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Parlament

Autorenlesung: Dieter Grimm fordert ein „besseres“ Europa

Zwei Männer in dunklen Anzügen sitzen hinter einem Tisch. Eine hält ein Mikrofon in der Hand und spricht einem Publikum zugewandt.

Bundestagspräsident Norbert Lammert, Autor Dieter Grimm in der Bibliothek des Deutschen Bundestages (© DBT/Melde)

Bei einer Autorenlesung in der Bibliothek des Deutschen Bundestages am Dienstag, 29. November 2016, trug Prof. Dr. Dieter Grimm, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, aus seinem jüngst erschienen Buch „Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie“ vor. Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert moderierte die Veranstaltung.

Dieter Grimm betonte, dass seine Kritik am derzeitigen Zustand der EU nicht etwa auf weniger Europa ziele, sondern auf ein besseres Europa. Die Europäische Union bräuchten wir heute angesichts globaler Herausforderungen und Krisen, die den einzelnen Staat überforderten, mehr denn je. Das hindere ihn aber nicht daran, sich – aus juristischer Perspektive – auf die Suche nach den Gründen zu machen, die für die eklatante Akzeptanzschwäche der EU bei den Bürgern verantwortlich seien, auf Schwächen im institutionellen Gefüge der EU aufmerksam zu machen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten.

Demokratiedefizit Hauptgrund für Akzeptanzschwäche

Um die verloren gegangene Zustimmung der Bürger zur Union zurückzugewinnen, gelte es vor allem, das Demokratiedefizit der EU zu überwinden. EU-Kommission und Europäischer Gerichtshof (EuGH) würden Entscheidungen mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten und auf 500 Millionen Bürger treffen – jedoch ohne die Möglichkeit ausreichender demokratischer Mitwirkung und ohne dafür politisch verantwortlich gemacht werden zu können.

Zurückzuführen sei das Demokratiedefizit auf eine vom Gerichtshof bereits seit Jahrzehnten strategisch betriebene „Konstitutionalisierung“ der EU-Verträge – ein in der öffentlichen Debatte weitgehend unbeachteter Vorgang.

„Legitimatorische Kehrseite“ der Erfolgsstory EU

Grimm wendet sich in seinem Buch dieser „legitimatorischen Kehrseite“ der „Erfolgsgeschichte Wirtschaftsintegration“ zu, und erläutert, wie der EuGH durch extensive Auslegung der EU-Verträge in potenziell allen Rechtsbereichen immer mehr Bezüge herstelle und so in Kompetenzbereiche vordringe, die sich ursprünglich die Mitgliedstaaten vorbehalten hätten.

Der EuGH habe sich gewissermaßen eine eigene Agenda geschaffen und verstehe seine Aufgabe darin, die wirtschaftliche Integration auch gegen die Mitgliedstaaten durchzusetzen. Das Gericht interpretiere die völkerrechtlichen Verträge wie eine staatliche Verfassung. Damit habe es sich von den Absichten der Gründer entfernt.

Vom völkerrechtlichen Vertrag zu einer Art Verfassung

Möglich sei dies durch ein Urteil aus dem Jahre 1963 geworden, in dem der Gerichtshof das Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten für unmittelbar anwendbar erklärte – was bedeutete, dass sich von nun an alle Marktteilnehmer direkt auf das EU-Recht berufen und es vor nationalen Gerichten einklagen konnten, beispielsweise, wenn sie sich durch nationales Recht gegenüber Wettbewerbern benachteiligt fühlten – während die ursprüngliche Vorstellung gewesen war, dass sich das Gemeinschaftsrecht lediglich an die Mitgliedstaaten richtete und sie verpflichtete, nationales Recht in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht zu bringen. Ein Jahr später erklärte der EuGH zudem, dass das Gemeinschaftsrecht Vorrang vor dem nationalen Recht genieße.

Mit dieser „Konstitutionalisierung“ des formal weiterhin völkerrechtlichen Vertrags habe der EuGH neben der politischen Integration durch Vertragsschluss und Setzung sekundären europäischen Rechts einen parallelen, judikativen Integrationspfad durch Überwindung der nationalen Rechtsvielfalt mittels Vertragsinterpretation geschaffen, schreibt Grimm. Staatliche Normen beispielsweise, die sich als Hemmnis für den grenzüberschreitenden Handel erwiesen, wurden für ungültig erklärt. Die weite Interpretation beispielsweise der sogenannten wirtschaftlichen Grundfreiheiten weitete automatisch die Rechtsetzungsbefugnis der EU aus.

Eine schleichende Machtverschiebung hin zur EU habe nicht nur die Rolle der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge untergraben. Der Gesetzgeber, und zwar Europaparlament wie auch mitgliedstaatliche Parlamente, werde zur Verwirklichung des gemeinsamen Marktes nicht mehr benötigt. Die Bürger würden so vor vollendete Tatsachen gestellt.

Normativ überfüllter Vertrag schränkt politisches Handeln ein

Grimm macht noch einen weiteren Konstruktionsfehler am Vertragsgebäude der EU aus, der zu dieser Entwicklung beitrage. So wirkte der EU-Vertrag zwar wie eine Verfassung, sei aber nicht wie eine Verfassung gestaltet. Sie sei nämlich inhaltlich viel zu stark aufgeladen mit Gesetzesrecht, voll von Vorschriften, die im Staat dem sogenannten einfachen Recht zugehören würden.

Der Vertrag entziehe so zahlreiche Bereiche der politischen Entscheidung und schränke den Spielraum für politisches Handeln stark ein. Auf Entscheidungen der exekutiven und judikativen Organe könne nicht mehr durch Gesetzgebung Einfluss genommen werden. Eine Möglichkeit, die im Staat stets gegeben sei, nämlich die Umsteuerung der Gerichte durch Gesetzesänderung, falle in der EU weitgehend aus, erklärte Grimm. „Der EuGH ist freier als jedes nationale Gericht.“

Grimm: EU-Vertrag von operativen Regeln befreien

Die Ausführungen des Verfassungsrechtlers machten deutlich, wie eingeschränkt die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten und der Politik, also der Gesetzgebung sind, an dieser vom EuGH eingeschlagenen Richtung der Integration etwas zu ändern. Nach Grimm haben sich EuGH und auch EU-Kommission durch die Ausgestaltung und die Auslegung des EU-Vertrags ein eigenes, exklusives Terrain geschaffen.

Zu Grimms Empfehlungen gehört daher, den EU-Vertrag von operativen Regeln zu befreien und auf einen verfassungsartigen Teil zu beschränken, der sich auf Ziele und Verfahrensregeln beschränkt. Ein so um Rechtsmaterie reduzierter Vertrag eröffne Politik und Parlament wieder den für eine Demokratie charakteristischen Spielraum, den Kurs der Rechtsprechung künftig durch Gesetze zu ändern.

Dieter Grimm ist Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität Berlin, war von 1987 bis1999 Richter beim Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts und ist Autor und Herausgeber einer Vielzahl renommierter Publikationen. Er folgte er einer Einladung der Bibliothek des Deutschen Bundestages zu einer öffentlichen Lesung aus seinem jüngsten Buch und diskutierte anschließend mit den Gästen. (ll/30.11.2016)