Bundestag erhebt sich zur Trauerminute
Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hat die beiden ehemaligen Abgeordneten und Bundesaußenminister Dr. h.c. Hans-Dietrich Genscher und Dr. Guido Westerwelle gewürdigt. Genscher war am 1. April im Alter von 89 Jahren verstorben; bereits am 18. März erlag Guido Westerwelle einer schweren Krankheit mit 54 Jahren. Noch vor Beginn der Plenarsitzung am Donnerstag, 14. April 2016, erhoben sich alle Abgeordneten zu Ehren der beiden Parlamentarier von ihren Plätzen. In das Gedenken eingeschlossen waren der kürzlich verstorbene ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész sowie die Opfer der Terrorattacken in Brüssel und in Lahore in Pakistan.
Genscher: Europa ist unsere Zukunft
Lammert erinnerte an Hans-Dietrich Genschers letzte Rede im Deutschen Bundestag im Jahr 1998 zur Einführung des Euro. In seiner von vielen als politisches Vermächtnis verstandenen Rede habe Genscher gemahnt, wie „nationalistische Verblendung und verbrecherischer Vernichtungswille gegen andere Völker“ die staatliche Einheit Deutschlands zerstört und einen ganzen Kontinent verwüstet hatten. Danach habe Hans-Dietrich Genscher als Hallenser die Enge der Diktatur in der DDR erlebt, die eine prägende Erfahrung für sein ganzes Leben gewesen sei.
Auch deshalb habe Genscher 1998 im Bundestag vor allem daran erinnert, dass die Deutschen ihre staatliche Einheit nur als Demokraten und als „gute Europäer“ wiedererlangen konnten. Er habe gewusst, dass nationale Einheit und europäische Einigung zwei Seiten der gleichen Medaille seien. „Europa ist unsere Zukunft, wir haben keine andere“, sei Genschers Credo gewesen. Es wachzuhalten – auch in Krisenzeiten –, habe er uns aufgegeben, so Lammert.
Lammert: Genscher schrieb Weltgeschichte
In der bipolaren Welt habe er es wie kaum ein zweiter verstanden, zwischen den Blöcken zu vermitteln und mit Humor und Witz über alle politischen Spannungen und ideologischen Gräben hinweg Nähe und Vertrauen aufgebaut. Seine Außenpolitik sei fest in den westlichen Bündnissen verwurzelt und zugleich der neuen Ostpolitik verpflichtet gewesen. Er habe maßgeblich den Prozess der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) mitgestaltet und zum veränderten Klima beigetragen, das den Kalten Krieg überwinden half. Früher als viele andere habe er den Reformwillen Gorbatschows erkannt.
„Im entscheidenden historischen Moment schrieb Hans-Dietrich Genscher Weltgeschichte: In den 2+4-Verhandlungen ebnete er diplomatisch den Weg zur deutschen Einheit; unvergesslich bleibt seine Ansprache auf dem Balkon der Prager Botschaft, deren erster Halbsatz weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus eine fast explosionsartige Wirkung erzeugte“, sagte der Bundestagspräsident. Als er 1992 zur Überraschung aller die Leitung des Auswärtigen Amtes als dienstältester europäischer Außenminister abgab, sei er hoch geachtet in Deutschland und in der Welt gewesen.
„Eine herausragende politische Lebensleistung“
In mehr als der Hälfte der damals 43 Jahre alten Bundesrepublik habe er bis dahin Regierungsverantwortung getragen, zunächst als Innen-, dann als Außenminister, unter drei Bundeskanzlern in zwei Koalitionen, in neun Kabinetten. Als er 1998 den Bundestag verließ, endeten 33 Jahre Abgeordnetentätigkeit. „Eine herausragende politische Lebensleistung“, fasste Norbert Lammert zusammen.
Genscher sei es auch gewesen, der früh die politische Begabung eines jungen liberalen Nachwuchspolitikers erkannt hatte – der wiederum in ihm sein großes politisches Vorbild gefunden habe: Guido Westerwelle. Die Nachricht von seinem Tod habe viele Menschen gerade wegen der Willensstärke und Zuversicht Westerwelles tief getroffen.
