Unterschätzte Rolle des Bundespräsidenten im politischen System
Am 12. Februar soll die Bundesversammlung einen neuen Bundespräsidenten wählen. Aber seitdem Bundespräsident Joachim Gauck angekündigt hat, aus Altersgründen nicht für eine zweite Amtszeit zur Verfügung zu stehen, verläuft die Kandidatensuche stockend: Absagen potenzieller Kandidaten gab es mehrere, die Suche nach einem gemeinsamen Präsidentschaftsanwärter der Parteien ist schwierig.
Nicht die Personalfrage, sondern Rolle und Gewicht des Bundespräsidenten im politischen System war Gegenstand einer Diskussionsveranstaltung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen am Mittwoch, 9. November 2016. „Der Bundespräsident - das unterschätzte Amt?“, lautete die Leitfrage, die der Jurist Prof. Dr. Hermann Butzer von der Leibniz-Universität Hannover und der Politologe Prof. Dr. Roland Lhotta von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg erörterten.
Weitreichende Kompetenzen
Beide hatten eine klare Antwort: Der Wortlaut des Grundgesetzes erlaube dem Staatsoberhaupt weitaus mehr politische Einflussnahme, als meist angenommen werde. Zu den bundespräsidialen Kompetenzen zähle etwa nicht nur, den Bundeskanzler vorzuschlagen sowie Minister und Bundesrichter zu ernennen oder zu entlassen. Auch im Legislativprozess besitze er Gewicht, ist es doch der Bundespräsident, der Bundesgesetze prüft und ausfertigt. Hinzu komme seine Rolle bei der Auflösung des Bundestages nach einer verlorenen Vertrauensfrage des Kanzlers sowie im Falle des Gesetzgebungsnotstandes. Als völkerrechtliche Vertretung Deutschlands könne der Bundespräsident auch durchaus außenpolitisch handeln.
Dass repräsentative und integrative Funktionen im Vordergrund der Amtsführung stehen sollten, sei Ergebnis einer in 67 Jahren Staatspraxis geronnenen Vorstellung des Amtes, sagte Butzer. Diese habe sich auch in staatsrechtlichen Interpretationen als Norm durchgesetzt. Das Grundgesetz biete dem Bundespräsidenten jedoch hinreichende Möglichkeiten des „Störens und Intrigierens“.
„Eine Unterschätzung des Amtes ist nicht angebracht“
Aber was tun, wenn ein Bundespräsident im Unterschied zu seinen Vorgängern diese Kompetenzen tatsächlich bis an die Grenzen des Möglichen ausschöpfte, fragte Butzer als Gedankenspiel. „Die Gegenwehr wäre nicht einfach“, sagte der Staatsrechtler. Langwierige Organstreitverfahren oder die voraussetzungsreiche Präsidentenanklage vor dem Verfassungsgericht blieben als Optionen.Aus politikwissenschaftlicher Sicht betonte Lhotta, dass dem Bundespräsidenten eine eigene Verfassungsfunktion zukomme, die komplementär zu den übrigen Verfassungsorganen angelegt sei.
Das Amt schwinge dabei zwischen den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative. Im System der Gewaltenverschränkung könne der Bundespräsident als rechtliche Reserve einspringen. Zum „Hüter der Verfassung“ könne er beispielsweise dann werden, wenn die Opposition zu schwach sei, um eine Normenkontrollklage zu beantragen. „Es ist nicht opportun, in die tradierte Lesart zu verfallen“, sagte der Politologe. „Eine Unterschätzung des Amtes ist nicht angebracht, schon gar nicht gegenwärtig, in einer Zeit der anschwellenden Elitenverachtung“, mahnte Lhotta an. (ebr/11.11.2016)