Andreas Paulus beleuchtet Sezessionsbewegungen
Vor wenigen Tagen hat sich das katalanische Parlament für die Unabhängigkeit der Region von Spanien ausgesprochen – gegen den Willen der Zentralregierung in Madrid und unter Missachtung der spanischen Verfassung. Auch im Baskenland, in Schottland, Québec und vielen anderen Regionen ringen starke politische Bewegungen um Unabhängigkeit von ihren Mutterstaaten, in der Ukraine forcieren prorussische Kräfte die Loslösung einzelner Gebiete von Kiew und deren Angliederung an Russland, die Krim wurde 2014 von Russland annektiert.
Sezessionsbestrebungen lösen Konflikte aus
Sezessionsbestrebungen lösen in vielen Teilen der Welt Konflikte aus – und werfen rechtliche und politische Fragen auf: Wann ist eine Sezession legitim und wie soll sich die Staatengemeinschaft verhalten? Um das Thema „Sezessionsbewegungen - Legitimität aus völkerrechtlicher Sicht“ ging es bei der Veranstaltungsreihe „W-Forum“ der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages am Donnerstag, 17. November 2015. Gastreferent war Prof. Dr. Andreas L. Paulus, Richter des Bundesverfassungsgerichts.
In seiner Einführung erinnerte Prof. Dr. Ulrich Schöler, Leiter Wissenschaft und Außenbeziehungen der Bundestagsverwaltung, vor dem Hintergrund der jüngsten Anschläge in Paris daran, dass auch zahlreiche Sezessionsbestrebungen von Gewalt – Terror oder kriegerischen Auseinandersetzungen – begleitet werden. Mehr als einhundert Sezessionskonflikte weltweit zählte man bereits 2008, davon eine ganze Reihe innerhalb Europas. Das Phänomen habe in den vergangenen drei Jahrzehnten erheblich an Schubkraft gewonnen, so Schöler, und es habe das Potenzial, den europäischen Staatenverbund zu gefährden.
Enorme Bandbreite unterschiedlicher Fälle
Dass die Frage staatlicher Sezessionen ein hochaktuelles Thema ist, mit dem sich sowohl die Rechtswissenschaft als auch die Politik befassen müssten, unterstrich Paulus in seinen Ausführungen. Dabei wurde die enorme Bandbreite unterschiedlicher Fälle deutlich, in denen ein Volk oder eine Gruppe das Selbstbestimmungsrecht für sich geltend macht: von Katalonien über die Krim bis hin zum sogenannten „Islamischen Staat“.
So dringend der völkerrechtliche Regelungsbedarf mit der Zeit geworden ist, so langsam bildete sich erst im Lauf der letzten Jahrzehnte eine Verbindung des Selbstbestimmungsrechts mit einem Anspruch auf ein Sezessionsrecht heraus.
Territoriale Integrität versus Selbstbestimmungsrecht
Paulus ging ausführlich auf die Konkurrenz der Prinzipien der territorialen Integrität von Staaten und des Selbstbestimmungsrechts der Völker ein. Der territorialen Abspaltung von Landesteilen stünden hohe Hürden entgegen. Sowohl völkerrechtsgeschichtlich als auch in der derzeitigen internationalen Sicherheitspolitik stelle die territoriale Integrität und die Unverletzlichkeit von Grenzen ein sehr hohes Rechtsgut dar, um zwischenstaatlichen Konflikten vorzubeugen oder um diese zu lösen, sagte Paulus.
Könnten aber Völker nicht mehr frei von Diskriminierung in einem bestehenden System existieren, dann ergebe sich ein legitimer Grund, den bisherigen Territorialstaat zu verlassen und ein neues Staatswesen zu gründen, als Ultima Ratio habe man dies im Fall des Kosovos 2008 zugelassen. Paulus machte deutlich, dass es letztlich eine Frage der Zumutbarkeit sei, ob eine Region in einem Staatsverbund bleibe, und dass es einer Abwägung in jedem einzelnen Fall bedürfe.
„Zwei Seiten ein und derselben Medaille“
Paulus unterstrich auch, wie sehr bei einer staatlichen Sezession neben dem Völkerrecht vor allem das innerstaatliche Verfassungsrecht gefragt ist. Hinzu komme, dass Selbstbestimmungsrecht und Demokratie zwei Seiten ein und derselben Medaille seien. Als einen mustergültigen innerstaatlichen politisch-verfassungsrechtlichen und demokratischen Aushandlungsprozess bezeichnete Paulus den britischen Umgang mit der Frage der Unabhängigkeit Schottlands.
London und Edinburgh hätten sich auf die Modalitäten eines Referendums geeinigt. Auch in Katalonien habe man es nun vor allem mit einer verfassungsrechtlichen Frage zu tun. Dabei sei es elementar, dass demokratisch gewählte Regierungen miteinander verhandelten, und dass stets vor Abstimmungen demokratische Wahlen stattfänden.
Problemfall Krim und Ostukraine
Es mache die Abspaltung der Krim so problematisch, dass das Referendum dort militärisch von Russland erzwungen und die Mindestanforderungen an ein Referendum nicht erfüllt worden seien. Der Wechsel der Krim von der Ukraine nach Russland 2014 wurde folglich international nicht anerkannt. Auch in der umkämpften Ostukraine seien die Bedingungen für die Durchführung einer Abstimmung derzeit nicht gegeben.
Während Vortrag und Diskussion wurde deutlich, dass das Völkerrecht im Fall staatlicher Sezessionskonflikte lediglich einen prinzipiellen Rahmen setzen kann, Fragen der konkreten Regelung aber dem Politischen überlässt. „Das Völkerrecht kann Hilfestellung für Einigungswillige geben – die Politik ersetzen kann es nicht“, sagte Paulus. Andreas L. Paulus ist Richter des Bundesverfassungsgerichts und Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, an der Georg-August-Universität Göttingen. (ll/17.11.2015)