„Jugendliche brauchen mehr Begleitung“
Über die Probleme bei der Verteilung, Betreuung und Integration unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland haben Experten in der ersten öffentlichen Sitzung der Kinderkommission (Kiko) nach der Sommerpause am Mittwoch, 21. September 2016, informiert. Unter Vorsitz von Norbert Müller (Die Linke) forderten die Sachverständigen eine Verbesserung der gesetzlichen Regelungen und eine individuellere Betreuung der Jugendlichen.
Neue Gesetzliche Regelung
Die angestrebte Reform des Kinder- und Jugendhilferechts im Sozialgesetzbuch (SGB VIII), das derzeit die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (UMF) regelt, ist nach Einschätzung von González Méndez de Vigo, Juristin und Beraterin beim Bundesfachverband unbegleitete minderjähriger Flüchtling (BumF), in gewissen Punkten sinnvoll.
Jedoch dürfe die Unterbringung und Umverteilung nicht zuungunsten der individuellen Betreuung geschehen. Eine Umfrage unter den Mitarbeitern des BumF zeige deutlich, dass der Schutz der Jugendliche mit den aktuellen Mitteln nicht ausreichend umgesetzt werden könne.
Druck der Familie
„Die Jugendlichen kommen hier her und denken oft, sie können arbeiten, bekommen ein Haus und ein Auto“, berichtete Sieglinde Knudsen, Geschäftsführerin der Interessengemeinschaft (IG) Frauen und Familie Prenzlau e.V. Sie betreut mit ihren Kollegen 19 unbegleitete Minderjährige in der Uckermark. Die Jugendlichen seien teilweise seit Jahren auf der Flucht durch verschiedene Länder gewesen und hätten nicht nur körperliche, sondern auch seelische Verletzungen.
Ihre Vorstellungen und ihr Verhalten seien besonders durch eine Bringschuld an die Familie geprägt. „Oft schulden sie der Familie und Schleppern viel Geld, das sie hier erarbeiten wollen“, so Knudsen. Zahlreiche Gespräche und eine Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur seien daher unabdingbar; auch um den Jugendlichen zu zeigen, dass ihr Weg hier sehr langwierig ist.
Die Betreuung der meist männlichen Flüchtlinge erwies sich aber in der Praxis oft als schwierig, so Knudsen. Anwohner und öffentliche Einrichtungen waren misstrauisch, Schulen wollten die Jugendlichen aufgrund fehlender Zeugnisse und mangelnder Sprachkenntnisse nicht annehmen. Mit persönlichem Einsatz vor Ort konnten die Mitarbeiter der IG Frauen und Familie Prenzlau e.V. den Jugendlichen jedoch Schulplätze, Praktika oder sogar eine Ausbildung vermitteln.
Engmaschige Betreuung
„Viele Jugendliche wollen mehr als erreichbar scheint“, sagte auch Sandor Rätsch, der die Wohngruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge der IG Frauen und Familie Prenzlau e.V. leitet. „Bei langfristiger Arbeit erreichen sie ihre Ziele aber.“ Eine Verlängerung von Aufenthaltstiteln während und auch nach einer Ausbildung könne dabei ein deutlicher Ansporn sein. „Ob jemand bleibt oder nicht, hängt davon ab, welche Perspektiven er hat“, so Rätsch.
Die Gefahr, dass Jugendliche weglaufen, nachdem sie umverteilt wurden, sei bei einer Betreuung durch Fachpersonal deutlich geringer – ebenso wie die Möglichkeit einer Radikalisierung. Es werde immer wieder Jugendliche geben, die weglaufen wollen, um illegal zu arbeiten oder in andere Länder zu fliehen. „Wenn man dicht an den Jugendlichen dran ist, bekommt man ihre Probleme aber mit“, sagte Sandor Rätsch.
Die Jugendhilfe endet laut dem gesetzlichen Rahmen mit dem achtzehnten Lebensjahr. Aktuell gebe es eine Tendenz, die Jugendlichen dann in Massenunterkünften unterzubringen, so González Méndez de Vigo. Viele seien jedoch 17 oder knapp 18 Jahre alt, bevor sie allein nach Deutschland kommen, und bräuchten weiterhin intensive Betreuung. „Sie haben riesige Probleme, die allein gar nicht zu bewerkstelligen sind“, sagte auch Sieglinde Knudsen. (lau/22.09.2016)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Sieglinde Knudsen, IG Frauen und Familie Prenzlau e.V.
- Sandor Rätsch, IG Frauen und Familie Prenzlau e.V.
- González Méndez de Vigo, Bundesfachverband unbegleitete minderjähriger Flüchtlinge (BumF)