Lammert: Westerwelle war ein herausragender Redner
„Unser Land verliert mit Guido Westerwelle einen Parlamentarier von großer öffentlicher Präsenz.“ Über viele Jahre habe er als herausragender Redner die Debattenkultur in diesem Haus wesentlich bestimmt. Dem Deutschen Bundestag habe Westerwelle von 1996 bis 2013 angehört, von 2006 an stand er an der Spitze der FDP-Bundestagsfraktion. „Westerwelle focht für seine liberalen Überzeugungen, streitlustig, schlagfertig und scharfzüngig, dabei oft witzig und mitunter auch beinhart in der Argumentation; er teilte aus und musste einstecken“, sagte Lammert.
Sein Verständnis vom Liberalismus habe er in griffige Formeln zu kleiden gewusst und sei auch ungewöhnliche Wege gegangen. Manche Übertreibungen hätten ihn zwar schnell eingeholt, aber es sage viel über seinen Charakter aus, dass er diese im Nachhinein selbstkritisch hinterfragt habe. „Während er als Politiker in der Öffentlichkeit polarisierte, bleibt er allen, die ihn persönlich kannten, als warmherzig, bescheiden, humorvoll und kunstinteressiert in Erinnerung“, so Lammert.
„Westerwelle hat sich um unser Land verdient gemacht“
Der FDP habe Guido Westerwelle im Jahr 2009 zu einem historisch beispiellosen Wahlergebnis und damit zu neuer Regierungsverantwortung verholfen. Nicht zuletzt seinem Vorbild Genscher folgend habe er die kräftezehrende, neue Herausforderung im Auswärtigen Amt gesucht.
Mit der Westerwelle-Foundation habe er sich auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik für die internationale Verständigung weiter eingesetzt. Die Stiftung sei das ambitionierte, bleibende Vermächtnis einer Persönlichkeit, die sich um unser Land verdient gemacht habe.
Lammert: Bewundernswertes Zeichen menschlicher Größe
Der Bundestagspräsident erinnerte in seiner Rede auch an den am 31. März verstorbenen ungarischen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész. Kertész sei eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen. Ein Überlebender des Holocaust, dessen Hinwendung zum demokratischen Deutschland nach den schrecklichen persönlichen Erfahrungen in der Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ein bewundernswertes Zeichen menschlicher Größe gewesen sei.
Im Jahr 2002 habe der Schriftsteller seinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt und bis 2012 in Berlin gewohnt. „2007 hatte er am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag bewegende, bleibende Worte an uns gerichtet“, erinnerte Norbert Lammert. Im selben Jahr habe Kertész dazu aufgerufen, den „furchtbaren Fanatismen in der Welt“ zu begegnen, „mit Kraft, mit Vertrauen in sich selbst und in ein Europa, das weiß, was es will und welche Werte es vertritt“.
Bundestagspräsident gedenkt der Terroropfer
Norbert Lammert prangerte vor dem Plenum die anhaltende Bedrohung durch den islamistischen Fanatismus in den vergangenen Wochen an. Während bei den Attacken auf den Flughafen und die U-Bahn Brüssels erneut die Werte der westlichen Welt und unser Verständnis von einem freien Leben im Fadenkreuz der Attentäter gestanden hätten, habe sich in Lahore in Pakistan der Terror ausdrücklich gegen die christliche Minderheit im Land gerichtet. „Willentlich wurden besonders viele Frauen und Kinder getroffen“, sagte Lammert. Dass sich der verblendete Hass der Islamisten gegen Muslime selbst richte, hätten auch die Anschläge im Irak gezeigt, unter anderem auf ein Fußballspiel, bei dem wahllos Dutzende Menschen in den Tod gerissen worden seien.
„Wir fühlen mit den Angehörigen aller Opfer“, erklärte der Parlamentspräsident. „Wir bleiben alle aufgefordert, diesem mörderischen Fanatismus entgegenzutreten – mit der Kraft des Rechtsstaates, vor allem aber mit Vertrauen in uns selbst und in ein geeintes Europa, das weiß, was es will und welche Werte es vertritt“, sagte Lammert im Bundestag. (eis/14.041.2016)