legislaturperiode geführt werden, bei aller notwendigen Leidenschaft der Auseinandersetzung, bei aller Härte der Diskussion, wenn die Standpunkte voneinander abweichen oder aufeinanderprallen, doch niemals den Eindruck verwischen, dass wir alle ein Ziel im Auge haben, nämlich — ich sage es noch einmal — Freiheit, Gerechtigkeit — insbesondere soziale Gerechtigkeit —, Einheit, Frieden und Sicherheit für unser Vaterland.“
Um lebendigere Debatten bemüht
Der sechste Bundestagspräsident bemühte sich vor allem um eine Reform der parlamentarischen Geschäftsordnung, um die Arbeit des Parlaments für die Öffentlichkeit wieder interessanter zu machen. Die Redebeiträge im Plenum sollten kürzer und die Debatten damit lebendiger werden. Am 28. September 1978 beschloss der Ältestenrat die Führung der Aussprachen im Bundestag für die Dauer von drei Monaten versuchsweise neu zu regeln. Die Debatten sollten als Regelaussprache oder als Aussprache mit Kurzbeiträgen geführt werden können.
Im Rahmen der Regelaussprache sollte der erste Redner einer Fraktion höchstens 30 Minuten, die übrigen Redner höchstens 15 Minuten sprechen. Wenn allerdings die Regierung in die Debatte eingriff, stand der Opposition eine gleich lange Redezeit zu, ohne dass diese auf die den Fraktionen zustehende Redezeit angerechnet würde. In der Aussprache mit Kurzbeiträgen durfte der einzelne Redner nicht länger als zehn Minuten sprechen und der Präsident durfte die Redezeit nicht verlängern. Die Art und Dauer der Aussprache sollte der Ältestenrat festlegen.
Eine Woche später, am 5. Oktober 1978, hatte die Kurzdebatte zum Tagesordnungspunkt „Vertragsverletzungen der DDR“ ihre Premiere. Teil der Geschäftsordnung wurden diese Reformvorschläge erst 1980 unter seinem Nachfolger Richard Stücklen (CDU/CSU).
Wahl zum Bundespräsidenten
1979, nach nur zweieinhalb Jahren, endete seine Amtszeit als Bundestagspräsident, nachdem er am 23. Mai 1979 im ersten Wahlgang mit 528 von 1032 Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt wurde. CDU und CSU hatten ihn im Januar gegen starken Widerstand der SPD und FDP für das Amt vorgeschlagen. Bis heute ist er der einzige Politiker, der direkt vom zweiten zum ersten Mann im Staat aufstieg.
In seiner Abschiedsrede vor dem Parlament am 31. Mai 1979 machte er auf die Gefahr der zunehmenden Parlamentsverdrossenheit und die Notwendigkeit von Veränderungen aufmerksam: „Aus der Bevölkerung wird mancherlei Kritik an uns geübt, übrigens, möchte ich sagen, durchweg Kritik, die aus einer positiven Grundeinstellung zum Deutschen Bundestag herrührt. Unsere Bürger identifizieren sich sehr wohl mit dem Deutschen Bundestag als ihrer Volksvertretung; aber sie üben Kritik an mancherlei Erscheinungsformen, die wir bieten. Sie meinen — und ich glaube, darin haben sie sogar Recht —, dass viele unserer Sitzungen, auch unserer wichtigen Sitzungen, zu schwach von Kolleginnen und Kollegen des Hauses besucht sind. Sie meinen, dass die Reden, die hier gehalten werden, zu lang seien. Sie meinen, dass zu viele Reden abgelesen werden. Dass manche Reden zu schwer verständlich seien, sagen auch manche Bürger, und schließlich — last not least — stört es manche Bürger, dass die Reden hier oft oder gelegentlich sehr scharf werden. Es ist sehr schwer, dieser zum Teil berechtigten Kritik abzuhelfen.“
Selbstverständnisdebatte des Parlaments angeregt
Abschließend regte er an, „dass der Deutsche Bundestag einmal einen ganzen Tag über sich selbst debattieren möge.“ „Ich stelle mir vor, dass 30 oder 40 Redner zu Worte kommen könnten. Ich stelle mir vor, dass die Fraktionen nicht vorher die Marschroute festlegen sollten, sondern dass jeder Redner das sagen sollte, was er glaubt zu diesem wichtigen Thema beitragen zu können. Ich meine, wir haben so viele schöpferische Kräfte in unserer Mitte, dass es vielleicht auf diese Weise möglich sein sollte, eine Lösung mindestens mancher der von mir aufgeworfenen Fragen zu finden.“ Ein Vorschlag, dem das Parlament sechs Jahre später am 20. September 1984 nachkam. 45 Redner debattierten sechs Stunden lang erstmals über das Selbstverständnis des Bundestages.
Karl Carstens war von 1979 bis 1984 der fünfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Als Bundespräsident bemühte er sich um strenge Neutralität. Er starb am 30. Mai 1992 in Meckenheim. In der Öffentlichkeit galt er als streitbarer, wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft auch als umstrittener Politiker. (klz/07.12.2016)